Marcus Imbsweiler

Bergfriedhof


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      »Verarschen kann ich mich alleine!«, brüllte ich in die Nacht hinaus.

      Er schwieg. Hielt meinem wütenden Blick ein paar Sekunden stand, um dann erneut sein Taschentuch zu zücken und sich zu schnäuzen. Sogar diese Handlungen wirkten herablassend.

      »Umgekehrt wird eher ein Schuh daraus«, erklärte er. »Womit haben Sie eigentlich die letzten 30 Minuten verbracht, Herr Koller?«

      »Machen Sie sich nicht lächerlich«, schnaubte ich.

      »Lächerlich, ich?«, fuhr er auf. »Wer sind Sie, dass Sie das behaupten können, Sie Privatdetektiv? Ich weiß nicht, ob und welche Erfolge Sie in Ihrem Leben schon gefeiert haben, aber ich wäre verdammt vorsichtig damit, einem Mann wie mir Lächerlichkeit vorwerfen zu wollen. Wenn Sie 100 Menschen fragen könnten, wem von uns beiden sie zutrauen würden, etwas mit dem Tod dieses Mannes zu tun zu haben, was würden diese 100 wohl sagen?«

      Ich grinste. Der Mann gefiel mir. Er gefiel mir, weil er durch sein Verhalten all meine Vorurteile bestätigte, die ich gegen seinesgleichen hegte. Ich bin nicht stolz auf diese Vorurteile, ganz im Gegenteil, und ich weiß, dass sie im Einzelfall an der Realität scheitern. Trotzdem helfen sie einem, sich wenigstens grob im Dschungel des Lebens zu orientieren.

      »Die verfolgte Unschuld«, höhnte ich. »Wusste gar nicht, dass Sie Laienschauspieler sind. Haben Sie es schon einmal bei einer studentischen Theatertruppe versucht? Die suchen immer Nachwuchs.«

      Er antwortete wieder mit einem Niesen. Mit dreimaligem Niesen, um exakt zu sein. Hatte es ihm die Sprache verschlagen?

      Nein, das war es nicht. Er zückte wieder sein unvermeidliches Taschentuch, widmete dem Auswurf einen müden Blick und sagte: »Pollen.«

      »Bitte?« Ich kapierte überhaupt nichts.

      »Pollen«, wiederholte er. »Sogar nachts quälen sie einen. Kennen Sie das?«

      »Allergien kann ich mir nicht leisten«, brummte ich. »Sind was für Besserverdienende.«

      Er nickte und nieste noch einmal. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie dieses Spielchen weitergehen sollte. Vielleicht tauschten wir am Ende alte Hausrezepte aus, oder wir empfahlen uns gegenseitig unsere Lieblingsärzte. Keine Ahnung. Ich wusste nur, dass ich allmählich müde wurde.

      »Herr Koller«, sagte der Unbekannte, nachdem er fertig war mit seinem zermürbenden Geniese, »ich mache Ihnen einen Vorschlag.«

      »Tatsächlich?«

      »Lassen Sie uns gehen.«

      »Gehen? Wohin?«

      Einladend griff er nach meinem Oberarm, als wolle er mich mal eben zum Tanz auffordern. »Ich habe Sie in etwas überstürzter Manier um dieses Treffen auf dem Bergfriedhof gebeten. Gegen ein anständiges Honorar. Ich möchte nun, angesichts der veränderten Situation«, er gönnte dem Toten einen kurzen Seitenblick, »meinen Auftrag erweitern. Wieder gegen ordentliche Entlohnung, das versteht sich. Lassen Sie uns dieses Treffen vergessen. Sie sind niemals hier gewesen, ich auch nicht. Wir wissen von nichts und haben nichts gesehen. Was ja, im Großen und Ganzen, der Wahrheit entspricht. Einverstanden?«

      Ich gebe zu, der Mann verblüffte mich. Er reagierte schneller auf Situationen, als man es bei seinem Alter hätte erwarten können. Dass er nicht mit dem Toten auf dem Grab gerechnet hatte, schien offensichtlich. Also disponierte er um. Gab neue Anweisungen. Dirigierte seinen Büttel Max Koller, wie es ihm gefiel.

      »Sie wollen ihn«, sagte ich und zeigte auf die Leiche, »Sie wollen ihn hier liegen lassen und sich aus dem Staub machen? Einfach so?«

      »Können Sie ihm noch helfen?«, gab er trocken zurück.

