verschluckte sich dabei an seiner eigenen Spucke. Etwas war mit seinem Hals nicht in Ordnung. Der Schmerz in seinem Körper wurde unerträglich. Die Stille auch und das Tropfen in ihr. Vom Schleim musste er husten, doch das Husten durchbohrte ihn wie ein Dolch. Er schrie und auch das brachte nur noch mehr Schmerz.
„Ich wäre vorsichtig“, warnte eine sanfte Stimme. „Du könntest ersticken. Oder verbluten, wenn du so weitermachst.“
„Wieso denn verbluten?“, wimmerte Benno, „bin ich denn verletzt?“
„So kann man es auch nennen“, wisperte die Stimme. „Aber ich würde es eher als versehrt bezeichnen.“
Auf einmal klang die Stimme ganz nah. Was sollte das heißen, versehrt? Er lauschte. Das Tropfen war jetzt schneller. Und noch während er darüber nachdachte, warum das so war, dämpfte gnädiger Schlafall seine Ängste und Empfindungen.
Der Fremde war noch einmal zurückgekommen. Er breitete eine Decke über Benno aus. Das Projekt durfte nicht gefährdet werden, sein Werk war noch nicht vollendet. Dazu brauchte er Benno. Und er brauchte Benno lebend.
Hetzers Traum
Eine Kugel schwebte über ihm. Sie war doppelt so groß wie er selbst. Er wusste nicht, woraus sie bestand. Sie glitzerte leicht. Das Licht brach sich in ihr, als ob sie aus Tausenden von Scherben zusammengesetzt war. Das hätte schön sein können, doch irgendwie wusste er, dass sie böse war.
Er wagte es nicht, sich zu bewegen, auch nicht, als die Ratte an seinem Hosenbein hochkletterte. Sie quiekte leise. Die Kugel surrte drohend. Sie schien auf Geräusche zu reagieren. Vielleicht auch auf Bewegungen. Die Ratte würde sie beide umbringen, dachte er, aber er konnte sie nicht abschütteln. Das hätte noch stärkere Schwingungen verursacht. Hetzer konnte nicht erkennen, wie die Kugel befestigt war. Sie schien einfach im Raum zu schweben. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er hatte gelernt, selbst in den schwierigsten Situationen Ruhe zu bewahren. Er konnte auch länger als andere Menschen auf einem Platz stehen, ohne sich zu bewegen. Aber er war nicht darauf vorbereitet worden, dass dabei auch noch eine Ratte an ihm hoch lief. Sie war jetzt schon bis zu seinem Hals gekrabbelt. Dort war er empfindlich.
„Es ist gar nicht so schlimm!“, flüsterte die Ratte leise in sein Ohr. „Ich habe auch keine mehr.“ Dabei lachte sie so schrill, dass die Kugel in tiefer Resonanz anfing zu brummen und sich zu vergrößern.
„Halt die Klappe!“, zischte Hetzer, immer ihr Glitzern im Blick. Sie vibrierte jetzt und drehte sich um sich selbst.
Die Ratte rückte näher.
„Du brauchst auch keine. Bleibst sowieso ein einsamer Wolf.“
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“
„Von allem und nichts.“
Die Kugel war in symmetrische Schwingung geraten. Ihre Ausdehnung wurde immer größer. Das Brummen war fast nicht mehr zu ertragen.
Da öffnete die Ratte das Maul und biss Hetzer mit aller Wucht ins Ohr. Sein Schrei entfesselte das Inferno über ihm. Die Kugel platzte.
„Ich bin nicht schuld, du hast geschrien“, lachte die Ratte in jedem Spiegelbild der Skalpelle, die sich aus der Kugel gelöst hatten und wie Moskitos auf ihn zuschwirrten.
Hetzer wachte schweißgebadet auf. Er lebte noch. Genüsslich rollte sich der Kater auf ihm zusammen und schnurrte. Sofort fühlte er sein Ohr. Aber da war alles in Ordnung. Was für ein merkwürdiger Traum, die Anspannung fühlte er immer noch.
Hatte er etwas zu bedeuten?
Hetzer gehörte nicht zu den Männern, die solche Gedanken einfach wegwischten. Er selbst hielt viel von Intuition und Dingen, die unter der Oberfläche verborgen waren. Manches hörte man, ohne es zunächst für wichtig zu halten, aber es war da. Im richtigen Moment drängte es sich vielleicht ins Bewusstsein und war genau das Puzzleteil, das einem gefehlt hatte.
Warum war die Ratte dagewesen?
Warum die Skalpelle? Und was hatte das widerliche Vieh gesagt? Sie hätte keine und er bräuchte auch keine?
Weil er einsam sei und es auch bleiben würde?
