Kamil Dlugosz

Der Altersfaktor beim fortgeschrittenen Zweitspracherwerb


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      Nach Ansicht vieler haben bilinguale Kinder, die von Anfang an mit zwei Sprachen aufwachsen, eine schwierige Aufgabe zu meistern. Sie seien nicht nur sprachlich, sondern auch kognitiv, emotional oder sogar moralisch verwirrt.1 Viele Eltern machen sich auch Sorgen darüber, dass ihre Kinder die Sprachen mischen und sie nicht auf dem gleichen Niveau beherrschen.2 Aus diesem Grund ging man in der Mehrsprachigkeitsforschung lange davon aus, dass bilinguale Kinder zuerst über ein gemeinsames System für beide Sprachen verfügen, das sich erst sukzessive ausdifferenziert. In diesem Zusammenhang sind vor allem ältere Arbeiten anzuführen, wie etwa die Studien von Leopold (1949, 1978) oder auch Volterra und Taeschner (1978), die noch heute gerne zitiert werden. Leopold (1949, 1978) geht der Grammatikentwicklung seiner Tochter in den ersten beiden Lebensjahren auf den Grund und stellt dabei fest, dass sie ein fusioniertes System aufgebaut hatte, in dem Elemente beider Sprachen anzutreffen sind (vgl. Leopold, 1978: 23). Volterra und Taeschner (1978) nehmen anhand einer Analyse von Daten zweier italienisch-deutscher Kinder an, dass simultan bilinguale Kinder zunächst drei Phasen durchlaufen müssen, um schließlich zwei distinkte sprachliche Systeme herauszubilden. In der ersten Phase verfügen sie über ein gemeinsames Lexikon, das sich aus Lexemen beider Sprachen zusammensetzt. Als Evidenz hierfür werten sie das Fehlen von Wortäquivalenten. In der zweiten Phase sind zwar bereits zwei Lexika vorhanden, dennoch haben die Kinder nur eine Grammatik zur Verfügung, die sie auf beide Sprachen anwenden, was nach Volterra und Taeschner (1978) daran zu erkennen ist, dass die untersuchten Kinder nicht-zielsprachliche Wortstellungsmuster benutzen. Schließlich folgt eine völlige Trennung sowohl im Bereich der Lexik als auch der Grammatik, wobei jede Sprache nur mit einer Person assoziiert wird. Die vollständige Zweisprachigkeit beginnt demzufolge erst dann, wenn der personenbezogene Sprachgebrauch verschwindet.

      Müller et al. (2011: 108–118) stellen dieses Drei-Phasen-Modell infrage, indem sie die Anwendung der nicht-zielsprachlichen Wortstellung auf Spracheneinfluss zurückführen. Sie weisen darauf hin, dass Volterra und Taeschner (1978) anhand der gleichen Daten zuerst von einer hybriden Grammatik und in der dritten Phase von Interferenzen sprechen. Um ihnen vorzubeugen, empfehlen sie während der dritten Phase, das Prinzip Eine Person – eine Sprache einzuhalten, was auch eher zweifelhaft erscheint.3 Das Drei-Phasen-Modell wird auch von Meisel (1989: 15f.) einer Kritik unterzogen. Er beklagt die Außerachtlassung unabhängiger Variablen, wie z. B. des Alters und der mittleren Äußerungslänge (MLU). Er bemerkt zu Recht, dass Volterra und Taeschner (1978) die Existenz von Sprachmischungen in der ersten Phase als Argument für ein gemeinsames Lexikon vorbringen, aber gleichzeitig feststellen, dass Sprachmischungen auch nach Abschluss der zweiten Phase vorkommen können. Meisel (1989: 17) bemängelt weiterhin den Missbrauch der Sprachdaten in dem Sinne, dass die Phase der hybriden Grammatik anhand von Äußerungen nur eines Kindes spezifiziert wird. In der Untersuchung von Volterra und Taeschner (1978) wurde auch die Tatsache übersehen, dass die Sprachentwicklung eines Kindes unbalanciert war, was ebenso beachtet werden sollte.

      Anhänger der Ein-System-Hypothese betrachten das Auftreten von Sprachmischungen als Evidenz für ihre Thesen. Meisel (2003: 4) argumentiert unter Zugrundelegung der Unterscheidung zwischen Kompetenz und Performanz, warum Sprachmischungen nicht als Beweis für die vermutete Fusion zweier Sprachen zugelassen werden dürfen. Sie stellen dem Autor zufolge eine wichtige sozial-funktionale und kommunikative Strategie dar, die im Sprachgebrauch von bilingualen Kindern und Erwachsenen oft zur Anwendung kommt. Diesbezüglich besteht die Notwendigkeit, zwischen language separation und language differentiation zu unterscheiden. Der erste Begriff bezieht sich auf die Fähigkeit, mit zwei Sprachen in verschiedenen Interaktionen dem Kontext angemessen zu hantieren, also auf den soziolinguistischen Aspekt, der mit der Performanz zusammenhängt. Der zweite hingegen ist psycholinguistisch zu deuten und beschreibt die Independenz zweier Systeme auf kognitiver Ebene, d.h. im Zusammenhang mit der Kompetenz (vgl. auch Cantone, 2007: 15).

