vollkommen anderer Meinung zu sein. Der ältere Herr berichtete, dass er schon öfters Veranstaltungen der ATG besucht habe. Sehr seriös alles. Wissenschaftler, Astronomen und Historiker hätten da gesprochen und auch ein Diavortrag war äußerst eindrucksvoll gewesen.
Was den ATG heiße?
Ach so, nun das wäre doch ganz einfach: Astroterrestrische Gesellschaft.
Wo die Gesellschaft ihren Sitz habe?
Nun ja, die Vorträge wären an diversen Orten gewesen, in Meiningen, in Wasungen, in Schwallungen und natürlich auch auf dem Dolmar. Immer waren die Vorträge gut besucht. Also keine Scharlatane oder Hochstapler, nein, nein, alles sehr seriös …
Im Übrigen, falls der Herr Interesse habe, in drei Tagen sei ein Infoabend in Steinbach-Hallenberg geplant. Er könne ja einfach mal mitkommen.
Linthdorf nickte nachdenklich. Ob er Hainkel kontaktieren sollte? Was ging hier vor? Waren wirklich so viel Esotheriker und Ufologen in Thüringen zu Gange? Woher kamen die Leute, die sich hinter dem Kürzel ATG verbargen? Seltsam, seltsam.
Das heimliche Liebespaar
Ich selbst habe die Gräfin, obschon ich fünfzehn Jahre lang, teils ganz, teils in allen Ferien auf dem Dorfe lebte, überhaupt nur zwei Mal und nur einmal einigermaßen deutlich gesehen; dies Letztere geschah aus einiger Entfernung mittelst eines Glases.
Es mag im Jahre 1818 gewesen sein. Die Gräfin stand am offenen Fenster und fütterte mit Backwerk eine Katze, die unter dem Fenster war.
Sie erschien mir wunderschön; sie war brünett; ihre Züge waren ausnehmend fein; eine leise Schwermut schien mir eine ursprünglich lebensfrische Natur zu umhüllen; in dem Augenblick, wo ich sie sah, lehnte sie in schöner Unbefangenheit im Fenster, den feinen Shawl halb zurückgeschlagen, wie ein Kind mit dem Tier unter sich beschäftigt. Ich sehe noch, mit welcher Grazie die schöne Gräfin das Backwerk zerbröckelte und die Fingerspitzen am Taschentuche abwischte.
Dr. Karl Kühner, Sohn des Dorfpfarrers zu Eishausen
Eishausen
Sonntag, 12. Dezember 1826
Die Jahre zogen ins Land. Nichts schien die Harmonie des zurückgezogen lebenden Paares zu stören. Der Graf war mit seinem selbstgewählten Schicksal zufrieden. Seiner Begleiterin ging es ebenso. Man hatte sich arrangiert.
Er, Leonardus, konnte im Rückblick gar nicht feststellen, wann es anfing mit der Liebe. Eigentlich vom ersten Augenblick, als er ihr zum ersten Mal begegnete. Lange war das inzwischen her. Mehr als zwanzig Jahre. Er erinnerte sich dennoch als ob es erst gestern gewesen war.
Es war eine stürmische Herbstnacht, als er zu einem geheimen Treffen in einen der vielen Pariser Salons gerufen wurde. Er war in der Pariser Gesellschaft ein angesehener Mann, hatte sich mehrfach als Anhänger der Bourbonenpartei gezeigt und war durch seine holländische Herkunft prädestiniert, heikle Missionen ins Ausland ohne Probleme durchführen zu können.
Jeder Geheimauftrag der Bourbonenpartei war bisher von ihm zur vollsten Zufriedenheit ausgeführt worden. Meistens waren es Kurierfahrten zu anderen europäischen Königshäusern, aber auch Missionen mit großen Geldsummen, die an einen sicheren Ort außerhalb Paris verbracht werden sollten.
Zum Treffen im Club Royal, so wurde der Salon inoffiziell genannt, waren viele Unbekannte erschienen. Sie stellten sich als Gesandte der Herzogtümer Kurland und Livland vor, auch ein persönlicher Kurier des russischen Zaren war anwesend.
In einem Chambre Separée warteten zwei junge Damen. Eine war ein eher schüchternes, feingliedriges Wesen, die andere war etwas größer und wirkte recht selbstbewusst. Leonardus hatte die beiden Damen noch nie gesehen.
Ein Vertrauter des Herzogs von Angoulême war ebenfalls anwesend und der persönliche Sekretär von Louis-Antoine de Bourbon.
