umgekommen. Nur auf dem Grab der Frau standen frische Blumen.
Burkhardt … ich glaube, ich hatte mal einen Schulkameraden, einen Alkoholiker, der so hieß.
Und meine Leiche?
Ich setzte mich auf Jakobs Grab, riss ein paar Grashalme aus und überlegte. Theoretisch gab es mehrere Möglichkeiten, die Abwesenheit der Leiche zu erklären. Theoretisch. Zum Beispiel die: Der Tote war gar nicht tot, sondern scheintot und, nachdem er mich ordentlich erschreckt hatte, quietschfidel aufgesprungen und in die nächste Kneipe geeilt. Prima Vorschlag.
Möglichkeit zwei: Der Silberrücken war zurückgekommen, hatte die Leiche in den Kofferraum gepackt und irgendwo entsorgt. Schon besser. Möglichkeit drei: Ein ganz anderer war aufgetaucht, der den Toten kannte oder auch nicht, und hatte aufgeräumt. Aber wer sollte das gewesen sein? Und schließlich viertens: Die Polizei hatte noch in der Nacht einen anonymen Anruf erhalten, den Toten identifiziert und den ganzen Fall aufgeklärt. Das war nicht nur unwahrscheinlich, sondern ausgeschlossen. Man weiß, wie deutsche Behörden arbeiten.
Nein, eines war sicher: Sobald die ersten Wärter oder Besucher des Friedhofs hier ihre Runden drehten, hatte die Leiche nicht mehr an ihrem Platz gelegen. Sie war weggebracht worden, von meinem Freund, dem Pfeffersprayer, oder von einem anderen.
Ich stand auf und ging zurück zum Seiteneingang. Ein Weg von mindestens 100 Metern. Sollte der Silberrücken dazu imstande sein? Ein 70-Jähriger sollte einen ausgewachsenen Mann geschultert, zum Auto geschleppt und in den Kofferraum verladen haben? Sicher, er konnte den Wagen direkt vor dem Seiteneingang geparkt haben, um Anstrengung und Risiko zu minimieren. Trotzdem: eine beachtliche Leistung.
Zurück am Grab begann ich, die nähere Umgebung nach Spuren abzusuchen. Das war eigentlich die einfachste Sache der Welt. Nur, dass ich nicht wusste, wonach ich suchte. Die Wege zwischen den Gräberreihen bestanden aus festgetretenem Kies und Sand; abgesehen von der einen, mir wohlbekannten Baumwurzel waren sie eben und wiesen keine Schleif- oder Trittspuren auf. Ich spähte über sie hinweg. Ich ging in die Hocke. Ich ließ mich auf die Knie nieder. Erstaunlich, wie vielfarbig Kies ist, wenn man ihn aus der Nähe betrachtet. Nach einigen Minuten wandte ich mich dem Gras zu, das zwischen den Gräbern wuchs. Und dort wurde ich zum ersten Mal fündig: ein Knopf, klein und braun, mit vier Löchern. Ein Allerweltsknopf, überhaupt nichts wert. Der konnte von jedem Friedhofsbesucher jeglichen Geschlechts stammen. Aber besser als nichts. Ich steckte ihn ein.
Und so ging es weiter: Je weiter ich meine Nachforschungen ausdehnte, desto mehr fand ich. Nichts davon wies in eine eindeutige Richtung. Zu dem Knopf gesellte sich der morsche Holzgriff eines kleinen Küchenmessers; dann kamen Papiertaschentücher hinzu, ein Einmachgummi, ein Bonbon, eine Zigarettenschachtel, ein Fetzen Papier mit unleserlicher Aufschrift, eine kaputte Trillerpfeife, ein weiterer Knopf und ein Gießkannenaufsatz. Und ein nagelneuer Euro, immerhin.
Das also war das Ergebnis meiner Nachforschungen: ein Geldstück und wertloses Strandgut der Zivilisation. Machte hier niemand sauber? Das Papier versuchte ich zu entziffern, aber die Schrift war vom Tau so verwaschen, dass man nur mit Fantasie den Namen Kurt oder Karl und eine sechsstellige Zahl, vielleicht eine Telefonnummer, hineinlesen konnte. Murrend und meinen Beruf verfluchend, suchte ich auf allen vieren weiter, bis ich zwei Schuhe fand.
Zwei braune Schuhe. Schuhe, in denen noch die Füße der Besitzerin steckten.
»Nun sagen Sie mal«, schallte es aus der Höhe herab. »Was machen Sie denn da unten?«
Ich richtete mich auf. Vor mir stand die Frau, der ich am Friedhofseingang begegnet war. Eine mindestens 80-jährige Großmutter, Urgroßmutter, mit schluchtentiefen Falten im Gesicht, die Gießkanne in der einen, die Harke in der anderen Hand. Sie war keine eins 60 hoch, aber ihre hellen Augen blitzten wach und misstrauisch.
