Thomas L. Viernau

Todesluft


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      Natürlich, Linthdorf erinnerte sich. Novemberrevolution, Weimarer Republik. Auch die Hohenzollern verschwanden damals.

      »Wie lange fahren wir?«

      »Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder die schnelle, also Autobahn, oder die bequemere und sehenswertere Route, quer durch den Thüringer Wald über Ilmenau, Neuhaus und das Schwarzatal. Es lohnt sich.«

      Einem solch abwechslungsreichen Angebot konnte Linthdorf nicht seine Zusage verwehren. Zumal er sowieso Autobahnen nicht mochte.

      »Also, dann starten wir Sonnabend früh. Ich telefoniere noch mit den Leuten von der Stiftung. Die kennen mich schon.«

      Linthdorf war zufrieden. Ihm graute vor den Wochenenden. Nichts tun war er nicht gewöhnt. Still in seinem Zimmer liegen, naja, drei Stunden hielt er bestimmt durch. Aber gleich zwei volle Tage? Man konnte auch in den kleinen Tierpark, oder ein Café besuchen, aber auf diese tolle Idee kamen auch die übrigen Kurpatienten.

      Davor grauste es Linthdorf noch mehr. Sein Gesundheitszustand wurde durch den Anblick der vielen Siechen und Versehrten nicht besser, es bedrückte ihn, Teil dieser stillen Menge zu sein. Er kam sich stets fehl am Platz vor. Dann lieber mit dem Indianer durch den Thüringer Wald tuckern, auch wenn es etwas beschwerlich war, in dem kleinen Hyundai zu sitzen.

      Außerdem begann sich Linthdorf langsam für die Angelegenheit zu interessieren. Monsieur Dachs und Madame Fuchs stürzen vom Felsen eines einsamen Berges, hinterlassen ein geheimnisvolles Medaillon, dazu die Einbruchsserie in den Thüringer Schlössern. Linthdorf spürte, dass mit einfachen Erklärungen nichts zu bewegen war. Der Journalist hatte da schon recht. Er würde zwar ohne sein gewohntes Netzwerk auskommen müssen und auch seine Mobilität war eingeschränkt, aber mit Routine und einer sensiblen Spürnase würde er es sich schon zutrauen, etwas Licht in das Dunkel zu bringen.

      Linthdorf sah auf seine Uhr. Es war kurz nach Drei. Hainkel schlug ihm noch vor, das Schloss zu besichtigen, zumal er selbst Mitglied des Fördervereins »Freunde der Wilhelmsburg« sei und damit jederzeit Zutritt habe. Ein guter Bekannter würde außerdem als Schlossführer arbeiten und ihnen etwas zu den gestohlenen Objekten erzählen können. Er habe zwar schon ein paar Mal mit seinem Bekannten über das Thema gesprochen, aber jetzt habe er ja einen Profi im Schlepptau. Dabei zeigte er wieder seine blitzend weißen Zähne und grinste.

       Ich heiß‘ ein Ritter und hab im Sinn,

       dass ich aufzusuchen reite

       einen Mann, der mit mir streite,

       der gewappnet sei, wie ich,

       das preisset ihn, erschlägt er mich.

       Wenn ich’s ihm aber angetan,

       so hält man mich für einen Mann

       und steig‘ ich dadurch an Wert.

       Drum, wenn du irgendwas gehört,

       von solchem Wagnis hier im Walde,

       dass melde du mir also balde,

       und führe mich zur Stelle hin,

       denn nichts Anderes hab‘ ich im Sinn.

       Hartmann von Aue: Iwein mit dem Löwen (Mittelalterliches Epos)

      IV

      Schloss Wilhelmsburg in Schmalkalden

      Mittwochnachmittag, 9. Mai 2007

      Der Aufstieg aus der Altstadt war kurz und unkompliziert. Linthdorf hatte noch ein paar Schwierigkeiten, sich inmitten der Fachwerkpracht zurechtzufinden, aber Hainkel geleitete ihn sicher über den Lutherplatz den Schlossberg hinauf.

      Die Schlossanlage war größer als gedacht. Auf der rechten Seite erblickte Linthdorf einen kunstvoll mit Buchsbaumhecken ornamentierten Renaissancegarten. Hainkel nannte ihn den Rosengarten. Von den Rosen war jetzt im Mai noch nicht so viel zu sehen.

      Vorbei an einer kleinen, schlichten Plastik, die an einen Minnesänger erinnerte, der wohl vor vielen Jahrhunderten auf der Vorgängerburg Wallraf zu Gast war, Linthdorf erinnerte sich, dass Hainkel ihm etwas von uralten Wandmalereien erzählt hatte, die aus dieser Zeit stammten.