Leonardus musste schlucken. Soviel Prominenz war selten an einem Ort zu finden. Es schien sich also um eine ausgesprochen wichtige und heikle Mission zu handeln. Er war sich sicher, dass er für eine neue Mission auserwählt worden war. Die meisten Missionen begannen mit einem geheimen Treffen im Club Royal, zu dem nur ein kleiner Kreis Zutritt hatte.
Baron Antoine Vavel de Verzay, ein reicher Chouan, glühender Royalist und einflussreicher Verbindungsmann zum Hause Bourbon, nahm Leonardus zur Seite.
Es ging um die beiden Damen in dem kleinen Nebenzimmer. Eine der beiden Damen sei in anderen Umständen. Das Ergebnis einer ungewollten Liebelei, nun ja, es waren unruhige Zeiten. Pech war nur, dass es sich dabei um Marie-Thérèse Charlotte, eine Prinzessin aus dem alten Königshaus handelte. Weder ihre ungewollte Schwangerschaft noch ihre wahre Identität durften bekannt werden. Häscher zogen bereits im Auftrag des Revolutionskomitees durch die Stadt auf der Suche nach flüchtigen Mitglieder des Königshauses. Einigen war die Flucht geglückt, vor allem dank der Mithilfe ihrer geheimen Gesellschaft.
Jetzt galt es, die junge Dame aus dem Dunstkreis der Aufständischen zu bringen.
Leonardus erkundigte sich nach der anderen jungen Frau, die mit in dem Nebenzimmer wartete. Vavel de Verzay winkte ab. Es wäre besser, nicht nach ihr zu fragen. Eigentlich existiere diese Dame nicht. Verwirrt schaute Leonardus den Baron an. Bisher gab es keinerlei Geheimnisse zwischen ihnen.
Die Mission sei heikel. Man müsse mit sehr unlauteren Mitteln arbeiten, um sie zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Vavel de Verzay hüstelte, schaute in Richtung der Gesandten aus Liv- und Kurland.
»Was haben diese Leute mit der Mission zu tun?«
»Noch nichts, aber sie werden …«
»Was passiert mit der zweiten Frau? Wer ist sie?«
Vavel de Verzay räusperte sich. Das Unternehmen stand und fiel mit dem persönlichen Einsatz van der Valcks.
Er hatte den Holländer persönlich auserwählt. Keiner schien vertrauenswürdiger zu sein und er entschloss sich, reinen Wein einzuschenken. Der Baron nahm Leonardus beiseite, erklärte ihm, dass es sich um eine Doppelgängerin der Prinzessin handele. Die eigentliche Prinzessin solle nach Livland gebracht werden, wo bereits der Herzog von Angoulême wartete. Seine Mission sei es, die falsche Prinzessin quer durch Europa zu begleiten. Dabei solle er aber tunlichst darauf achten, Spuren zu hinterlassen, die auf die wahre Prinzessin hinwiesen. Keiner sollte mitbekommen, dass er mit einer Doppelgängerin unterwegs sei. Das müsse ihr großes Geheimnis bleiben.
»Und welche von den beiden ist nun die Echte?«
Vavel deutete mit einem kurzen Kopfnicken in Richtung der selbstbewusst dreinschauenden Dame.
»Schau sie dir genau an. Sie hat viel Ähnlichkeit mit ihrer Frau Mama, der Habsburgerin Marie-Antoinette. Schau hin, wie sie ihren Kopf hält. Da ist viel royales Blut … Und wenn du sie reden hörst, du glaubst, Marie-Antoinette stünde vor dir.«
Leonardus hatte leider nicht das Vergnügen, die Königin kennengelernt zu haben. Er konnte sich noch daran erinnern, als im Oktober des Revolutionsjahres 1793 die Königin guillotiniert wurde. Er stand am Straßenrand, als der Käfigwagen mit ihr an ihm vorbeirollte. Er konnte eine frühzeitig gealterte Frau mit abgeschnittenen, grauen, verfilzten Haaren erkennen, angetan mit einem einfachen weißen Büßerhemd, in dem sie jämmerlich fror. Der Oktober war kühl und regnerisch. Das Schauspiel der Hinrichtung wollte er nicht miterleben. Er hasste die blutigen Orgien, die damals täglich stattfanden.
Leonardus war froh, dass die etwas schüchterne Dame seine Begleiterin werden sollte. Sie war ihm eindeutig sympathischer als die Prinzessin.
»Wie heißt sie?«, er deutete mit dem Kopf zu der zweiten Dame.
»Spielt keine Rolle, offiziell ist sie Marie-Thérèse Charlotte, Mademoiselle Royale.«
»Weiss sie davon? Wie