Kamil Dlugosz

Der Altersfaktor beim fortgeschrittenen Zweitspracherwerb


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sukzessive Zweitspracherwerb wird weiter je nach Alter bei Erwerbsbeginn eingeteilt, wobei die genauen Altersgrenzen fortwährend Gegenstand heftiger Kontroversen sind (vgl. Kapitel 4.3). Zuerst sollte das Alter von drei Jahren als Grenze zwischen dem bilingualen Erstspracherwerb und dem kindlichen Zweitspracherwerb beachtet werden:

      „Wenn der Beginn des Erwerbs einer zweiten Sprache im vierten Lebensjahr oder später liegt, ist der Spracherwerb nicht mehr simultan, sondern es handelt sich um kindlichen Zweitspracherwerb (…). Der kindliche Zweitspracherwerb erfolgt ungesteuert, auch wenn heute im KiTa-Alltag häufig Sprachförderung allgemeiner Art und zum Teil auch gezielt stattfindet. Der kindliche Zweitspracherwerb unterscheidet sich vom erwachsenen Zweitspracherwerb auf den ersten Blick dadurch, dass Kinder in den meisten Fällen weit erfolgreicher sind als Erwachsene. Das liegt vor allem darin begründet, dass die Spracherwerbsfähigkeit, die den Erst- und den doppelten Erstspracherwerb ermöglicht und steuert, nicht mit einem Schlag verschwindet. Erwachsenen steht diese Fähigkeit nicht mehr zur Verfügung, aber Kinder können sie nutzen. Wie lange diese Fähigkeit erhalten bleibt, wird kontrovers diskutiert.“ (Rothweiler, 2007: 122)

      Der kindliche Zweitspracherwerb kann demgemäß zwischen dem (bilingualen) Erstspracherwerb und dem Zweitspracherwerb von Erwachsenen positioniert werden, weil er sich allmählich von dem Ersteren entfernt und gleichzeitig dem Letzteren nähert. Dass das dritte Lebensjahr das Ende einer sensiblen Phase sein kann, bestätigen u. a. Untersuchungen zum Erwerb der deutschen Verbstellung (vgl. Kapitel 4.2.3). Man darf aber nicht außer Acht lassen, dass es keine einzige kritische Periode gibt, sondern vielmehr ein Bündel von sensiblen Phasen, die verschiedene Aspekte der L2-Grammatik selektiv betreffen (vgl. Kapitel 4.3). Dies ist insofern wichtig, als die Selektivität der Alterseffekte das Auseinanderhalten der einzelnen Erwerbstypen erschwert und gleichzeitig auch impliziert, dass solch ein Auseinanderhalten unmöglich oder sogar unnötig ist.

      Einige Forscher orientieren sich auch daran, ob der Zweitspracherwerb früh oder spät erfolgt. Schulz und Grimm (2012: 164) argumentieren, dass der Erwerb der zweiten Sprache im Alter von zwei bis drei Jahren als früher Zweitspracherwerb klassifiziert werden sollte; bei einem Erwerbsbeginn mit sechs Jahren oder später wird dagegen vom späten kindlichen Zweitspracherwerb gesprochen. Laut Hufeisen und Riemer (2010: 738) kann dann vom frühen Zweitspracherwerb die Rede sein, wenn die Zweitsprache im Alter von ungefähr vier bis sechs Jahren hinzukommt. Vom kindlichen Zweitspracherwerb ist darüber hinaus der Zweitspracherwerb Erwachsener abzugrenzen, dessen Anfang nach Meisel (2008: 59) für das achte und nach Ruberg (2013a: 182) für das elfte Lebensjahr anzusetzen ist.2 Vor diesem Hintergrund wird für die Zwecke der vorliegenden Arbeit von folgenden drei Erwerbstypen ausgegangen, die zunächst einen heuristischen Wert haben:

Simultaner Erstspracherwerb (simultan bilinguale Kinder) AbE ≤ 3
Kindlicher Zweitspracherwerb (sukzessiv bilinguale Kinder) AbE ≥ 4
Zweitspracherwerb Erwachsener AbE > 11

      In diesem Rahmen sind nur diejenigen Alterseffekte relevant, die sich im Bereich des Zweitspracherwerbs der Wortstellung auswirken. Daher werden an dieser Stelle andere Studien, die zur Bestimmung der Altersgrenzen beitragen, nicht weiter thematisiert. Stattdessen wird in den nachfolgenden Kapiteln auf den kindlichen Zweitspracherwerb detaillierter eingegangen, indem seine relevantesten Aspekte näher beleuchtet werden.

