in der Stimme.
Es war nur ganz klein, eigentlich mehr ein Briefumschlag. Ah, dachte sie, das muss der Gutschein für die Reitstunden sein, den sie sich so gewünscht hatte. Eilig riss sie das Geschenkpapier ab und öffnete die Karte: Ballettstunden, zweimal wöchentlich.
Welche Schmach. Was sollte das? Kannten die eigenen Eltern sie so wenig? Zu nichts anderem war sie weniger geeignet. Sie konnte auf Bäume klettern, Dämme bauen. Notfalls konnte sie einen Regenwurm essen – aber Ballett?
Kleine Tränen rannen ihr die Wangen herunter.
„Sieh nur, Otto!“, rief Mutter, „Susi ist ganz überwältigt. Wir haben alles richtig gemacht. Jetzt wird aus unserem Mädchen eine feine Dame.“
Mit Mühe packte Susi ihr Tütü aus und ihre ersten Ballettschuhe. Sie weinte immer noch.
„Na, na, so beruhige dich doch wieder“, sagte Vater ganz gerührt.
Für Susi war eine Welt zusammengebrochen. Ein Teil ihrer unbeschwerten Kindheit endete in dem Moment, als sie – ihrem Stand gemäß – in die richtige Richtung geleitet werden sollte. Mit Liebe zwar, aber auch mit der Unwissenheit blinder Eltern, die ihre Kinder zu dem machen wollen, was sie selbst für sich nie gehabt hatten.
Bennos Verschwinden
Kurz nachdem sich Peter und Wolf an ihren Schreibtischen niedergelassen und den ersten Kaffee getrunken hatten – für Wolf war es der zweite – klingelte das Telefon.
Der bekannte Politiker Benno Kuhlmann sei verschwunden, teilte ihnen Mensching mit. Sie sollten sich sofort auf den Weg machen.
„Den Kaffee wird man doch wohl noch austrinken dürfen!“, grummelte Peter.
„Davon taucht er auch nicht sofort wieder auf, wenn wir uns die Zungen verbrennen oder ihn kalt werden lassen.“
„Ich koche dir später neuen. Jetzt nimm noch einen Schluck und dann komm. Wir wollen Frau Kuhlmann nicht warten lassen. Sie ist bestimmt unruhig und ängstlich. Heute Morgen stand schon in der Schaumburger Zeitung, dass gestern ein Toter an der Weser gefunden worden ist.“
„Ja und? Ihr Mann ist doch erst heute Nacht verschwunden, wenn ich den Chef richtig verstanden habe. Das kann er dann ja wohl nicht gewesen sein.“
„Nein, aber sie könnte in der Angst leben, es könne ihrem Mann ähnlich ergehen.“
„Nur, weil der beim Vögeln irgendwo verschlafen hat? Der ist doch als Schürzenjäger bekannt.“
„Egal, da kann sie ja nichts dafür. Wir müssen Rücksicht nehmen.“
Mit einem letzten Schluck Kaffee schnappte sich Peter seine Lederjacke und grinste.
„Ist ja schon gut. Ich komme.“
Das Haus der Kuhlmanns war in jedem Fall sehenswert. So eine gut restaurierte Villa aus der Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts sah man nicht so oft von innen. Für Hetzer war sie ein Traum. Er liebte nicht nur Antiquitäten, sondern auch alte Häuser. Dieses war zwar einige Nummern zu groß für ihn, aber wunderschön. Ein Teil der Möbel schien auch noch aus der Zeit zu stammen. Alles war bestens in Schuss und stilvoll mit Neuem kombiniert worden.
Marga Kuhlmann saß etwas verloren auf dem cremeweißen Sofa. Man sah ihrem Gesicht an, dass sie geweint hatte. Jetzt machte sie aber einen eher gefassten Eindruck.
„Frau Kuhlmann“, begann Hetzer, nachdem er sich vorgestellt hatte, „wann haben Sie Ihren Mann zum letzten Mal gesehen?“
„Das ist gestern Abend so kurz vor halb acht gewesen, als er zum Stammtisch in den ,Stadtkater’ gegangen ist.“
„Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? Hat er sich anders benommen? Hat er sich anders gekleidet? Hatte er eine Tasche dabei oder fehlen sonst irgendwelche Kleidungsstücke?“
„Meinen Sie, mein Mann hätte mich verlassen? Das glauben Sie doch selber nicht. Das würde er nie tun. Hier hat er doch alles. Ansonsten macht er sowieso, was er will.“
„Wie meinen Sie das? In Bezug auf Frauen? Hatte Ihr Mann Affären?“
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Wir führen eine gute Ehe.“
„Ist es nicht so“, warf Peter ein, „dass es im letzten Jahr einen kleinen Skandal gegeben hat? Dass ihr Mann eine Liaison mit einer sehr viel jüngeren Frau hatte? Das wird Ihnen doch nicht entgangen sein. Immerhin stand es sogar in der Zeitung.“
Marga Kuhlmann begann wieder zu weinen.