Was brauchte man denn nicht in der Einsamkeit? Ohren? Weil niemand mit einem sprach? Nein, das konnte nicht sein, die Ratte hatte mit ihm gesprochen und ihn gehört.
Er nahm sich vor, das Bild im Kopf zu behalten. Eine Erklärung konnte er jetzt nicht finden.
Mühsam stand er auf und ging hinunter in die Küche. Er fühlte sich wie zerschlagen und trotzdem unruhig. Seine Oma hatte immer eine Milch getrunken, wenn sie nachts nicht schlafen konnte. Er hatte das von ihr übernommen. Die Milch hinterließ ein wohliges Gefühl. Stundenlanges Grübeln brachte nichts. In der Gemütlichkeit des warmen Bettes kehrte der Schlaf rasch zurück.
Als er am Morgen die Brötchen hereinholte, trat er auf etwas Weiches. Im Halbdunkel konnte er nicht genau erkennen, was es war. Bestimmt hatte Gaga irgendein Spielzeug herumgeschleppt. Er bückte sich, und als er genauer hinsah, wich er vor Ekel zurück. Da lag eine tote Ratte auf seiner Fußmatte.
Susis Geheimnis
An dem Weihnachtsabend im Jahr 1971 hatte Susi begriffen, dass ihre Eltern eine ganz andere Vorstellung von dem hatten, womit sie ihre Zeit verbringen sollte. Mit Überwindung ging sie in den Folgejahren zu den Ballettstunden. Tapfer trug sie das Tütü, in dem sie sich einfach lächerlich vorkam. Aber sie wollte ihren Eltern gefallen. „Hanni und Nanni” hatte sie an die Seite gelegt und auf „Winnetou III” gespart. Die albernen Internats-Geschichten interessierten sie nicht.
Glücklicherweise waren Vater und Mutter tagsüber beschäftigt. Die eigene Praxis im Haus kostete viel Zeit. Für Susi war das gut und schlecht. Wenn sie die Ballettschuhe aufgehängt hatte, schnappte sie sich Pfeil und Bogen und lief nach draußen. Immer draußen. Sie war so gerne draußen in der Natur. Sprach mit dem Wind, kletterte auf die alten Kirsch- und Apfelbäume und baute Dämme im Bachlauf. Zu jener Zeit gab es viele Kinder in den Gärten. Es war immer jemand zum Spielen da. Wenn sie sich heute zurückerinnerte, hatte sie den Eindruck, die Sommer waren immer schön gewesen. Keine Regentage. Nur ein Gewitter ab und zu.
Die Eltern sahen, dass Susis Noten hervorragend waren. Für den Tanz hatte sie wenig Talent. Und obwohl Vater und Mutter das bald erkannt hatten, waren sie doch der Meinung, dass diese Art körperlicher Ertüchtigung wichtig für sie sei, vor allem für die Haltung. Darüber hinaus ließen sie Susi in Ruhe, wenn sie mit Federschmuck durch die Gärten tobte.
Nur einmal – und das war ein unseliger Zufall – bekam Susi Hausarrest. Aus Bequemlichkeit wollte sie es den Jungen gleich tun, die es so einfach hatten, wenn sie draußen mal mussten. Einfach ran an den Busch, nicht erst umständlich nach Hause laufen und verpassen, wie Old Shatterhand mit Roter Büffel die Friedenspfeife aus Weide und Maiskolben rauchte. Es war so lästig, das Spiel zu unterbrechen. Susi dachte, dass sie als Indianer bestimmt ebenso gut an den Busch pinkeln, konnte und nach ein paar Mal hatte sie es auch raus, sich so geschickt in der Mitte nach vorn zu beugen, dass der Strahl einen Bogen machte. Immerhin ging sie grundsätzlich an einen Ort, wo sie allein war. In Gegenwart der Jungs schämte sie sich. Sie kam jetzt in das Alter, wo ein unbestimmtes Schamgefühl sie davon abhielt, sich in der Gemeinschaft zu entblößen. An einem Sommertag Ende August sahen die Eltern zufällig aus dem Fenster, als Susi direkt an der Hausecke ihr Höschen auszog, den Rock hob und gegen einen Busch pinkelte. Mit einem Vortrag über Verhaltensweisen, die von einer Heranwachsenden aus den besten Kreisen erwartet wurden, erstickten sie das Nachahmen noch im Keim. Drei lange Sonnentage musste Susi im Zimmer bleiben für ihr unziemliches Verhalten. So etwas tat eine junge Dame nicht, auch wenn sie erst zehn Jahre alt war.
Die Ratte
Wolf Hetzer mochte keine Ratten, und diese hier vor seiner Tür