Kamil Dlugosz

Der Altersfaktor beim fortgeschrittenen Zweitspracherwerb


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anderen Seite, unkritisch annehmbar ist. Den Spracherwerb hat man sich vielmehr als Interaktion zwischen Maturation und Lernen vorzustellen.

      Man darf nicht vergessen, dass es auch andere Erstspracherwerbsansätze gibt, darunter vor allem interaktionistische und kognitivistische, aber auch die in letzter Zeit gefragten gebrauchsbasierten Theorien. Sie betonen jeweils andere Faktoren, z. B. den großen Einfluss der Interaktion mit der Umgebung auf den Erfolg beim Spracherwerb im Falle des Interaktionismus oder die Rolle der allgemein-kognitiven Fähigkeiten bzw. Intelligenz im Falle des Kognitivismus (vgl. z. B. Klann-Delius, 2016). Allerdings haben sie der Forschung zum Wortstellungserwerb aus mehreren Gründen wenig anzubieten und werden daher in diesem Rahmen nicht miteinbezogen.11

      Aus dem Vorangegangenen ist ersichtlich, dass der generative Ansatz schlagkräftige Antworten auf Fragen liefert, mit denen sich die Spracherwerbsforscher seit Langem auseinandersetzen. Er erfreut sich der längsten Forschungstradition, was zur Folge hat, dass er zahlreiche Erstspracherwerbshypothesen hervorgebracht hat, die zur Klärung der sprachlichen Entwicklung maßgeblich beigetragen haben. Der generative Ansatz hat nicht zuletzt die Erstspracherwerbsforschung revolutioniert und erschüttert, wodurch alternative Theorien ausgearbeitet wurden, die Chomskys Annahmen oft vervollkommnen oder aber infrage stellen wollen.

      2.1.2 Zweitspracherwerb

      Der Zweitspracherwerb ist im Vergleich zum Erstspracherwerb kein einheitliches Phänomen, weil der Weg zur Beherrschung einer zweiten Sprache in Abhängigkeit von diversen internen und externen Faktoren verschiedene Formen annehmen kann. So betont Meisel (2008: 56f.): „L1 and L2 are fundamentally different, meaning that the two types of learners acquire qualitatively different types of linguistic knowledge“. In der Fachliteratur herrscht Übereinstimmung darüber, dass sich die Prozesse des Erst- und Zweitspracherwerbs in vielen wesentlichen Punkten voneinander unterscheiden. Da die L1/L2-Divergenzen in Hinblick auf alle Subsysteme und Fertigkeiten erforscht werden können, stellen sie einen enorm komplexen Problembereich dar.1 Dennoch lassen sich einige übergreifende Unterschiede zwischen dem Erst- und Zweitspracherwerb spezifizieren, von denen die meisten Forscher ausgehen (vgl. Meisel, 2008: 57):

      1 Anfangszustand des Spracherwerbs (initial state): Die Äußerungen der Zweitsprachlerner sind länger, möglicherweise komplexer und enthalten funktionale Kategorien.

      2 Erwerbsverlauf (course of acquisition): Sowohl der Erstspracherwerb als auch der Zweitspracherwerb sind durch invariante Entwicklungssequenzen gekennzeichnet, die jedoch nicht identisch sind.

      3 Schnelligkeit des Spracherwerbs (rate of acquisition): Die Erstsprache wird schneller erworben als die Zweitsprache.

      4 Einheitlichkeit des Spracherwerbs (uniformity): Beim Zweitspracherwerb ist eine stärkere Variation sowohl auf der interindividuellen als auch auf der individuellen Ebene zu beobachten.

      5 Endzustand des Spracherwerbs (ultimate attainment): Im Gegensatz zu einsprachigen Kindern erreichen wenige (oder keine) Zweitsprachlerner muttersprachliches Niveau.2

      Der unterschiedliche Anfangszustand beim Zweitspracherwerb hat mindestens zwei Ursachen: Erstens ist das zur Verfügung stehende Wissen am Anfang des Erwerbsprozesses grundsätzlich ein anderes, weil die Zweitsprachlerner auf ihre Erstsprache zugreifen können; zweitens schaffen die bei ihnen weiter entwickelten kognitiven Fähigkeiten mehr Möglichkeiten beim Lernen, Speichern und Verarbeiten von Sprache (vgl. Meisel, 2007a: 99). Die Tatsache, dass der Ausgangspunkt des Zweitspracherwerbs von dem des Erstspracherwerbs divergiert, muss notwendigerweise auch den Erwerbsverlauf beeinflussen, weil „ein gleiches Ziel von unterschiedlichen Startpunkten aus nicht auf gleichem Weg erreicht werden kann“ (Meisel, 2007a: 99). Die aufgelisteten Unterschiede können sicherlich auch dadurch erklärt werden, dass der Zugang zur Universalgrammatik beim Zweitspracherwerb nur teilweise oder gar nicht möglich ist (vgl. Kapitel 4.3.1). Die meisten dieser Variationen werden im Rahmen des generativen Ansatzes einleuchtend erklärt. Er ermöglicht es auch, präzise Hypothesen über den Zweitspracherwerb aufzustellen und zu verifizieren.3

