Marcus Imbsweiler

Bergfriedhof


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los, nehmen Sie schon«, sagte der Alte. »Ich werde Sie weiterempfehlen. Diskretion ist ein wichtiges Argument, wenn man einen Privatdetektiv benötigt.«

      Diskretion, da war das Wort wieder. Ich nickte und streckte eine Hand aus. Der Umschlag war dick und fühlte sich angenehm an. Sollte ich ihn öffnen? Nachzählen? Auf ein Scheinchen mehr oder weniger kam es dem Mann wohl kaum an.

      »Ich vertraue Ihnen«, wiederholte er. »Trotzdem, Herr Koller … Es tut mir leid.«

      Ich wandte den Kopf und blickte in die Mündung einer kleinen Spraydose. Als es zischte und ich die Augen schloss, war es bereits zu spät. Ich schrie auf. Das Zeug brannte wie Feuer, im ersten Moment glaubte ich, es würde mir die Pupillen wegätzen. Anstatt den Alten zu packen oder wenigstens wild um mich zu schlagen, krümmte ich mich und wischte wie ein Wahnsinniger in meinen Augenhöhlen herum. Mein Sicherheitsgurt wurde geöffnet, dann die Beifahrertür, und ich spürte seine Hände an meiner linken Seite. Im nächsten Moment lag ich auf dem Bürgersteig.

      Er war wirklich alles andere als altersschwach, der Silberrücken.

      4

      »Pfefferspray!«, rief Fatty. »Verdammt noch mal! Da hat er dich aber ganz schön gelinkt.«

      Ich zuckte die Achseln.

      »Pfefferspray? Das haben doch sonst nur Frauen dabei, wenn sie abends joggen gehen. Ein Teufelszeug.«

      »Hm«, machte ich.

      »Mensch, Mensch, Mensch«, bemerkte Fatty kopfschüttelnd. »Das darf doch nicht wahr sein. Hat der dich zugerichtet! Der hätte dich, ja alles Mögliche hätte der dich, ist dir das klar?« Er war wirklich sehr besorgt.

      »Reg dich ab und setz dich. Was willst du trinken?«

      »Deine Augen sind immer noch knallrot. Wann war das? Gestern Abend? Ich würde es mal einem Arzt zeigen.«

      »Was du trinken willst, Fatty.«

      »Danke, nichts.«

      »Hab ich nicht.« Ich lotste ihn durch die zwei Zimmer meiner Wohnung auf meinen Balkon. Eine Bonsaiausgabe von Balkon, schattig zudem, aber ich halte mich gerne dort auf. Wenn man einmal sitzt, sitzt man. Ringsumher Steine, keine Blumen, kein Grün, bloß nackte, kahle Backsteinwände und eine hohe Brandmauer. Über dir versperrt der Balkon der Nachbarn den Blick zum Himmel und nur im Hochsommer schafft es die Sonne, für ein paar Stündchen in den sorgfältig gefegten Hof zu lugen. Es sind seltene Augenblicke, in denen die Natur Mitleid mit den Mauerblümchen der Gesellschaft hat. Jetzt noch nicht, denn wir schrieben Ende April. Wenigstens war es warm genug, um sich am frühen Abend ein Stündchen draußen aufzuhalten.

      Fatty stellte seinen Rucksack ab und zwängte sich an dem kleinen Esstisch vorbei auf seinen Platz.

      »Komisch finde ich allerdings«, sagte er, »dass man von Pfefferspray auch blaue Augen bekommt. Genauer gesagt ein blaues Auge.«

      »Ja, sehr komisch.«

      »Wie kommts?«

      »Erzähle ich dir. Schön der Reihe nach. Willst du wirklich nichts trinken?«

      »Nein, danke. Erst mal nichts.«

      Ich machte mir ein Bier auf, setzte mich und berichtete. Vom Anruf des Unbekannten bis zu seinem Verschwinden. Von dem Toten auf dem Grab, von unserer Fahrt durch die Nacht und meiner unsanften Bekanntschaft mit dem Neuenheimer Asphalt. Fatty klappte den Mund auf und zu und machte große Augen. Nachdem der Alte fortgebraust war, lag ich noch einige Minuten zusammengekrümmt auf dem Bürgersteig, bis mir ein besorgter Passant in Anzug und Krawatte aufhalf. Er kam gerade von einem Empfang, war verdammt lustig drauf und wollte mich unbedingt ins Krankenhaus bringen. Ich verzichtete; der Typ schwankte mehr als ich. Tränenblind und Verwünschungen gegen den Alten ausstoßend schleppte ich mich nach Hause.

      »Konntest du den Weg überhaupt sehen?«, fragte Fatty.

