Nané Lénard

SchattenHaut & SchattenWolf


Скачать книгу

Gehen im Wasser fiel ihm schwer, sofort drang es in das warme Futter seiner Schuhe. Es war, als hätte er Blei an den Füßen. Als er den Mann erreichte, schaute er ihn direkt an.

      Er hatte keine Erinnerung an dieses Gesicht, er kannte ihn nicht. Seine Beine und Füße froren erbärmlich.

      „Drehen Sie sich zur Seite, damit ich Ihnen ins Ohr flüstern kann, was mich bedrückt“, bat der Mann.

      „Hier kann uns doch nun wirklich niemand hören“, sagte Fraas und neigte sich zu ihm.

      Als er nun hörte, was der Unbekannte in seine Ohrmuschel sprach, wusste er, dass es wirklich nur leise gesagt werden konnte. Blankes Entsetzen stand in seinen Augen. Das hatte er alles nicht gewusst. Das waren damals andere Zeiten gewesen. Dafür konnte man ihn doch nicht verantwortlich machen. Und noch während er über das Gesagte nachdachte, das dem Mann angetan und jetzt ihm zur Last gelegt werden sollte, hörte das Denken einfach auf, er atmete nur noch, dann gaben seine Beine nach.

      Der Fremde fing den Pfarrer auf. Ja, niemand war schuld. Er war das Opfer, aber niemand trug die Schuld. Er schleifte den Bewusstlosen ans Ufer und legte ihn im Gras ab. Da er eine Anglerhose trug, war er vollkommen trocken geblieben.

      Jetzt lag er da, der Geistliche, der Seelenretter, der Seelsorger. Gottes Sprachrohr auf Erden. Es konnte nicht Gottes Wille gewesen sein, zu dem er damals geraten hatte. Das wäre doch ein Widerspruch in sich gewesen. Diese verlogene Ratte. Er war überfordert gewesen. Für ihn hatte es nur schwarz und weiß gegeben. Keine Graustufen. Das Denken war beschränkt, sein Rat tendierte zum kleineren Übel. Es war einfacher, ein Loch zu graben, als einen Pfahl zu bauen.

      Dafür würde er jetzt büßen, würde dieselbe Erfahrung machen. Aber nur kurz, denn dann würde er ihn ersäufen, wie eine Ratte. Wie die Ratte, die er gewesen war.

      Der fast blutleere Körper versank in der Weser wie ein Stein. So ein Wintermantel konnte viele Kilo schwer werden. Da war Josef Fraas immer noch nicht tot. Aber er war viel zu schwach vor Kälte, vom Schmerz und von der Schmach, dass er den Weg zum Allerhöchsten dankbar annahm und ertrank.

       Wasserwanderung

      Der entseelte Pfarrer trieb langsam in Richtung Flussmitte, wo die Strömung am stärksten war. Sie nahm ihn gnädig auf und spielte mit ihm. Zog ihn unter Wasser in einen Strudel, spie ihn fünf Meter weiter wieder aus, drehte mit ihm eine Pirouette und ließ sein Haar wie im Wind flattern. Im Tod hatte er sich vor Schmerz zusammengekrümmt. Wie ein großer Embryo mit Mantel und Schuhen meisterte er die ersten beiden Weserkrümmungen vor Wehrbergen und glitt dann etwas gestreckter in nordwestlicher Richtung davon.

      Im Bogen bei Hessisch Oldendorf blieb Josef zunächst an einer alten Tonne hängen, die auf dem Wesergrund gestrandet war. Doch der Mantel zog ihn wieder in die Strömung zurück. Inzwischen hatten sich zwei Knöpfe aus den Löchern gelöst.

      Westwärts trieb das Wasser ihn jetzt, und die schmale Sichel des Mondes beleuchtete seinen Weg, vorbei an Fuhlen, Rumbeck und Großenwieden, wo die Weser erneut einen Haken schlug und mehrfach die Richtung änderte. Josef hatte seine Not mit den Windungen, denn dort blieb er leicht am Ufer in den Ästen hängen. Einmal sogar über eine Stunde, bis das Holz dem Gewicht nachgab und als Anhängsel mitschwamm. Der Ast war wohl auch der Grund, warum der Leichnam einige Flusskilometer weiter unterhalb des Weserangerbades in Rinteln strandete. Er bohrte sich in eine der Buchten in den sandigen Untergrund. Ein nächtliches Schiff spülte ihn mit seinen Heckwellen an Land.

      Und da lag er nun in der Morgendämmerung. Ein schwarzes Stück Strandgut, steif wie ein Baumstamm. Für eine Wasserleiche sah er gut aus. Dafür hatte die Kälte der Weser gesorgt. Nicht einmal die Fingerkuppen waren aufgequollen.