      Es sollten Illustrationen zum »Iwein« sein, einem Epos des berühmten Minnesängers Hartmann von Aue, der auch beim Sängerkrieg auf der Wartburg dabei gewesen sein sollte. Erst vor kurzem seien die Kopien der Kellermalereien, deren Original im »Hessischen Hof« unten in der Stadt gefunden wurde, an die Öffentlichkeit übergeben worden.

      Im Schlosshof, den man durch ein barock ausgeschmücktes Tor erreichte, war es still. Bänke standen herum, ein kleiner Brunnen plätscherte. Hainkel bat Linthdorf kurz zu warten und verschwand in einer der zahlreichen Türen.

      Erschöpft ließ sich Linthdorf auf einer Bank nieder. Ein paar Sonnenstrahlen verirrten sich durch den wolkenverhangenen Himmel und wärmten erstaunlich intensiv. Linthdorf legte sein Sakko ab, saß hemdsärmelig da und grübelte.

      Immer, wenn er allein war, kamen die Gedanken zurück, die ihm das Leben schwermachten. Zuallererst erschien das Bild einer großen Frau mit straff zurückgekämmten dunkelblonden Haar und dem ihm so vertrauten, feinen, leicht ironischen Lächeln. Ihre Stimme klang in ihm nach.

      Louise – seine Louise! Sie war tot.

      Bis jetzt konnte er sich mit der Tatsache nicht abfinden. In seinen Träumen sprach er mit ihr, als ob sie noch präsent sei und nicht dieses leblose Wesen zwischen den Drähten und Schläuchen in dem einsamen Krankenzimmer. Mit ihr wäre es sicherlich nicht zu dem Infarkt gekommen.

      Er hatte sich da einfach zu viel zugemutet. Aber irgendwie musste er ja weiterleben. Auch wenn es schwerfiel. Es gab ja noch …, ja, was? Natürlich, seine beiden Jungs, die kleine Katze, die Kollegen, Bernie Voßwinkel, Freddi … Halt! Den gab es auch nicht mehr, der hatte sich in der Neujahrsnacht vom Balkon gestürzt.

      Ja, und neuerdings geisterten noch ein paar andere Personen durch seinen Kopf. Verwirrend, die Kopie von Louise, nämlich ihre Schwester, Charlotte Rauchfuss und dieses quirlige Wesen aus dem Lindstedter Archiv, Frau Seidelbast, die ihn letztendlich gerettet und den Medizinischen Notdienst alarmiert hatte.

      Ach! Es war schon kompliziert. Weit weg von seiner vertrauten Umgebung begann sich langsam in seinem Kopf alles neu zu ordnen. Die vielen Leichen des vergangenen Jahres, die ihn in seinen schlaflosen Nächten heimsuchten, blieben endlich weg. Keine ertrunkenen Nixen, keine massakrierten Vögel, keine toten Arkadier. Auch die »Weiße Frau«, ein Spuk, der sich später als bösartiger Klamauk herausstellte, verschwand wieder im dunklen Nebel der Vergangenheit.

      Linthdorfs fotografisches Gedächtnis konnte lange Zeit die Bilder nicht verdrängen. Sie waren da, ob er wollte, oder nicht, sie begleiteten ihn ständig und sorgten für permanente innere Unruhe. Zuviel für sein Herz, das den Tod zweier ihm sehr nahestehender Menschen zu verkraften hatte. Es streikte.

      In den Wochen im Krankenhaus grübelte er oft darüber nach, was der Auslöser für den Infarkt war. Ein eindeutiges Ereignis konnte er nicht verantwortlich machen. Es war die permanente Abfolge extremer Vorgänge. Dazu der latente Unmut, hervorgerufen durch den unsensiblen Führungsstil seines Chefs, Dr. Nägelein. Die Summe aller Ereignisse fokussierte dann in dem Infarkt.

      Voßwinkel war betroffen, als er ihn am Krankenbett besuchte. Fast vorwurfsvoll blickte der ihn an. Auch seine Kollegen, Grell-Hansen und Petra Ladinski, waren total geschockt. Fast täglich kamen seine Jungs vorbei, brachten Zeitungen und Obst vorbei. Er brauchte lange, um sich von den Folgen des Infarkts zu regenerieren. Die Kur war wahrscheinlich das beste Mittel. Ortswechsel, Luftwechsel, ein geregelter Tagesablauf – er spürte, dass ihm die Kur bekam.

      Und dann gab es ja auch noch die rätselhaften Vorfälle