Kamil Dlugosz

Der Altersfaktor beim fortgeschrittenen Zweitspracherwerb


Скачать книгу

mit der Erstsprache vereinbar ist, kommt ein Transfer zustande. Anderenfalls muss der Lerner auf die Universalgrammatik zurückgreifen. Westergaard et al. (2019) argumentieren, dass die L2-Grammatik zu Beginn des Zweitspracherwerbs noch nicht vollständig ist, sondern aufgrund der Interaktion zwischen Input und Universalgrammatik wie auch aufgrund des L1-Transfers inkrementell aufgebaut wird. Obwohl sie keine expliziten Aussagen über den Endzustand treffen, kann man dem theoretischen Rahmen dieser Hypothese unterstellen, dass die Lerner die zielsprachliche Grammatik letztendlich erwerben.

      Zu den Hypothesen, die den Zugang sowohl zur Erstsprache als auch zur Universalgrammatik postulieren, gehört darüber hinaus die Minimal Trees Hypothesis von Vainikka und Young-Scholten (1994, 1996). Sie nimmt den vollen Zugang zur Universalgrammatik an, aber lässt nur den Transfer der lexikalischen Kategorien zu. Die funktionalen Kategorien sind dagegen in der frühen Erwerbsphase abwesend. Die Hypothese knüpft an die Strukturaufbauhypothese von Guilfoyle & Noonan (1992) an, die für den Erstspracherwerb entwickelt wurde. Wie Sopata (2009: 91) anmerkt, ist der Vorschlag von Vainikka und Young-Scholten (1994, 1996) mit dem Vorhandensein des L1-Wissens und der fortgeschrittenen kognitiven Entwicklung im Falle des Zweitspracherwerbs nicht zu vereinbaren.

      Die Full Transfer/Full Access Hypothesis (Schwartz & Sprouse, 1994, 1996) und Minimal Trees Hypothesis (Vainikka & Young-Scholten, 1994, 1996) haben es gemeinsam, dass sie vom Transfer der Wortstellung der Erstsprache beim Zweitspracherwerb ausgehen. Demnach sollten polnische Lerner des Deutschen anfangs die zielsprachliche rechtsköpfige VP durch die linksköpfige VP ersetzen und infolgedessen sowohl das finite als auch das infinite Verb vor das Objekt stellen. Die Anwendung der Eigenschaften der VP aus der Erstsprache auf den Erwerb der VP in der Zweitsprache wurde tatsächlich für andere Sprachkonstellationen bestätigt (vgl. Kapitel 4.2.3).

      Eine andere Charakteristik des Anfangszustands wird in der Valueless Features Hypothesis von Eubank (1993/1994, 1994, 1996) vorgebracht. Die Autorin argumentiert im Einklang mit den bereits referierten Hypothesen, dass die L1-Grammatik den Anfangszustand des Zweitspracherwerbs konstituiert. Allerdings geht sie von einem partiellen Transfer aus: Während die lexikalischen Projektionen vollständig übernommen werden, sind die funktionalen Kategorien nur teilweise vom Transfer betroffen. Merkmale der funktionalen Kategorien sind zu Beginn noch nicht spezifiziert, weil ihre parametrisierten Werte an die overte Morphologie gebunden sind. In Bezug auf den Erwerb der Wortstellung zeigt Eubank (1994) anhand der ZISA-Daten (vgl. Kapitel 4.2.2), dass die unspezifizierten Merkmale der funktionalen Kategorien u.a. darin resultieren können, dass die Lernersprachen zugleich eine Grammatik mit und ohne V2-Eigenschaft permittieren. Nach dieser Hypothese konvergiert die Interimsgrammatik schließlich mit der zielsprachlichen L2-Grammatik.

      All die dargestellten Hypothesen betreffen vor allem den Anfangszustand des Zweitspracherwerbs.5 Im Rahmen des generativen Ansatzes wird aber auch untersucht, wie sich die Interimsgrammatik in fortgeschrittenen Zweitspracherwerbsstadien entwickelt. Diesbezüglich unterscheidet White (2003: 102) folgende vier Betrachtungsweisen:

      „(…) (i) global impairment, implying no parameters at all; (ii) local impairment, or breakdown in the case of some parameters; (iii) no parameter resetting, according to which only L1 settings are available; (iv) parameter resetting, which assumes the possibility of acquiring parameter settings distinct from those found in the L1. Under the first two views, interlanguage grammars fail to conform to properties of natural language. Under the two latter perspectives, interlanguage grammars are natural-language systems in which parameters are instantiated.“ (White, 2003: 102)

