»Das ist schön«, erwiderte die Mutter. »Aber lass es ja nicht den Vater hören!« Manuela nickte. So schlau war sie selbst. Und die Sache mit dem Brief behielt sie auch lieber für sich.
Am Abend saß sie in dem Mansardenzimmer, das einmal Maria bewohnt hatte, und riss aus einem Schulheft ein Blatt heraus, um ihrer Schwester zu antworten. Im ersten Winter, nachdem Maria gegangen war, hatte Manuela noch in ihrem Bett bei den Eltern im Schlafzimmer geschlafen. Vielleicht hatte der Vater doch geglaubt, seine Tochter käme zurück. Im Frühjahr räumte er den Kleiderschrank aus und brachte Manuelas Bettzeug hinauf in die Mansarde. Nun schrieb sie davon, dass sie jetzt in Marias Bett schlief
und dann immer an sie dachte. Sie schrieb, dass sie schon Marias Märchenbücher alleine lesen konnte und dass ihr die Schule gefiel. Sie schrieb nicht von der Angst, nicht von den Schlägen. Sie war zwar erst ein kleines, achtjähriges Mädchen, doch sie wollte damit selbst klarkommen.
Am nächsten Tag bat Manuela die Mutter um etwas Geld für neue Schulhefte. In dem kleinen Krämerladen kaufte sie außer dem Heft noch einen Briefumschlag und eine Briefmarke. Zwar schaute die Mutter etwas verwundert auf das Restgeld, sagte aber nichts. Am Abend schrieb Manuela die Adresse auf den Umschlag und klebte die Marke drauf. Morgen auf dem Weg zur Schule konnte sie den Brief in den Kasten werfen. Sie wusste genau, wenn der Vater etwas davon merken würde, dann hätte sie ein Problem. Doch wichtiger war, dass der Brief nun unterwegs war. Notfalls nahm sie dafür sogar Prügel in Kauf.
Von nun an blieb sie in regelmäßiger Verbindung zu Maria und sorgte immer vor, Geld für die nächste Briefmarke zu haben. In der Schule sammelten die Pioniere Altpapier und leere Flaschen und Gläser. Wenn sie das sah, steckte sie heimlich eine der Flaschen in ihren Turnbeutel und brachte sie selbst zur Annahmestelle. Vier leere Flaschen ergaben das Geld für eine Briefmarke.
So erfuhr Maria von Manuelas Erstkommunion und dass sie ihr Kleid getragen hatte. Und Manuela las,
dass Maria sich mit Bernd verlobt hatte und vielleicht bald heiraten wollte. Sie schafften es über die Jahre hinweg, unentdeckt zu bleiben.
6. Kapitel
Manuela strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Über all den Gedanken war es anscheinend spät geworden. Obwohl sich der längste Tag des Jahres näherte, hatte sich bereits die Dunkelheit über die Stadt gesenkt. Sie sah über die Dächer in die Weite.
Wieviel einfacher war es heute, in Verbindung zu bleiben. Durch Handy und Internet waren Entfernungen nicht mehr relevant. Das ganze Leben war freier und selbst die katholische Kirche schien weltoffener zu werden.
Am liebsten hätte sie jetzt noch Maria angerufen, doch mit Blick auf die Uhr verschob sie ihr Vorhaben auf den nächsten Tag. Etwas Neues hatte sich ja auch gar nicht ergeben. Es war besser, sie legte sich jetzt hin, denn am Morgen trieb sie der Wecker unerbittlich raus.
Als es neben ihr durchdringend piepste, schien es ihr, als hätte sie überhaupt nicht geschlafen. Traumlos und kurz war die Nacht gewesen. Jetzt wurde es langsam hell. Früher hatte sie auch im Schichtdienst gearbeitet. Heute wertete sie die Daten aus der Schaltwarte aus und konnte regelmäßig im Tagesdienst arbeiten, solange es keine Havarie gab. Doch das war sehr selten geworden in den letzten Jahren. Die modernen Anlagen arbeiteten sauberer und sicherer, als es in der DDR der Fall gewesen war. Damals hatte es ständig aus irgendwelchen Rohren gedampft und gezischt, dass es regelrecht unheimlich war.