      Dass er trotzdem die Spaziergängerin erschreckte, hätte er selbst am wenigsten gewollt. Aber es war nicht zu ändern. Er war tot und genau das sah man ihm an. Martha Schulze stieß einen Schrei aus, zog ihren Dackel so schnell sie konnte in die entgegengesetzte Richtung. Durch den Schrei waren andere Passanten oben auf der Weserbrücke aufmerksam geworden. Als die Polizei gegen neun Uhr am Tatort eintraf, hatte sich dort bereits eine Menge Schaulustiger versammelt, die von der Brücke gafften. Polizeikommissar Wilfried Müller hatte auch von Ferne mit einem Blick erkannt, dass hier andere Kräfte angefordert werden mussten. Über Funk informierte er die Kripo in Nienburg und Rinteln. Er ließ das Gelände weiträumig, sowie die Brücke für Fußgänger, absperren. Dass auf der gegenüberliegenden Seite der Weser bereits ebenfalls Katastrophentouristen lauerten, konnte er nicht verhindern. Die Wasserschutzpolizei aus Hameln war bereits unterwegs. Schichtführer Müller wollte alles Notwendige veranlasst haben, bis die Kripo eintraf.

       Der erste Tag

      Schon vor dem ersten Weckerklingeln war Wolf Hetzer wach. Er war nicht direkt aufgeregt, aber es war schon ein besonderer Tag. Die Rintelner Beamten, die er sonst nur von städteübergreifenden Ermittlungen kannte, würden ab heute seine neuen Kollegen sein.

      Gaga tat, als schliefe sie noch, doch er wusste es besser. Sie hatte ihren Kopf auf seinen Hausschuh gelegt. Vorsichtig stupste er sie mit der großen Zehe, worauf sie sich brummend auf die Seite rollte und den Schuh freigab.

      Im Bad war es frisch. Mist, er hatte vergessen, das Fenster zuzumachen. Nachts war es jetzt schon empfindlich kalt. Bibbernd kam er aus der Dusche, stieg sofort in seinen Bademantel und floh in die Küche. Ein heißer Kaffee war jetzt genau das Richtige. Die Brötchen hingen schon an der Haustür. Diesen Luxus leistete er sich. Wo gab es das schon noch, außer in Todenmann, dass einem jemand die Brötchen ans Haus brachte. In den ersten Wochen hatte Gaga noch angeschlagen. Jetzt kannte sie den jungen Mann und blinzelte nur noch einmal müde in Richtung Tür, wenn der Bote kam, der außerdem die Zeitung mitbrachte.

      Bevor der Kaffee durchgelaufen war, sprang Hetzer in Jeans und Hemd. Er musste Gaga und Emil rauslassen.

      Der Tag schien schön zu werden, leichter Raureif lag auf der Wiese. Weiter oben hing noch der Nebel in den Bäumen und machte das Bunte blasser. Aber kalt war es. Verdammt kalt. Schnell zurück in die warme Küche. Der Duft von Kaffee und Brötchen war berauschend. Es ging doch nichts über ein gemütliches Frühstück. Dafür stand Wolf Hetzer sogar früher auf, denn er hasste Hektik am Morgen. Das Croissant aß er zuletzt. Er musste immer einen süßen Abschluss haben.

      Gegen halb acht verließ er das Haus, stieg in seinen Ford und fuhr in Richtung Stadt. Die alten Bahnschienen humpelten noch wie vor zwanzig Jahren. Kurz hinter der Weserbrücke bog er rechts ab und fuhr durch die Drift zum Hasphurtweg. Jetzt hatte er hinter der Wache sogar seinen eigenen Parkplatz.

      „Guten Morgen und herzlich willkommen!“, begrüßte ihn Kriminalhauptkommissar Mensching. „Was für ein Einstand! Sie können gleich mitkommen. Wir haben eine Leiche am Weserufer.“

      „Klar“, grinste Hetzer, „das haben Sie extra für mich organisiert.“

      Mensching stutzte, dann schmunzelte auch er. „Nein, im Ernst, das ist kein Witz. Es ist heute Morgen ein toter Mann westlich des Weserangerbades angespült worden. Und nun zack, zack. Sie fahren mit Kruse. Er ist Ihr neuer Partner.“

      Bei Peter Kruse hatte die Wirkung des Polizeisports über die Jahre stark nachgelassen. Er war jetzt Mitte dreißig und schwamm im Wasser auf jeden Fall oben. Dabei sah er nicht fett oder schwabbelig aus, eher in allem ein bisschen zu groß geraten. Mit seinen 195 cm Körperhöhe überragte er auch Hetzer um Haupteslänge. Kruse spielte gerne die zweite Geige. Verantwortung übernahm er durchaus, aber zu viel durfte es nicht sein. Er hatte ohnehin nicht damit gerechnet, dass er Hetzers Posten bekommen würde, und wenn er genau darüber nachdachte, war er auch jetzt heilfroh, dass dieser Kelch an ihm vorübergegangen war. Immerhin schien der Neue kein Spießer zu sein und auch kein arrogantes Arschloch. Er hatte die alte Schleuder gesehen, mit der Hetzer zum Dienst gekommen war.

      Als Hetzer Kruses Hand schüttelte, in der sich seine eigene ganz verloren vorkam, zwinkerte er ihm zu und sagte:

      „Wolf