      2.3 Einflussfaktoren auf den kindlichen Zweitspracherwerb

      Außer dem Alter zu Erwerbsbeginn, das als Schlüsselvariable bei der Unterscheidung zwischen den einzelnen Spracherwerbstypen gilt, gibt es eine Reihe von Faktoren, die den Anfangszustand und Verlauf des Zweitspracherwerbs unterschiedlich stark determinieren. Da die Verhältnisse, in denen eine Zweitsprache erworben wird, normalerweise viel komplexer sind als beim Erstspracherwerb, ist es nie ein einzelner Faktor allein, sondern immer ein Zusammenspiel verschiedener Variablen, die sich auf die Entwicklung der Zweitsprache auswirken. Im Folgenden werden nur diejenigen Einflussfaktoren thematisiert, die im Kontext des kindlichen Zweitspracherwerbs relevant erscheinen.1

      In der Fachliteratur hat sich mittlerweile die Differenzierung zwischen internen und externen Faktoren etabliert. Erstere beziehen sich auf die Eigenschaften des Lerners selbst, wohingegen Letztere von der Umgebung bestimmt und vom Lerner unabhängig sind (vgl. z. B. Ellis, 1985: 276; J. Paradis, 2011: 213). Sie umfassen folgende Faktoren:2

      „Internal factors include age of onset, knowledge of another language, cognitive maturity and language learning aptitude. External factors include socio-economic status (SES), maternal education and L2 proficiency, number of siblings, length of exposure, input quantity and quality as well as language use or output.“ (Unsworth et al., 2011: 207)

      Rothweiler und Ruberg (2011: 11) stellen fest, dass beim sukzessiven bilingualen Erwerb die kognitive, physiologische und anatomische Entwicklung nicht an erster Stelle stehen. Den Autoren zufolge ist – außer dem Erwerbsalter – die Dauer des Kontakts mit der Zweitsprache (length of exposure LoE, length of residence LoR), also der Erwerbszeitraum, eine wesentliche Einflussvariable für den erreichten Sprachentwicklungszustand. Insbesondere in Hinblick auf den Erwerb der Satzstruktur im Deutschen verweisen Rothweiler und Ruberg (2011: 11) auf aktuelle Befunde, die zeigen, dass Kinder, die im Alter von bis zu vier Jahren in Kontakt mit der deutschen Sprache treten, die Satzstrukturen einschließlich Frage- und Nebensätzen innerhalb von acht bis 18 Monaten erwerben (vgl. Rothweiler, 2006; Thoma & Tracy, 2006). Die Rolle der Kontaktdauer mit der Zweitsprache wird u. a. von Hopp (2011) hervorgehoben. Er untersucht die Entwicklung der Determinansphrase beim frühen Zweitspracherwerb des Deutschen bei Kindern mit verschiedenen Erstsprachen im Alter zwischen 3;5 und 7;0 Jahren. Ihr Kontakt mit der Zweitsprache setzte im Alter zwischen 1;2 und 5;0 ein und dauerte zwischen 0;5 und 5;4 Jahren. Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass nicht das Erwerbsalter, sondern vielmehr die Kontaktdauer einen signifikanten Einfluss auf den untersuchten Bereich hat.

      Eine weitere Bestätigung für Auswirkungen der Kontaktdauer auf den kindlichen Zweitspracherwerb liefert eine Studie von Armon-Lotem et al. (2011). Anhand von Satzwiederholungs- und Satzergänzungsaufgaben untersuchen sie die Entwicklung der komplexen Syntax und Morphologie bei 65 russisch-deutsch bilingualen Kindern im Alter zwischen 3;11 und 7;2 Jahren. Das Alter der Kinder bei Erwerbsbeginn betrug zwischen 1;0 und 3;10, die Kontaktdauer zwischen 1;1 und 5;5 Jahren. Die Kontaktdauer mit dem Deutschen erweist sich, im Gegensatz zum Erwerbsalter, als signifikanter Faktor sowohl beim Erwerb der Syntax (p < 0,05) als auch der Morphologie (p < 0,01). Die fehlenden Alterseffekte sind jedoch angesichts des Erwerbsalters der Kinder nicht verwunderlich. Die meisten von ihnen sind weniger als 30 Monate alt und befinden sich daher noch innerhalb der kritischen Phase (vgl. Meisel, 2007a).

      In diesem Zusammenhang ist auch auf die Studie von Unsworth (2016) zu verweisen, welche die Auswirkungen der Kontaktdauer und des Erwerbsalters auf die Entwicklung des V2-Phänomens bei englisch-niederländischen Kindern ins Visier nimmt. Das Erwerbsalter der Kinder lag entweder vor (M = 2;4) oder nach dem vierten Lebensjahr (M = 5;5). Die Gruppe mit niedrigerem Alter bei Erwerbsbeginn war im Durchschnitt 7;3 Jahre alt und hatte 5;0 Jahre Kontakt mit der Zweitsprache hinter sich. Das durchschnittliche Alter bei Erwerbsbeginn in der zweiten Gruppe lag bei 9;1 Jahren, und die durchschnittliche Kontaktdauer bei 3;7 Jahren. Unsworth (2016) kalkuliert zusätzlich den kumulativen Input in Jahren und den aktuellen Input in Prozent. Aufgrund zweier Aufgaben zur Sprachproduktion versucht die Autorin, die V2/V3-Stellung zu elizitieren. Es stellt sich heraus, dass beide Gruppen unabhängig vom Erwerbsalter die gleichen falschen V3-Strukturen sowohl mit finiten als auch mit infiniten Verben produzieren. Demgegenüber zeigen die Ergebnisse, dass der Input in der Zweitsprache der einzige Faktor ist, der die Fehler der Kinder erklären kann. Dabei handelt es sich jedoch nicht um die einfache Erwerbsdauer in Jahren, sondern um die aktuelle Inputsituation der Kinder: Je mehr Input in der Zweitsprache sie aktuell erhalten, desto weniger Fehler machen sie.3

      Zum Faktor Kontaktdauer ist anzumerken,