Während er Mensching zugehört hatte, war dieses Gefühl immer stärker geworden. Er fühlte sich, als ob ihm der Täter über die Schulter schaute und sich amüsierte. Es war, als spüre er dessen Existenz. Etwas war in seinem Bewusstsein, doch er konnte es nicht greifen. Ein Wissen, das sich nicht abrufen ließ wie bei einem Trauma oder einer Amnesie. Vielleicht auch etwas, das er selbst ausblendete?
Er wusste es nicht.
Und da war noch etwas. Man konnte es nicht direkt Angst nennen, aber er fühlte sich auf eine subtile Art bedroht. Ein Unbekannter war in sein Leben eingedrungen. Der Feind blieb im Schatten. War schlecht einzuschätzen, aber nicht zu unterschätzen. Die Ermittlungen hatten gezeigt, dass er es sehr wohl verstand, sich unangreifbar zu machen.
Eine Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.
„Herr Hetzer, hätten Sie wohl die Güte, mich zu informieren, wie Sie und Ihr Kollege Kruse nun weiter vorgehen wollen? Sie haben nichts, aber auch gar nichts in der Hand.“
Hetzer sparte sich die passende Erwiderung.
„Kruse und ich werden jetzt nach Hameln fahren und die Haushälterin des Pfarrers wegen seiner sexuellen Vorlieben befragen. Anschließend bitten wir Pfarrer Martin noch um ein paar Informationen. Vielleicht hat es Gerüchte über Missbrauchsfälle gegeben oder ähnliches.“
„Wie Sie an diesem ersten Mord kleben, Hetzer. Ich verstehe das nicht. Aber meinetwegen, jetzt, wo die Vermutung naheliegt, dass es eine Verbindung zwischen Kuhlmann und Fraas geben könnte, fragen Sie von mir aus zunächst dort nach.“
„Geben könnte ist gut“, murmelte Kruse.
„Wie sagten Sie? Ich habe Sie nicht verstanden.“
„Ich sagte, dass es mehr als eine Vermutung ist, wenn beiden – zwar auf unterschiedliche Art, aber das ist doch sekundär – die kompletten Genitalien und der Adamsapfel entfernt worden sind.“
„Meinen Sie! Es könnte immerhin auch Zufall sein oder ein Nachahmungstäter, falls etwas durchgesickert ist. Es gibt auch eindeutige Unterschiede zwischen beiden Opfern.“
Hetzer hatte keine Lust auf diese Diskussionen. Sie brachten nichts.
„Na komm, Peter, lass uns losfahren. Wenn wir noch alles erledigen wollen, was wir uns vorgenommen haben, kostet das Zeit. Entschuldigen Sie uns bitte, Herr Mensching.“
Als die beiden draußen waren, atmeten sie auf.
„Puh, immer dasselbe Theater: Kuhlmann, Kuhlmann, Kuhlmann ...“
„Glaub mir, Peter, der kriegt Druck von oben. Der kann gar nicht anders. Ich bin froh, dass wenigstens die Kukla schon weg war. Die nervt mich viel mehr.“
„Da hast du natürlich recht!“, lachte Peter.
„Diese olle Zimtzicke.“
Es war schon kurz vor drei, als sie das Ortsschild von Hameln passierten. Es regnete in Strömen. Selbst auf stärkster Stufe konnten die Scheibenwischer das Wasser kaum in Schach halten.
„Widerlich, einfach widerlich und wir haben natürlich keinen Schirm dabei.“
„Wie sähe das auch aus? Stehen wir beide unter dem Schirm an der Tür wie die Zeugen Jehovas.“
„Du kommst vielleicht auf Gedanken. Ist eher unwahrscheinlich an der Haustür eines katholischen Geistlichen.“
„Siehst du, und darum nehmen wir auch keinen Schirm.“
„Ähh, tolle Logik.“ Peter schüttelte sich und suchte unter dem Vordach Schutz. Sie konnten hören, wie es innen klingelte. Doch nichts geschah. Gerade, als sie nach einem weiteren Klingelversuch aufgeben wollten, hörten sie Schritte auf der Treppe. Etwas verschlafen öffnete Pfarrer Fraas‘ Haushälterin.
„Ah, die Herrn Inspektoren, entschuldigens schon, aber ich hatt mich a bisserl hi’glegt. Bin ja net mehr die Jüngste. Kommens nur rein. Des is ja a grauslig’s Wetter. Da dät ma ja kein Hund vor die Tür nausjag’n wolln.“
„Vielen Dank.“
„Dätn’s a paar Platzerl mög’n? Und an Kaffee?”