      Im Mittelpunkt der generativen Zweitspracherwerbsforschung stand schon immer die Frage, wie das grammatische Wissenssystem einer Zweitsprache zu Beginn und im Verlauf des Erwerbs beschrieben und erklärt werden kann (vgl. z. B. Rothman & Slabakova, 2018: 419). Dabei wird, genauso wie im Falle des Erstspracherwerbs, auf die Universalgrammatik zurückgegriffen. Daraus resultiert die Kontroverse um den Anfangszustand des Zweitspracherwerbs, also die Frage, inwieweit das universalgrammatische Wissen die Entwicklung der Zweitsprache steuert. Zahlreiche Studien zeigen, dass L2-Grammatiken tatsächlich von der Universalgrammatik beeinflusst werden können:

      „Die L2-Grammatiken weisen Eigenschaften auf, die nicht dem L2-Input, der Erstsprache der Lerner, dem Lehrverfahren, dem expliziten Lernen oder allgemeinen kognitiven Fähigkeiten entstammen können und für die nur eine Erklärung innerhalb der UG vorgelegt worden ist.“ (Sopata, 2009: 89)

      Betroffen sind aber nicht zufällige Aspekte der Zweitsprache, sondern Parameter, die dank dem Input fixiert werden. Dies hat zur Folge, dass die Variabilität der L2-Grammatiken eingeschränkt ist. Im Rahmen des generativen Ansatzes wird ferner untersucht, auf welche Art und Weise die universalen Prinzipien die Entwicklung der Zweitsprache beeinflussen und inwieweit (wenn überhaupt) sich die Struktur der Erstsprache auf die L2-Grammatik auswirkt, wobei hauptsächlich funktionale Kategorien anvisiert werden. Während sich die meisten Forscher darüber einig sind, dass die Zweitsprachlerner die universalen Prinzipien zur Verfügung haben, vertreten sie jedoch unterschiedliche Meinungen bezüglich des Erwerbs von Merkmalen der funktionalen Kategorien (vgl. Sopata, 2009: 90). Dies ist insofern wichtig, als verschiedene Merkmale der funktionalen Kategorien unterschiedliche Phänomene in den einzelnen Sprachen, z. B. unterschiedliche Wortstellungsregularitäten, nach sich ziehen.

      Die Hypothesen zum Anfangszustand des Zweitspracherwerbs differieren in Abhängigkeit davon, wie sie den Einfluss der Erstsprache und den Zugang zur Universalgrammatik auffassen:

      „One source is the native grammar, and how much of it constitutes the initial hypothesis for the L2 grammar. Full transfer, partial transfer, and no transfer were all proposed. The other possible source of knowledge, relevant for later stages of acquisition beyond the initial state, was access to UG, based on the L2 linguistic experience. Thus, full access, partial access, and no access to UG were discussed.“ (Slabakova, 2016: 2016)

      Ein voller Zugang zur Erstsprache und zur Universalgrammatik wird in der vielzitierten Full Transfer/Full Access Hypothesis von Schwartz und Sprouse (1994, 1996) angenommen. Der Initialzustand des Zweitspracherwerbs wird hiernach durch die volle L1-Grammatik mit allen L1-Parameterwerten konstituiert, die sozusagen kopiert werden, ohne das Original zu modifizieren. Die mentale Repräsentation der Lernersprache beinhaltet von Anfang an funktionale Kategorien und ihre Merkmale. Der Transfer betrifft die zugrunde liegenden Strukturen und Parameterwerte der Erstsprache, weshalb sich die frühen Stadien des Zweitspracherwerbs nicht unbedingt an der Oberfläche der Erstsprache orientieren müssen. Wenn die übernommenen L1-Repräsentationen mit dem L2-Input nicht kompatibel sind, wird auf die UG-Optionen zurückgegriffen, die in der Erstsprache nicht vorhanden sind. Die Interimssprache4 ist somit stets durch die Universalgrammatik restringiert, was aber nicht bedeutet, dass sie sich in späteren Phasen zur vollen Grammatik der Zielsprache entwickeln muss. Die der Zweitsprache nicht entsprechenden Grammatiken sind insbesondere dann zu erwarten, wenn die Eigenschaften der Erstsprache zu einer Inputanalyse führen, die von der Inputanalyse der L2-Muttersprachler abweicht (vgl. auch White, 2003: 68). Das Erreichen der zielsprachlichen L2-Grammatik ist dieser Hypothese zufolge „possible but not inevitable“ (White, 2003: 94).

      Die Full Transfer/Full Access Hypothesis von Schwartz und Sprouse (1994, 1996) wird von Westergaard et al. (2019) einer Kritik unterzogen und durch das Full Transfer Potential ersetzt. Nach diesem Konzept bildet die Erstsprache zwar den Initialzustand des Zweitspracherwerbs, jedoch nur in dem Sinne, dass sie immer aktiv bleibt; sie wird nicht als Ganzes übernommen bzw. kopiert. Potenziell können alle L1-Eigenschaften transferiert werden, dies darf aber nur schrittweise geschehen (property-by-property transfer). Wenn der Lerner dem L2-Input ausgesetzt wird, versucht