führte. Meist saß Hetzer auf der Bank. So hatte er den Raum im Blick und konnte auch von hier das Feuer sehen. Gaga verfolgte Wolf mit Nase und Augen, doch sie wusste, dass sie nichts bekam.
Man konnte Hetzer ruhigen Gewissens als Gourmet bezeichnen. Während er einen Schluck Rotwein im Mund zergehen, einen weiteren mit dem Rindfleisch melangieren ließ, dachte er an den toten Pfarrer. Es war für ihn so wenig verständlich, warum jemand Interesse daran haben könnte, einen alten Mann zu verstümmeln und dann in die Weser zu stoßen. Die kriminelle Energie des Tathergangs war enorm. Inwieweit das auf die Motive des Täters hindeuten würde, mussten sie herausfinden. Er würde morgen mit der Haushälterin sprechen, ob in der nahen Vergangenheit irgendetwas Außergewöhnliches passiert war oder ob der Pfarrer sich verändert hatte. Er musste auch Mechthild fragen, ob die DNA-Spuren der Kleidung schon ausgewertet waren und ob sich daraus irgendein Hinweis auf den Täter ergab.
Die Backofenkartoffeln waren vorzüglich. Hetzer bestreute sie ein bisschen mit Fleur de Sel. Dieses besondere Meersalz hatte ein anderes Aroma als herkömmliches Salz. Seine früheren Kollegen hatten immer abgewunken, wenn er so viel Aufheben um sein Essen machte oder gar seinen Tee genau nach Temperatur und Ziehzeit kochte. Sie machten gerne ihre Witze über ihn, aber sie waren Freunde gewesen, als es darauf ankam. Das war das Wichtigste. Über die Flachserei hatte er sich eher amüsiert und beim Fastfood angeekelt die Brauen hochgezogen. Wobei er gelegentlich einer Portion Pommes frites gegenüber nicht abgeneigt war, wenn sie gut gemacht war.
Nach dem Essen legte er sich noch ein Weilchen mit einem Buch auf sein Sofa und verpasste den Moment, als ihm die Augen zufielen. Das führte später dazu, dass die zunehmende Kälte ihn weckte und nach oben ins warme Bett trieb.
Im Netz
Montag, 4. Oktober 2010, 21:49 Uhr
Männer ließen sich leicht fangen. Sie waren so vertrauensselig. Vor allem bei Frauen. Denen konnten sie meist nicht widerstehen. Alkohol vernebelte ihnen zusätzlich die Sinne. Doch er hatte eine besondere Gabe. Er wirkte auf beide Geschlechter gleichermaßen anziehend.
Die Damen begehrten ihn fürs Bett und als Lebenspartner. Die Männer sahen in ihm einen echten Kumpel. Er war der Typ Mensch, mit dem man durch dick und dünn gehen konnte, das fühlten beide. Männer und Frauen.
Benno Kuhlmann saß nach der Ratssitzung noch mit einigen Parteibrüdern im „Stadtkater“ und merkte nicht, dass er beobachtet wurde. Als sich das Lokal nach und nach leerte, fiel ihm der sympathische Mann auf, der da hinten so einsam am Tisch saß. Wähler waren immer wichtig. Vor allem neue. Kuhlmann schnappte sich sein Glas und ging – bereits leicht schwankend – auf den Fremden zu.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragte er mit seinem gewohnten Politikerlächeln.
„Bitte, gerne.“
„Sie sind sicher neu in der Stadt, wenn Sie hier so spät noch allein sitzen.“
„Nicht so neu, dass mich noch nichts stört, aber ich bin auch noch nicht so lange hier, dass ich wegziehen müsste.“
Und hier konnte Benno Kuhlmann einhaken. Er fragte nach. Wollte alles über den angenehmen Fremden wissen, vor allem, wo er ursprünglich herkam, wie es ihn hierher verschlagen hatte und wie es um seine politische Gesinnung stand. Auch, was er in Rinteln machte, wie es ihm dort gefiel, und so verstrickte sich Kuhlmann genau in dem Netz, das extra für ihn gesponnen worden war. Benno war sich sicher, einen neuen Wähler, ja vielleicht sogar einen Freund gefunden zu haben.
Lachend verließen sie später am Abend das Gasthaus, gingen über den Marktplatz und durch den Park, wo sie sich im Dunkel verloren.
Marga Kuhlmann merkte noch in der Nacht, dass etwas nicht stimmte. Benno mochte ihr nicht immer treu gewesen sein, aber gegen drei, halb vier kam er spätestens nach Hause. Jetzt war es halb fünf und somit fast schon Morgen, doch die Seite neben ihr im Bett war leer geblieben.