      »Nö. Bloß tasten. Und riechen.«

      »Riechen?«

      »Vor allem war ich nicht in der Lage, das Kennzeichen des BMW zu lesen. Und genau darum ging es dem Alten.«

      »Verstehe.« Fatty nickte beeindruckt. »So sind sie, die Bonzen. Ledersitze, sagst du?«

      »Ledersitze.«

      »So sind sie, die Bonzen«, wiederholte er. »Verdammte Spießer, die sich die Finger nicht schmutzig machen wollen. 100 Prozent Arroganz im Blutkreislauf. Pfui Spinne.« Er lehnte sich zurück und seufzte tief. Über ihm rieselte etwas Sand von der Backsteinmauer.

      Ich nahm einen Schluck Bier und schwieg. Friedhelm Sawatzki, genannt Fatty, zog eine sorgenvolle Miene, aber er war nicht besorgt, im Gegenteil. Er war hochzufrieden. All seine Vorurteile – bezüglich der Bonzen, ihrer Autos, ihres Auftretens – hatten sich wieder einmal bestätigt, und das machte ihn froh. Ein Beweis für die Korrektheit seines Weltbildes, das von der ewigen Feindschaft zwischen Ausbeutern und Arbeitern, Spießern und Entrechteten, Kapitalisten und Antikapitalisten lebt. Er selbst ist Erzieher in einem Heidelberger Kindergarten, und so erübrigt sich die Frage, auf welcher Seite der Gesellschaft er steht. Ja, Fatty hat vor vielen Jahren, während seiner pubertären Sturm-und-Drang-Zeit, einen revolutionären Schub bekommen, hat den Klappentext des Kapital studiert und nicht verstanden. Seitdem ist die Sache für ihn klar, und immer, wenn er von Begebenheiten wie der Geschichte mit dem Unbekannten erfährt, wirft er seine Floskeln unters Volk: »Siehst du, da haben wir es wieder … So sind sie, die Bonzen dieser Welt. Habe ich es dir nicht gleich gesagt, Max?« Natürlich hat er. Oft genug.

      In den meisten Fällen decken sich Fattys Ansichten mit meinen. Im Gegensatz zu ihm verzuckere ich allerdings nicht jedes Ärgernis mit pseudomarxistischen Thesen, um es zu verarbeiten. Und schon gar nicht bin ich der Meinung, dass man an den Verhältnissen etwas ändern könnte, wie Fatty steif und fest behauptet. Er selbst ändert am allerwenigsten. Ich sage den Leuten zumindest bei Gelegenheit, was mir an ihnen nicht passt, Fatty hingegen entrollt die vergilbte Fahne der proletarischen Revolution, ruft von meinem Hinterhofbalkon zum aktiven Widerstand auf und steht am nächsten Morgen um halb acht wieder brav vor seinen Vierjährigen, der dickste und freundlichste Erzieher, den es in ganz Heidelberg gibt.

      »Und du hast keine Ahnung, wer der Alte sein könnte?«, fragte er. »Keinen blassen Schimmer?«

      »Nein.«

      »Aber wiedererkennen würdest du ihn?«

      »Das schon.«

      »Dann musst du ihn suchen! Heidelberg ist doch ein Kaff. Oder hast du Schiss?«

      »Schiss?« Ich winkte ab. »Sagen wir mal so: Ein Mann von 70 Jahren oder mehr, der es ohne sein Pfefferspray bestimmt nicht mit mir aufgenommen hätte …« – aus dem Mund eines, der gerade mal 67 Kilo auf die Waage bekommt, klang das allerdings etwas großmäulig –, »… dieser alte Knacker, so arrogant und überheblich er aufgetreten ist, hat es trotzdem geschafft, mir auf gewisse Weise Respekt einzuflößen.«

      »Wie, Respekt?«

      »Der Typ war hellwach, die gesamte Zeit über. Immer auf der Höhe des Geschehens. Den konntest du nicht mal so eben austricksen. Der überließ nichts dem Zufall, hat sein Vorgehen genau kalkuliert. Dass er mir eine Ladung Spray verpassen würde, wusste er, bevor ich in seinen BMW einstieg.«

      »Ach, so meinst du das.«

      »Unterschätzen sollte man ihn jedenfalls nicht.«

      Fatty nickte. »Waren tatsächlich 5000 Euro in dem Umschlag?«

      »5000.«

      »Kleingeld für einen Bonzen, aber dafür, dass du keinen Finger gerührt hast, ein ordentlicher Stundenlohn.«

      »Richtig.«

      »Der Mann muss doch zu finden sein!« Fatty schüttelte den Kopf. »Wenn ich mir vorstelle, was dir hätte passieren können! Warum hast du mir nicht wenigstens gesagt, was du vorhast?«

      »Ich