      Es gilt heute als gesichert, dass der bilinguale Erstspracherwerb bezüglich der grammatischen Entwicklung dem monolingualen Erwerb gleichkommt. Zweisprachige Kinder entwickeln von früh an zwei separate grammatische Wissenssysteme und durchlaufen dieselben Erwerbsstadien wie monolinguale Kinder. Infolgedessen werden zwei vollständige und gleichwertige Grammatiken erworben, die der monolingualen Kompetenz an Qualität in Nichts nachstehen (vgl. z. B. Rothweiler, 2007: 115; Wode, 1993: 243).4 Die verfügbare Evidenz spricht nicht nur für die distinkte Entwicklung einzelsprachlicher grammatischer Phänomene, sondern auch für einen frühen kontextbezogenen Einsatz von Sprachen. Bilinguale Kinder sind schon im Alter von weniger als zwei Jahren imstande, ihre Sprachen personenbezogen zu verwenden und ihre Sprachwahl demgemäß zu korrigieren (vgl. z. B. Genesee, 1989; Tracy & Gawlitzek-Maiwald, 2000: 513). Ferner lässt sich beim simultanen Erstspracherwerb, zumindest innerhalb der ersten sechs Jahre, kein systematischer zwischensprachlicher Einfluss nachweisen (vgl. De Houwer, 2018: 131).

      Viele simultan bilinguale Kinder weisen jedoch eine unbalancierte Zweisprachigkeit auf, bei der eine der Sprachen als schwächere oder nicht-dominante Sprache bezeichnet wird. Als Grund dafür sind vor allem Asymmetrien im Input anzunehmen (vgl. z. B. Unsworth, 2016: 173; Yip, 2016: 122). Grosjean (1982) stellt diesbezüglich zu Recht fest: „The main reason for dominance in one language is that the child has had greater exposure to it and needs it more to communicate with people in the immediate environment“ (Grosjean, 1982: 189).5 In der Fachliteratur wird diskutiert, inwieweit der Erwerb zweier Sprachen unausgeglichen sein muss, um tatsächlich von einer schwächeren Sprache sprechen zu können. Zur Bestimmung der Sprachdominanz wurden viele qualitative und quantitative Kriterien vorgeschlagen. Dazu gehören in erster Linie der MLU-Wert in Morphemen, Silben oder Wörtern, aber auch der Erwerb funktionaler Kategorien, der Größe des Lexikons oder die Mischrichtung (vgl. Müller et al., 2011: 75f.).

      Die meisten Forscher nehmen an, dass die Entwicklung der schwächeren Sprache zwar verzögert ist, aber immer noch dem monolingualen Spracherwerb gleicht. So gesehen sind die Unterschiede zwischen der schwächeren und der stärkeren Sprache nicht qualitativer, sondern lediglich quantitativer Natur (vgl. Meisel, 2007b; Cantone et al., 2008; Bonnesen, 2009). In einer Studie zeigen Sopata und Długosz (2020), dass der Erwerb der Wortstellung im Deutschen als schwächerer Sprache in der Tat wie beim Erstspracherwerb, lediglich langsamer verläuft. Zeitverzögert werden allerdings nur die Inversion und die Verbalklammer erworben, nicht die Negationsstellung. Andere Forscher vermuten dagegen Gemeinsamkeiten zwischen der Entwicklung der schwächeren Sprache und dem Zweitspracherwerb. Pfaff (1994) untersucht z. B. den Erwerb der Nominal- und Verbalmophologie durch unbalancierte deutsch-türkische Kinder und stellt darin fest: „[Children] have little enough effective contact with German so that their patterns of language acquisition of German are more like L2 than like L1 learners“ (Pfaff, 1994: 94).6

      2.2.2 Kindlicher Zweitspracherwerb

      Wenn ein Kind mit einer zweiten Sprache konfrontiert wird, nachdem es die Grundzüge seiner ersten Sprache erworben hat, spricht man vom sukzessiven Zweitspracherwerb, der zumeist den ungesteuerten Zweitspracherwerb signalisiert (vgl. Rothweiler, 2007: 106).

      Zweitspracherwerb kann aber auch im gesteuerten Kontext vonstattengehen. Die Dichotomie natürlich/gesteuert ist irreführend, weil sie zwei klar abgrenzbare Erwerbstypen nahelegt. Beide Erwerbsprozesse basieren jedoch auf den kognitiven Fähigkeiten des Menschen und haben als natürlich zu gelten. Der Lernkontext hat einen großen Einfluss auf den kindlichen Zweitspracherwerb:

      „Der schulische Lernkontext scheint nicht oder unzureichend zur Entfaltung der für den natürlichen kindlichen Zweitspracherwerb charakteristischen Merkmale beizutragen, wie beispielsweise große Schnelligkeit der aufeinander folgenden Phasen des Spracherwerbs und geringe Anzahl der zielsprachlichen Abweichungen in der Lernersprache.“ (Sopata, 2009: 428)

      Wenn auch der natürliche Zweitspracherwerb von Kindern durch einen formalen Unterricht in der Schule begleitet wird, handelt es sich dabei immer noch um einen natürlichen Input. Da die vorliegende Arbeit nur den natürlichen Zweitspracherwerb anvisiert, wird hier der gesteuerte Zweitspracherwerb nicht weiter thematisiert.1

      Die Bezeichnung sukzessiv ist aber nicht einzig dem Zweitspracherwerb von Kindern vorbehalten, sondern bezieht sich auf jede Situation, wenn die Zweitsprache später als die Erstsprache