Sie stand auf und ging durch die hohen Räume. Vielleicht war er auf dem Sofa eingeschlafen. Doch auch dort war niemand. Sie geriet in Panik. Sah ihn im Geiste angespült am Weserufer oder mindestens aber im Wassergraben ertrunken. Sie wusste, dass er gerne dem Alkohol zusprach.
Gegen acht informierte sie die Polizei. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass er nie wiederkommen würde. Etwas war zu Ende. Sie fragte sich, ob sie traurig wäre, wenn sie recht hätte und konnte sich diese Frage nicht beantworten. Ihre Ehe hielt nun schon über zwanzig Jahre – mehr oder weniger. Die Kinder waren aus dem Haus, sie hatte nie in ihrem Beruf gearbeitet. Sonst hatte sie für ihn alles gemacht. Immer adrett, alles aufgeräumt, der Garten ordentlich. Sie hatte vielversprechende Gäste bekocht, Kuchen gebacken für Hinz und Kunz und alten Leuten vorgelesen.
Er hatte repräsentiert, wichtig geguckt und sich nicht in die Karten sehen lassen. Sie wusste nichts von ihm. Ein Fremder war er für sie im Laufe der Zeit geworden. Ein Schwätzer, der sich selbst am liebsten reden hörte und manchmal dabei sogar in den Spiegel sah. Es verband sie nichts mehr mit ihm als die Vergangenheit und vielleicht die Gewohnheit des Alltags. Doch ohne ihn hatte sie gar nichts.
Es klingelte. Das wenigstens war ein Vorteil von Bennos Bekanntheitsgrad. Die Beamten kamen zu ihr und nahmen die Vermisstenanzeige auf.
Die Bescherung
24. Dezember 1971, gegen 17 Uhr
„Susi, du kannst reinkommen, der Weihnachtsmann war da. Beeil dich, dann kannst du ihn noch mit dem Schlitten durch die Nacht wegfahren sehen.“
Die Mutter gab immer alles in der Weihnachtszeit. Schon Tage vorher wurde eingekauft, gekocht und gebacken. Eigentlich begann der Zauber zum ersten Advent, wenn sich die ganze alte Villa veränderte. Dort ein Mistelzweig über der Tür, Tannenzweige in Vasen, Kugeln im Fenster und Kerzen auf dem Adventskranz. Es duftete anders zu dieser Zeit, es fühlte sich auch anders an. Irgendwie weicher und ruhiger.
Susi hatte die ersten Tage der Weihnachtsferien damit verbracht, Winnetou II zu lesen.
Andere in ihrer Klasse waren noch nicht so weit, dass sie Bücher lesen konnten. Susi hatte sich das Lesen schon vorher selbst beigebracht. Das war im Grunde ganz einfach gewesen.
Sie wusste nicht, wieso die Erwachsenen so ein Geheimnis daraus machten.
In den Winnetou-Büchern war Susi völlig aufgegangen. Da war sie selbst zum Indianer geworden, hatte jedes Pferd im Griff und beherrschte die Kunst der Rauchzeichen. Im Sommer war sie nie anders anzutreffen als mit Köcher und Federschmuck. Pfeil und Bogen hatte sie sich selbst geschnitzt. Ein Stück Angelschnur hatte sie von Thomas bekommen. Die Prärie rund ums Haus und der angrenzende Wald gehörten ihr.
Sie war ganz gespannt auf die Bescherung. Schließlich hatte sie sich wichtige Dinge gewünscht. Reitstunden, eine Angel und natürlich Winnetou III. Den wollte sie bis zum Ende der Ferien durchgelesen haben. Darum zögerte sie auch nicht einen Moment, als Mutter nach ihr rief. Sie stürmte ins Wohnzimmer, in dem der Weihnachtsbaum stand. Eine Riesentanne von über drei Metern. Über und über mit Äpfeln, Nüssen, Kugeln und Kerzen geschmückt. Sie rannte auch zum Fenster, weil sie wusste, dass Mutter dachte, sie glaube noch an den Weihnachtsmann.
„Ach, schade Mama, er ist schon weg!“
„Da kann man nichts machen“, sagte Mama mit einer Spur Bedauern in der Stimme. „Na, dann lass uns mal die Geschenke auspacken.“
Susi rannte zu den Päckchen unter dem Baum. Wie herrlich, alles bunte Schachteln mit Schleifen – eine schöner als die andere.
„Dies hier ist für dich!“, sagte Mama und strahlte.
Susi zog die Schleife auf, wickelte den Gegenstand aus dem Papier und erstarrte. „Hanni und Nanni sind immer dagegen“ von Enid Blyton. Das war nicht ganz das, was sie sich gewünscht hatte.
„Freust du dich?“, fragte Mutter,