      »Nein, aber wir könnten …«

      »… herausfinden, wer der Mörder ist? Wenn es Ihnen Spaß macht, Herr Koller. Aber nicht in meinem Auftrag, bitte schön. Ich möchte nicht in diese Angelegenheit hineingezogen werden.«

      »Sie sind schon drin, Herr … wie, sagten Sie, war der Name?«

      Er lächelte schwach. »Es wird Ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen sein, dass ich Ihnen ein mehr als angemessenes Honorar in Aussicht gestellt habe. Daran halte ich mich. Aber nur, wenn wir beide diesen unangenehmen Ort verlassen. Und zwar so rasch wie möglich. Sie können meinetwegen von zu Hause die Polizei informieren. Nur lassen Sie mich aus dem Spiel. Im Gegensatz zu anderen Personen habe ich noch einen Ruf zu verlieren.«

      Ich war zu sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, um seine letzte Bemerkung zu parieren. Er wollte mich kaufen. Gut, das taten alle Kunden, wenn sie sich an mich als Privatflic wandten. Normalerweise zahlten sie für meine Ermittlungen, der hier zahlte für mein Schweigen. Warum tat er das? Nur um seine Ruhe zu haben? Es hätte mich gereizt, das herauszufinden. Vor allem hätte mich gereizt, ihm die Antwort am Ende meiner Nachforschungen auf den Tisch zu knallen, gegen seinen erklärten Willen und mit der Überlegenheit dessen, der ein reines Gewissen hat. Hatte er ein reines Gewissen? Wohl kaum. In jedem Fall durfte man vom Alter des Mannes nicht auf seine Konstitution schließen. Er war kein tattriger, verkalkter Greis, sondern ein knallhart kalkulierender Silberrücken, ein hellwacher, abgeklärter Opa aus Granit.

      »Noch mal zum Mitschreiben«, sagte ich. »Wir lassen die Leiche hier liegen, gehen unserer Wege, und bevor wir uns trennen, stellen Sie mir einen Scheck aus.«

      »Richtig.«

      »Und dann?«

      »Den Rest erledigen unsere pflichtbewussten Gesetzeshüter. Wie gesagt, Sie können die Polizei gerne vom heimischen Herd aus anrufen, aber halten Sie mich und meinen Namen außen vor.«

      »Interessant.«

      »Finden Sie? Es ist eine einfache Abmachung, die wir treffen, und für deren Einhaltung zahle ich gerne. Sie haben sich spät am Abend hierher bemüht, Herr Koller. Ein solches Engagement schätze ich und möchte es honorieren.«

      »Und der Mann dort?«

      »Übermorgen werden Sie in der Zeitung lesen können, wie er umgekommen ist.«

      »Was schlagen Sie vor?«

      Er setzte zu einem Niesen an, ließ es jedoch bleiben.

      »Selbstmord«, erklärte er.

      2

      Der Einzige, der in meiner Wohnung konstant arbeitet, ist mein Anrufbeantworter. Vom Kühlschrank abgesehen, aber der hat schließlich nichts mit meinem Beruf zu tun. Ich selbst liege auf dem Sofa, mache Besorgungen, starre auf den Fernseher oder denke mir Fälle aus, die nur ich zu lösen imstande bin – nicht unbedingt ein nachhaltiger Beitrag zum deutschen Bruttosozialprodukt. Meinem Anrufbeantworter ist das egal, er wacht stumm auf dem Schreibtisch und kommentiert meinen Lebenswandel nicht. Unliebsame Anrufer hält er hin, sein Band ist immer dann voll, wenn ein flüchtiger Bekannter seine Handynummer hinterlassen möchte, und blinkend verbreitet er gute Laune. Solche Mitarbeiter braucht man als selbstständiger Unternehmer, keine sonst.

      Wozu auch? Den Rest der Arbeit erledige ich schon alleine. Ich bekomme selten Aufträge, und davon nehme ich nur einen Teil an. Manchmal passt mir die Nase eines Kunden nicht, dann schütze ich Überlastung vor, ein andermal ist mir die Sache zu widerwärtig. Dass eine Arbeit meine Kräfte überstiegen hätte, ist mir leider noch nicht passiert. Auf diesen einen spektakulären Auftrag, auf die große persönliche Herausforderung warte ich bislang vergebens. Was passiert schon bei uns in der Provinz? Eine Brieftasche wird vermisst oder ein Schoßhündchen, hier und da verliert ein gestresster Bankdirektor den Überblick über die aktuellen Liebhaber seiner Frau, zweitklassige Firmen lassen das Privatleben drittklassiger Bewerber durchleuchten, bevor sie sie nicht einstellen. Das wars. Keine Erpressungen, keine Entführungen, kein Mord im Halbweltmilieu, geschweige denn eine Halbwelt – und falls doch, rücken sofort die Bullen an, froh, dass sie auch mal was zu tun bekommen.

      Unter die Privatdetektive geriet ich eher zufällig. Einige Jahre arbeitete ich ganz klassisch als Taxifahrer, für einen Ehrenmann aus