Isolde Kakoschky

Frühlingstochter


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sie sich kaum fassen, vor lauter Entzücken über die possierlichen Tierchen, die sogar ganz zutraulich waren. Sie hätten hier wohl Stunden zugebracht, wäre Stella nicht doch noch zu überzeugen gewesen, dass es noch andere Affen hier gab. Nachdem sie auch noch den Schimpansen einen ausgiebigen Besuch abgestattet hatten, war Stella bereit, auch zu den übrigen Tieren zu gehen. Munter rannte sie vor den Erwachsenen her, um aber an jedem Schild zu warten.

      »Oma, wie heißt das Tier?«, schien ihr Standardsatz des Tages zu sein, als sie im weiten Bogen um den Berg herum liefen. Zwischendurch ließen sie sich auf einer Bank nieder, während Stella sich zu den Ziegen im Streichelgehege wagte.

      »Sie ist so herrlich wissbegierig«, kommentierte Manuela lächelnd das Verhalten ihrer Enkeltochter.

      »Oh ja! Und sie freut sich schon sehr auf die Schule«, stimmte Kai seiner Mutter zu. »Obwohl sie ja erst Ende

      Juli fünf wird und noch nicht zwangsläufig schulpflichtig wäre, werden wir sie für nächstes Jahr anmelden. Sie ist körperlich und geistig sicher ein halbes Jahr voraus. Ich denke, es ist richtig so.« Nina nickte zu seinen Worten. Sie war der ruhende Gegenpol zu Kai und Stella, die beide recht lebhaft veranlagt waren. Ein wenig erinnerte Nina Manuela an ihre Mutter. Vielleicht wäre alles etwas besser gewesen, wenn ihre Mutter nicht so still gewesen wäre und sich ihrem Mann entgegengestellt hätte. Doch wahrscheinlich sah sie sich ebenso wenig in der Lage dazu, wie ihre Töchter auch.

      Manuela riss sich von den trüben Gedanken los. Stella war zur Bank zurück gelaufen. »Ich habe Durst.«

      Als hätten alle drei nur auf diesen Satz gewartet, schlugen sie nun den Weg zur Bergterrasse mit dem Bistro ein.

      Der Durst schien schon wieder fast vergessen, als Stella den Aussichtsturm erspähte. »Oma, was ist das für ein Turm? Können wir da rauf gehen?«

      Ihre Eltern grinsten. Sie kannten die Energie ihrer Kleinen.

      »Erst wollen wir doch etwas essen und trinken. Schau nur, dort drüben ist ein Spielplatz. Da kannst du auf dem Piratenschiff klettern. Und dann steigen wir auch noch auf den Turm.«

      Während Kai und Nina das Essen zum Tisch brachten, beobachtete Manuela ihre Enkelin, die sofort mit ein paar anderen Kindern den Spielplatz in Beschlag genommen hatte, und schoss mit ihrem Smartphone ein paar Fotos. Sie liebte diese kleinen Erinnerungen auf dem Handy, die sie stets mit sich herum tragen konnte und ansehen, wann immer sie Sehnsucht nach ihren Lieben verspürte. Es gab da noch ein Foto, das sie seit über 40 Jahren bei sich trug und das doch die Sehnsucht nicht stillen konnte. Einige Jahre hatte sie es kaum in die Hand genommen, doch in den letzten Monaten brach alles wieder auf, was sie so lange fest in sich verschlossen hatte.

      »Oma komm! Papa hat uns was zu essen hingestellt!« Manuela fühlte die kleine, warme Hand von Stella in ihrer und schüttelte die trüben Gedanken ab. »Natürlich komme ich mit.«

      Frisch gestärkt nahm die Familie den versprochenen Turmaufstieg in Angriff. Und oben angekommen, wurde die Mühsal mit einem traumhaften Ausblick über das Saaletal und in die große Freiflugvoliere belohnt. Mit den Vögeln auf einer Höhe, das fühlte sich an, als hätte man selbst Flügel, dachte Manuela. Aber die Vögel hatten einen Käfig um sich, wenn auch einen sehr großen, der sie am freien Fliegen hinderte. Sie war auch in einem Käfig aufgewachsen und beim ersten freien Flugversuch kläglich gescheitert. Manuela schüttelte den Kopf und schalt sich selbst wegen ihrer derzeitigen Sentimentalität.

      Nach einer weiteren Spielplatzrunde überzeugten sie Stella, nun auch noch den Bären und den Elefanten einen Besuch abzustatten. Da es direkt daneben ein Café gab, sprang für alle noch eine Portion leckeres Eis heraus. Zu guter Letzt ließ es sich nicht vermeiden, dass sich Stella noch von ihren geliebten Affen verabschieden musste, ehe die vier den Zoo wieder verließen.

      »Dann kommt gut heim!«, gab Manuela der kleinen Familie mit auf den Weg. Die Worte waren nicht so dahingesagt. Immer schwang in ihrem Denken eine Angst mit, dass ihrem einzigen Sohn oder ihrer einzigen Enkelin etwas geschehen könnte.