»Na, was ist, junger Mann? Suchen Sie was?«
Die hatte mir gerade noch gefehlt. Ich stand auf und klopfte mir den Sand von den Knien.
»Sozusagen, ja«, brummte ich.
»Wissen Sie, wie das aussah? Als würden Sie den Boden abschnuppern.«
»Wenn Sie das sagen …«
»Und wozu, wenn ich fragen darf?«
Natürlich durfte sie. Ihre Stimme erinnerte mich an meine Großmutter. Ein Pfälzer Knochen mit eisernen Prinzipien und viel Humor, auch wenn das widersprüchlich klingt. Von ihr bekam ich mehr Ohrfeigen als von der gesamten Restverwandtschaft, dennoch habe ich sie in bester Erinnerung. Sie brachte mir bei, dass Erwachsene auch nur Menschen sind, fragwürdig wie alles andere, und dass ich meinen eigenen Vorstellungen folgen sollte, nicht den verquasten Plänen meiner Eltern. Wenn die gute Frau wüsste, was aus mir geworden ist … Im Übrigen war meine Großmutter die Einzige ihrer Generation, mit der man über das reden konnte, was vor 1945 geschehen war. Die Einzige, die das Wort Schuld in den Mund nahm.
Die alte Frau auf dem Bergfriedhof war ganz anders als meine Großmutter. Aber ich glaubte zu bemerken, dass ihre scheppernden Worte von einem fröhlichen Zwinkern im Augenwinkel begleitet wurden. Einem versteckten Zwinkern freilich.
»Das ist ein Test«, sagte ich. »Man schnuppert hier herum, weil … wir nennen es Schnuppertest.«
Sie kniff die Augen zusammen und schwieg.
»Das ist natürlich nicht der offizielle Name. Schnuppertest. Da geht es um so eine Art Voruntersuchung. Wir vom Landesamt für Naturschutz …«
»Naturschutz?«, blaffte sie mich an. »Auf dem Friedhof?«
»Gerade da. All die Leichen, ich meine die Bestatteten, mit ihren Prothesen und Goldzähnen und den vielen Tabletten. Haben Sie sich mal überlegt, wo das Zeug hinsickert, wo das verbleibt? Ich weiß, das klingt jetzt nicht schön, aber technisch gesprochen ist es Giftmüll, was da aus den Särgen rausgeschwemmt wird. Schwermetalle, chemische Cocktails. Sicher, hier liegen Ihre Angehörigen, für Sie ist das etwas Besonderes. Eine Kultstätte. Aber aus Behördensicht ist der Bergfriedhof eine Halde voller Gefahrgut. Eine Zeitbombe. Und wenn die hochgeht, mein lieber Scholli.«
»Schnuppertest, nie gehört«, sagte sie. »Und was haben Sie mit Ihren Augen angestellt?«
»Das sind die Probleme, mit denen wir tagtäglich zu kämpfen haben. Der Widerstand der Bevölkerung. Handgreiflicher Widerstand. Dabei geht es nur um einen Schnuppertest.«
Sie schwieg. Das ermunternde Zwinkern in ihren Augenwinkeln war verschwunden. In der Hand hielt sie die Harke wie eine Waffe.
»Okay, ich habe etwas gesucht«, sagte ich. »Habs gestern Abend hier verloren, und jetzt ist es weg.«
»Soso«, machte sie.
Ich zuckte die Achseln und grinste schwach. Und als sie immer noch schwieg, sagte ich: »Tut mir leid. Ich quatsche halt gerne.«
»Schon gut«, meinte sie. »Viel Erfolg bei der Suche.«
Dann ging sie. Ich sah ihr nach, bis sie hinter einer Biegung des Weges verschwunden war. Sie schlurfte, hielt sich aber bemerkenswert aufrecht. Ein wenig ähnelte sie wirklich meiner Großmutter.
Die Lust auf weitere Schnuppertests war mir vergangen. Ich packte meine Fundstücke ein und verließ den Friedhof. Stieg auf mein rotes Fahrrad, ergriff die Lenkstange des anderen und fuhr davon. Den Kopf voller Gedanken, die Taschen voller Müll.
6
»Das kann doch nicht sein, Max!«, rief Fatty und ruderte mit seinen kurzen Armen. »Eine Leiche verschwindet nicht einfach so.«
»Sie war aber nicht mehr da.«
»Dann hat sie einer weggebracht. Dein Pfeffersprayer, wer sonst? Und den muss einer gesehen haben.«
»Wer denn?«
»Überleg doch mal, dieses Risiko. Da läuft einer mit einem Toten huckepack über den Friedhof und fährt ihn dann durch halb Heidelberg. Dafür muss es doch Zeugen geben!«
»Mitten in der Nacht? Nein, muss es nicht. Angenommen, der Alte hat einen