Kamil Dlugosz

Der Altersfaktor beim fortgeschrittenen Zweitspracherwerb


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der Kindersprache nicht auf strukturellen Transfer, sondern auf spezifische Verarbeitungsmechanismen im bilingualen Sprachgebrauch zurückführt, wenn eine Sprache bei der Aktivierung der anderen nur teilweise ausgeschaltet wird: „One language is activated whereas the other is inhibited. However, inhibition is never complete [KD]“ (Hulk, 2000: 75). Demzufolge kann die unvollständige Ausschaltung einer der Sprachen sogar zu Fehlern in der Sprachproduktion und -rezeption (z. B. in Grammatikalitätsurteilen) führen, die wohlgemerkt nicht die Kompetenz der Kinder widerspiegeln, sondern lediglich als Resultat der Koaktivierung zweier Sprachen während der Sprachverarbeitung (in Echtzeit) gelten dürfen (vgl. auch Meisel, 2010: 110).

      Außerdem sollte darauf hingewiesen werden, dass diese ungewöhnlichen Strukturen bzw. Fehler auch von Asymmetrien zwischen Produktion und Rezeption herrühren können. Schulz (2007: 73) betont in diesem Zusammenhang, dass Kinder komplexe syntaktische Strukturen produzieren können, bevor sie diese Strukturen korrekt zu interpretieren vermögen. Somit können bilinguale Kinder in ein und demselben Sprachbereich je nach Aufgabe unterschiedliche Ergebnisse erzielen (vgl. auch Grüter, 2018: 201–207).

      Der Spracheneinfluss kann sich auch in subtilerer Weise manifestieren, z. B. durch quantitative Veränderungen in einer der Sprachen. Dies betrifft Situationen, in denen eine Struktur oder Eigenschaft in beiden Sprachen vorhanden ist (was die Möglichkeit der Transfers ausschließt) und in einer der Sprachen häufiger oder auch seltener zum Vorschein kommt. Yip und Matthews (2007) zeigen beispielsweise, dass englisch-kantonesisch bilinguale Kinder infolge der Beeinflussung des Kantonesischen Nullobjekte im Englischen viel öfter benutzen als monolinguale englische Kinder. Ein noch feinstrukturierteres Beispiel für den Spracheneinfluss im Bereich der Nullelemente kann der Fall sein, wenn Mechanismen der Referenzfestlegung von Nullargumenten von einer Sprache auf eine andere angewendet werden (vgl. z. B. Sopata, 2019a).

      Insgesamt zeigt sich, dass der Spracheneinfluss nicht nur den Erwerbsprozess, sondern auch die Sprachverarbeitung von bilingualen Kindern betreffen kann. Beim Ersteren handelt es sich im Prinzip um drei Phänomene, d. h. Transfer, Beschleunigung und Verlangsamung, wohingegen mit dem Letzteren Interaktionen zwischen zwei sprachlichen Systemen beim Sprechen und beim Sprachverstehen gemeint sind, die mit spezifischen Sprachverarbeitungsmechanismen im bilingualen Sprachgebrauch in Verbindung zu bringen sind.

      2.5 Fazit

      Der in diesem Kapitel vorgenommene Versuch, die wichtigsten Aspekte der kindlichen Zweisprachigkeit aus spracherwerbstheoretischer Sicht darzustellen, zeigt, dass der kindliche Zweitspracherwerb ein enorm komplexer Prozess ist, der trotz intensiver Forschungstätigkeit immer noch wenig untersucht ist. Die Auseinandersetzung mit dem generativen Ansatz hat demonstriert, dass die Spracherwerbshypothesen, die in seinem Rahmen entwickelt wurden, eine herausragende Erklärungskraft für den Grammatikerwerb besitzen. Infolgedessen wird in der vorliegenden Arbeit von der Syntaxautonomie innerhalb der modular aufgebauten Sprachfähigkeit sowie von der Existenz der Universalgrammatik, die bei der Entwicklung der Zweitsprache nicht uneingeschränkt zugänglich ist, ausgegangen. Daher wird auch angenommen, dass der Erstspracherwerb und der Zweitspracherwerb Erwachsener zwei fundamental verschiedene Prozesse sind, die zu einem qualitativ anderen grammatischen Wissen führen. Es wurde ferner dafür argumentiert, dass das Alter bei Erwerbsbeginn der entscheidende Faktor beim Zweitspracherwerb der deutschen Sprachstruktur ist, zumindest in der frühen Phase des Erwerbsprozesses. Welche Faktoren die fortgeschrittenen Erwerbsphasen determinieren, ist jedoch noch eine offene Frage, die im weiteren Verlauf der Arbeit beantwortet werden soll.