      Die erste Betrachtungsweise, also die globale Beeinträchtigung, beinhaltet, dass die Interimsgrammatiken der Zweitsprachlerner durch die Universalgrammatik nicht eingeschränkt sind. Dabei handelt es sich aber nicht um die UG-Prinzipien, sondern um die Parameter, die beim Zweitspracherwerb keine Rolle spielen (vgl. z. B. Clahsen & Hong, 1995). Als Beweis dafür wird vor allem der Befund gedeutet, dass syntaktische und morphologische Phänomene in der Zweitsprache separat erworben werden. Als Vergleichsmaßstab wird der Erstspracherwerb herangezogen, bei dem ein Zusammenhang zwischen Syntax und Morphologie zu beobachten ist (clustering of properties) (vgl. Kapitel 4.2.1). Beim Erwerb von Eigenschaften der Zielsprache, die in der Erstsprache abwesend sind, muss der Lerner auf generelle Lern- und Problemlösungsstrategien ausweichen. Die lokale Beeinträchtigung (Beck, 1998) impliziert ein permanentes Defizit in der L2-Grammatik, das die Stärke der Werte von Merkmalen der funktionalen Kategorien betrifft. Die Werte der Merkmale können nicht spezifiziert werden, was zu einer permanenten Optionalität in der L2-Grammatik führt. Die lokale Beeinträchtigung basiert auf der Erkenntnis, dass solche Phänomene wie Verbanhebung auch bei fortgeschrittenen Zweitsprachlernern optional sind.

      Im Kontrast dazu stehen die zwei letzten von White (2003: 102) genannten Positionen, die jegliche Beeinträchtigung des grammatischen Moduls ausschließen und die L2-Grammatiken im Rahmen der Parametersetzung charakterisieren. Die No Parameter Resetting Hypothesis nimmt an, dass das Umsetzen der im Erstspracherwerb bereits festgelegten Parameter unmöglich ist (vgl. z. B. Sopata, 2004). Der Erwerb neuer Parameterwerte ist nicht vorgesehen, weil nur die in der Erstsprache schon fixierten Parameter zugänglich sind. Situationen, in denen die Erst- und Zweitsprache unterschiedliche Parameterwerte aufweisen, verhindern den erfolgreichen Erwerb des betroffenen Phänomens.6 Anhänger der letzten Hypothese vertreten demgegenüber die Ansicht, dass die Lerner durchaus in der Lage sind, die funktionalen Kategorien sowie ihre Merkmale erfolgreich zu erwerben. Dies impliziert, dass die L1-Parameter umfixiert werden können:

      „(…) interlanguage grammars are not limited to the parameter settings realized in the L1 grammar. Rather, functional categories, features and feature values absent from the L1 grammar are instantiated in the interlanguage representation.“ (White, 2003: 127)

      Die Frage, ob die Lerner letztendlich die zielsprachliche L2-Grammatik erreichen können, wird nur im Rahmen dieser Hypothese bejahend beantwortet.

      Dieser Überblick über die generativen Ansätze zum Anfangszustand, zum Verlauf und zum Endzustand des Zweitspracherwerbs ist keinesfalls vollständig.7 Ziel war lediglich, diejenigen Hypothesen zu erhellen, die im Kontext der Entwicklung der Satzstruktur in der Zweitsprache relevant zu sein scheinen. Der Erwerb der Wortstellung im Deutschen als Zweitsprache, der im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht, wird in Kapitel 4.2 separat vorgestellt.

      2.2 Bilinguale Erwerbsszenarien im frühen Alter

      Der Mensch kann sich prinzipiell jede natürliche Sprache aneignen. Aus biologischer bzw. genetischer Perspektive ist niemand auf eine bestimmte Sprache vorprogrammiert (vgl. z. B. Pfeiffer, 2003: 265). Ganz im Gegenteil: Jeder verfügt über eine genetische Anlage zum Erwerb mehrerer Sprachen (vgl. Meisel, 2007a: 93). Als Oberbegriff für verschiedene Szenarien des mehrsprachigen Erwerbs wird im Allgemeinen der Begriff bilingualer Spracherwerb verwendet (vgl. Rothweiler, 2007: 106).1 Der Weg zur Zweisprachigkeit im frühen Alter kann aber unterschiedliche Formen annehmen. Daher werden in der Fachliteratur einzelne Spracherwerbstypen spezifiziert, die sich zunächst einmal auf die zeitliche Abfolge von erworbenen Sprachen beziehen.

      2.2.1 Bilingualer Erstspracherwerb

      Ein Spezialfall der individuellen Zweisprachigkeit ist der bilinguale Erstspracherwerb, der auch als doppelter Erstspracherwerb oder simultaner Erwerb zweier (oder mehrerer) Sprachen bezeichnet wird (vgl. Tracy & Gawlitzek-Maiwald, 2000: 502f.). In der einschlägigen Literatur hat sich dafür auch das Kürzel 2L1 (= zwei Erstsprachen) oder BFLA (= bilingual first language acquisition) etabliert. Dieser Erwerbstyp bezieht sich auf die Situation, in der ein Kind zwei Sprachen von klein auf gleichzeitig erwirbt. Dies geht prinzipiell entweder durch die Verteilung des Inputs zwischen den Elternteilen, also nach dem Prinzip Eine Person – eine Sprache, oder zwischen dem Zuhause (Familiensprache) und der Umgebung (Umgebungssprache), vonstatten. Allerdings stellt sich dabei die problematische Frage, wann genau der Erwerb der zweiten Sprache einsetzen soll, damit man vom bilingualen Erstspracherwerb sprechen darf. Laut manchen Forschern (vgl. z. B. De Houwer, 2009) ist unabdingbare Voraussetzung dafür die strikte Gleichzeitigkeit, d. h. der Kontakt mit beiden Sprachen von Geburt an. Andere sind indessen