„Er ist trotzdem nachts immer wieder zu mir nach Hause gekommen ... Er hat auch keine Tasche gepackt. Es fehlen nur die Sachen, die er gestern Abend anhatte.“
„Es tut mir leid, wir müssen Sie das fragen. Wissen Sie, welche Geliebte Ihr Mann zurzeit hat? Oder gibt es mehrere? Es wäre sehr wichtig, wenn Sie uns die Namen sagen könnten.“
Marga schüttelte den Kopf, aber Hetzer und Kruse hatten den Verdacht, dass sie es nicht wissen wollte und ihre Augen davor verschlossen hatte.
„Wir können jetzt nicht viel tun, wenn wir keinerlei Anhaltspunkte haben, Frau Kuhlmann. Wir werden uns aber bei seinem Stammtisch und im ,Stadtkater’ erkundigen, ob gestern Abend irgendetwas anders war als sonst. Oder ob jemand etwas gesehen hat. Wo waren Sie eigentlich gestern Abend?“
„Ich war beim Chor“, sagte Marga geistesabwesend. Sie schien irgendwo ganz weit entfernt zu sein.
„Vielen Dank!“, sagte Kruse, „bitte bleiben Sie sitzen. Wir finden schon allein hinaus.“
Später im Wagen sagte er zu Hetzer: „Jetzt sag mir mal, wie man an so einem Mann hängen kann? Da ist doch irgendetwas schief. Ich bin ein anständiger Kerl und suche schon seit Jahren nach einer Frau. Und? Was passiert? Rein gar nichts. Es interessiert sich einfach keine für mich.“
„Du musst dir auch eine Lady anschaffen“, schmunzelte Hetzer, „das ist die Lösung. Sie hat alle Eigenschaften, die man bei einer Frau schätzt – bis auf ein paar Kleinigkeiten. Darum koche ich auch lieber selbst.“
„Du bist echt eine Witzpille! Nee, aber mal im Ernst. Meinst du, die Kuhlmann liebt ihren Mann wirklich? Ich wäre doch froh, wenn das Schwein weg wäre. Er hat hier in Rinteln wirklich einen üblen Ruf. Hinter der hohlen Hand werden ihm krumme Machenschaften vorgeworfen. Es heißt, er biege sich Recht und Gesetz in manchen Dingen ganz schön zurecht. Außerdem hat er teilweise sehr radikale Ansichten. Zum Beispiel, was Lebensgemeinschaften gleichgeschlechtlicher Paare betrifft.“
„Puh, wirklich ein sympathisches Kerlchen und politisch etwas weit rechts, denke ich. Aber dienstlich ist es nicht unsere Aufgabe, darüber zu urteilen oder zu denken, es sei weniger wichtig, ihn zu finden, bloß weil er ein korruptes, unehrliches und leicht braun angehauchtes Arschloch ist.“
„Das habe ich auch nicht gesagt, Wolf, ich wollte dir nur möglichst viel über ihn erzählen, damit du dir ein Bild machen kannst. Man kriegt nicht so mit, welche Politiker in den Nachbarstädten ihr Unwesen treiben.“
„Da hast du recht. Ich denke, wir fahren jetzt erst mal zum ,Stadtkater’ und sprechen mit dem Personal. Vielleicht hat jemand doch etwas gesehen. Es könnte sein, dass er mit einer Frau weggegangen ist. Das ist der erste Punkt, an dem wir ansetzen werden.“
Im „Stadtkater“ entschlossen sich Hetzer und Kruse, auch eine Kleinigkeit zu essen. Es war inzwischen fast Mittag und so war das Angenehme mit dem Nützlichen sinnvoll zu verbinden. Wolf entschied sich für Zanderfilet, doch Peter brauchte etwas Deftiges und wählte den Elsässer Flammkuchen.
Während sie auf das Essen warteten, fing Hetzer den Kellner ab, als er die Getränke brachte.
„Entschuldigen Sie, waren Sie gestern Abend auch hier?“
„Ich bin fast immer hier!“, entgegnete der junge Mann mit gelangweiltem Blick.
Hetzer