„Ja, sehr gerne, Frau Brüderl.“
„Dann geh i geschwind. A Momenterl Geduld, bittschön!“
Peter Kruse hatte es sich im Sessel bequem gemacht. Er streckte die Füße aus und fühlte sich wohl. Die Kekse kannte er schon. Er befand sich also in freudiger Erwartung. Hetzer saß eher nachdenklich da. Er überlegte, wie er der alten Dame diese delikaten Fragen am besten servieren konnte.
„So meine Herrn, greifen’s ruhig zua!“ Mit diesen Worten stellte Fraas’ Haushälterin eine Kanne Kaffee und Plätzchen auf den Wohnzimmertisch. „Die sann selbst g’macht. Ist vielleicht noch a bisserl früh, aber die Weihnachtszeit is immer so kurz. Der Herr Pfarrer hot a immer so gern welche mög’n, wenn’s draußen koalt woar. Gott hab ihn selig.“
„Sie haben ihn sehr gern gemocht, Frau Brüderl?“
„Jo freili, er is so a guader Mensch g’wen.“ Sie verfiel wieder zunehmend mehr in ihren Dialekt, wenn sie von Fraas sprach. „I hob’n jo so long scho kennt. Des woarn leicht fuff’zg Joahr.“
„In dieser Zeit wächst man ganz schön zusammen. Fast wie ein altes Ehepaar. Ist es aus diesem Grund zu Komplikationen gekommen?“
„Na, wieso? Woas für Komplikationen meinen’s denn? Ob mir uns oft g’stritten ham oder ob ich’s ihm immer recht g’macht hab?“
„Ich dachte eher daran, ob Sie eventuell aneinander Gefallen gefunden hätten. Vielleicht über das erlaubte Maß hinaus. Ob da Gefühle im Spiel waren und ob Sie im Geheimen ein Paar waren.“
Heide Brüderl guckte verdutzt. Dann lachte sie.
„Ah, so ham Sie des g’moint. Es hot amol a Zeit geb’n, da hätt i gern dem Pfarrer sei Frau sein mög’n. Do woar i jung und a weng hitzköpfig, verstehen’s scho. Jesses, i hob’s direkt drau o’glegt, dass er mi sicht, so im Sommer, mit nur an leichten Kleid oder i hob mi am Fenster umzog’n. Rundum verwöhnt hob i ’n. Es hot ihm bestimmt an goar nix g’fehlt. Nur g’sehn hot er mi nia. So oft i des versucht hob, um ihn rum zum scharwenzeln. Immer freindlich is er g’wen un immer nett. Nur wia a Bruader, net wie a Mo. Irgendwann hob i mir denkt, das er ehm so sehr an sei’m Glaub’n hängt und nur die Jungfrau Maria liabt. Und woas soll i da moachen? Des is a Konkurrenz, geg’n die koa Macht der Welt woas nützen dat. Und um Himmels wuill’n, des hätt i a nia und nimmer probiert. Es is mir nix übrig blie’m. I hob mi in mei Schicksal eini g’fügt, bin bescheiden blieb’n und hob ihm oalles zurecht g’macht. Später hob i mir dann denkt, dass des goar net so schlecht woar, woas der Herrgott da füa mi entschied’n hoat. A ehrbares, saub’res Leh’m als Magd, um ihm zu dienen. Und i hot mei Rua, wenn i des wollt. Der Ohmd und d’Nacht hoam nur mia g’hert.“
„Wenn ich es richtig verstanden habe, dann ist Pfarrer Fraas auf Ihr Werben nicht eingegangen. Hatten Sie das Gefühl, er hätte mal an anderen Frauen Interesse gehabt?“
„Na, goanz g’wiss net. Nur an der Heilig’n Jungfrau. Des wär mir aufg’foin. Des können’s mir glau’m.“
„Wäre es auch möglich“, Hetzer zögerte bei dieser Frage etwas, „dass Pfarrer Fraas mehr dem eigenen Geschlecht zugeneigt war?“
Heide Brüderl zuckte zusammen. „Wia moanen’s na des?“
„Wie ich es gesagt habe. Ich wollte wissen, ob der Herr Pfarrer homosexuelle Neigungen hatte.“
Sie schüttelte sich, als hätte sie in Hetzers Madentopf geschaut. „Net, des i wüst. So an Schweinkram. Naa, des hätt der Pfarrer seelig nia dua. Pfui Spinne.“
„Es hat auch niemals ein Gerücht oder etwas dergleichen gegeben? Vielleicht aus der Gemeinde? Ungereimtheiten oder Gespräche, die Sie sich nicht erklären konnten?“
Heide