      3 Wortstellung im Deutschen und im Polnischen

      Ziel des vorliegenden Kapitels ist es, einen linguistisch definierten Beschreibungsapparat in gebotener Kürze darzustellen, um die Erwerbsaufgabe der untersuchten Kinder nachvollziehbar zu machen. Angesichts einer beträchtlichen Menge von in der Fachliteratur zur Verfügung stehenden Beschreibungen des deutschen Satzes (vgl. z. B. DUDEN-Grammatik, 2009; Dürscheid, 2012; Pittner & Berman, 2013; Wöllstein, 2014) erhebt die folgende Darstellung der Wortstellung keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr sollen allein diejenigen Phänomene beschrieben werden, deren Erwerb in der vorliegenden Arbeit untersucht wird, d. h. die Inversion im Deklarativsatz (XVS), die Verbalklammer, die Verbendstellung im Nebensatz und die Stellung der Negation in Relation zum Verb im Deklarativsatz. Zugrunde gelegt werden hier sowohl das topologische Modell (auch: Stellungsfeldermodell), das die Eigenschaften der deutschen Satzstruktur übersichtlich beschreibt als auch die generative Grammatik, die über die rein linguistischen Beschreibungen hinausgeht und die Erwerbsaufgabe aus kognitiver Sicht erklärt. Im Anschluss an die Auseinandersetzung mit den untersuchten Wortstellungsphänomenen im Deutschen wird auch die Wortstellung im Polnischen im Rahmen einer komparativen Besprechung näher beleuchtet.

      3.1 Allgemeines zur Wortstellung im Deutschen

      Die Wortstellung im Deutschen gilt einerseits als relativ frei, was auf die variable Anordnung von Elementen im Mittelfeld zurückzuführen ist, andererseits aber wird sie im Einzelfall durch das Ineinandergreifen von syntaktischen, pragmatischen, kognitiv-semantischen sowie prosodischen Faktoren determiniert (vgl. Speyer, 2011: 14).1 Zur Beschreibung der Wortstellung innerhalb des Satzes bietet sich zunächst das topologische Feldermodell an, das zuerst von Drach (1937) entworfen und später von anderen Sprachwissenschaftlern (vgl. z. B. Zifonun et al., 1997) weiterentwickelt bzw. modifiziert wurde.2 Ausgangspunkt hierfür ist die Beobachtung, dass die Teile des Verbalkomplexes in der deutschen Sprache als diskontinuierliche Konstituenten vorkommen und damit die restlichen Konstituenten einklammern. Als Folge dessen entsteht eine Satzklammer und der Satz wird in drei Felder gegliedert: Vorfeld, Mittelfeld und Nachfeld. Diese werden durch die Grenzmarker, d. h. die linke und die rechte Satzklammer, voneinander abgegrenzt (vgl. Pittner & Berman, 2013: 79):

Vorfeld Linke Klammer Mittelfeld Rechte Klammer Nachfeld
Sie hat ihn schon einmal gesehen irgendwo.

      Tab. 1:

      Das Stellungsfeldermodell des deutschen Satzes nach Pittner und Berman (2013: 79).

      In der linken Klammer befindet sich der finite Teil, in der rechten Klammer der nicht-finite Teil des Verbalkomplexes. Die Form des finiten Verbs verändert sich im Deutschen in Abhängigkeit von den vier Kategorien Person, Numerus, Tempus und Modus. Das regelmäßige Flexionsparadigma für (thematische) Verben im Präsens kann folgendermaßen dargestellt werden:

Infinitiv machen
1. Singular mach(e)
2. Singular machst
3. Singular macht
1. Plural machen
2. Plural macht
3. Plural machen

      Aus erwerbstheoretischer Sicht sind insbesondere die Kategorien Person und Numerus von Belang, denn der Erwerb der Subjekt-Verb-Kongruenz (SVK) bei monolingualen Kindern geht mit dem Erwerb syntaktischer Phänomene einher (vgl. z. B. Clahsen, 1982).3 Die Form des nicht-finiten Teils des Verbalkomplexes (des Infinitivs oder des Partizips) in der rechten Klammer bleibt unverändert. Die Besetzung der restlichen