      »Du auch!« Kai umarmte seine Mutter und auch Nina drückte sie herzlich.

      »Tschüssi, Omi!«

      Manuela beugte sich zu Stella herunter und zog sie liebevoll an sich. »Tschüss, mein Sternchen! Und viel Spaß morgen im Kindergarten!«

      Sie winkte noch, als die drei schon im Eingang zum Parkhaus verschwunden waren.

      Obwohl die Haltestelle der Straßenbahn direkt vor dem Eingang des Zoos lag, beschloss sie, ein Stück zu Fuß zu gehen. Was sollte sie schon allein zuhause? Das milde Frühsommerwetter lud geradezu zu einem Spaziergang ein. Halle war ihre Wahlheimat geworden. Sie mochte die Stadt an der Saale, fühlte sich hier wohl und schätze die Anonymität der Großstadt. Hätte es

      damals noch ein Gerede der Leute gegeben, wer weiß, ob sie das ertragen hätte.

      Nach einer halben Stunde näherte sie sich dem Markt. Noch vor einem Jahr war dieser Bereich eine große Baustelle gewesen. Nun lud die Straße wieder zum Bummeln ein. Viel hatte sich getan in den letzten Jahren. Vom Markt aus konnte sie nun mit der Straßenbahn direkt bis nach Halle-Neustadt fahren. Schon vor Jahrzehnten hatte es diese Pläne gegeben, die jedoch in der Zeit der DDR nie realisiert wurden. Manuela gönnte sich in einem Café auf dem Markt noch einen Cappuccino und genoss den Blick auf die Silhouette der fünf Türme, ehe sie sich in der Straßenbahn auf einen Sitz fallen ließ. Für heute war sie genug gelaufen. Langsam taten ihr die Füße weh.

      In ihrer Wohnung ließ sich Manuela warmes Badewasser in die Wanne laufen und gab duftendes Schaumbad dazu. Es war ein so schöner Tag heute gewesen, wie alle Tage, die sie mit Kai und seiner Familie, besonders aber mit Stella, verbringen konnte. Wie oft schon hatte sie Stella mit sich selbst verglichen. Irgendwann war sie doch auch einmal ein kleines Mädchen gewesen. Doch an glückliche Momente konnte sie sich nicht erinnern. Gerade heute, als Kai erzählte, wie sehr sich Stella schon auf die Schule freute, da hatte es ihr einen Stich ins Herz gegeben. Falls sie jemals Freude auf die Schule empfunden hatte, so hatte sie ihr der Vater gründlich verleidet mit seinen Sprüchen vom

      »Ernst des Lebens« und dass es jetzt »anders rum gehen« würde. Und dann war plötzlich auch noch Maria nicht mehr da, ihre geliebte große Schwester. Ganz deutlich sah sie das Bild vor sich an jenem Sommertag 1964.

      

       5. Kapitel

      

      Hedwig Knoor stand in ihrer Kittelschürze am Herd und hatte gerade einen Topf mit Milch aufgesetzt. Die sechsjährige Manuela saß am Küchentisch, ebenso ihr Vater. Es war ein Sonntag und es war der achtzehnte Geburtstag ihrer Schwester Maria. Auf dem Küchenschrank lag ein kleines Päckchen mit einem Geschenk für Maria. Manuela hatte es gesehen, als es die Mutter am Tag vorher eingepackt hatte. Der Unterrock mit Spitze oben und unten sah schön aus, fand Manuela. In einem Konservenglas stand ein Strauß bunter Astern aus dem Garten. Jetzt fehlte nur noch Maria.

      Demonstrativ sah der Vater auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand. Schon verdunkelte sich sein düsterer Blick noch mehr. Manuela wusste genau, dass es gleich Ärger geben würde. Um acht Uhr begann der Gottesdienst, da mussten sie fix und fertig in der Kirche sein. Da hatte keiner mehr am Frühstückstisch zu sitzen oder gar noch zu schlafen. Im letzten Moment riss die Mutter den Topf mit der kochenden Milch von der Gasflamme. So gespannt hatte sie in Richtung Tür gestarrt, als könne ihr Blick die Tochter herbeiholen, dass sie die Milch fast vergessen hätte.

      Von der Treppe, die in die Mansardenzimmer hinauf führte, drangen Geräusche bis in die Küche. Doch es waren nicht die leichtfüßigen Schritte des jungen Mädchens, auf die alle anderen inzwischen mit Anspan-

      nung warteten. Es klang, als würde etwas Schweres bewegt werden.

      »Soll ich dir schon Kaffee eingießen, Friedrich?«, versuchte Hedwig, die Situation auf den Alltag zu lenken. Manuela sah noch, wie der Vater seinen Arm hob. Im nächsten Moment krachte seine Faust mit solcher Wucht auf den Tisch, dass die Tischplatte erbebte. Die Tassen sprangen