Sie brühte sich rasch einen löslichen Kaffee auf, richtig frühstücken würde sie später in der Kantine. Die Sonne schob sich kraftvoll durch den Morgendunst als Manuela dem Chemiewerk entgegen fuhr. Tausende Menschen hatten sich früher in die S-Bahn gedrängt um zu ihren Arbeitsstellen zu fahren. Heute hatte sich die Zahl der Arbeitsplätze drastisch reduziert. Der einstmals prächtige, unterirdisch angelegte S-Bahnhof wurde nicht mehr gebraucht und verfiel. Dafür waren die Straßen ständig verstopft.
Es war nicht unbedingt ihr sehnlichster Wunsch gewesen, in einem Chemiewerk zu arbeiten. Auf jeden Fall hatte sie sich gewünscht, zu studieren. Sie wollte nicht wie ihre Mutter tagein tagaus hinter dem Ladentisch vom Konsum stehen. Und selbst wenn man, wie Maria später, in einem schicken Geschäft in bester Lage in der Magdeburger Innenstadt arbeitete, so erschien es Manuela doch nicht als das Ziel ihres Lebens. Ihre schulischen Leistungen waren in allen Fächern gut, nicht etwa, weil sie Angst vor dem Vater und seinen Strafen hatte, sondern weil ihr das Lernen Freude bereitete. Aber als es in der achten Klasse darum ging, wer zur Oberschule wechseln durfte, um das Abitur abzulegen, da war sie nicht dabei. Sie wusste, es fehlte ihr nicht an den Leistungen, da hätte sie es locker mit Susanne und Franziska aufnehmen können, doch die Weigerung ihrer Eltern, sie in die FDJ eintreten zu lassen und ihre Nichtteilnahme an der Jugendweihe machten ihren Traum vom Abitur vorerst zunichte.
Ihre Schwester hatte die Schule noch nach der achten Klasse verlassen und war dann wie ihre Mutter Verkäuferin geworden. »Das reicht!«, hatte der Vater bestimmt und seiner Tochter fortan jede Mark ihres Lehrlingsgeldes als »Kostgeld« abgenommen. Das blieb auch so, nachdem sie ausgelernt hatte. Maria hatte eisern jeden Pfennig, den sie durch zusätzliche Arbeit verdiente, zur Seite gelegt, um Geld für ihren Neuanfang zu haben.
Auch Manuela wollte raus. Raus aus der Familie, raus aus der Stadt. Doch sie konnte sich nicht vorstellen, solch einen abrupten Schritt zu gehen, wie ihre Schwester. Sie liebte ihre Mutter und auch mit dem Vater kam sie inzwischen ganz gut klar. Manuela war klug genug, eine möglichst brave Tochter zu sein, die dem Vater wenig Anlass zur Klage und damit zur Bestrafung gab.
Ein bisschen Freiheit bekam sie, als im Walzwerk eine neue Produktionsanlage in Betrieb ging und der Vater begann, in drei Schichten zu arbeiteten. Manuela freute sich immer auf die Mittagschichtwoche. Wenn sie Schulschluss hatte, war er schon weg. Wenn er von der Schicht kam, lag sie schon im Bett. Da die Mutter hinter dem Ladentisch im Konsum stand, hatte sie den ganzen Nachmittag für sich. Dann streifte sie ziellos durch die Wiesen und Felder, die sich am Stadtrand erstreckten. Oft lag sie auch am Rand eines kleinen Teiches im Gras und blinzelte in die Sonne oder beobachtete die Wolken.
Hier hatte sie auch Karsten das erste Mal getroffen. Karsten. Noch immer durchflutete eine warme Welle der Zuneigung ihren Körper, wenn sie an ihn dachte. Was wäre gewesen, wenn sie sich unter anderen Umständen begegnet wären? Jahrelang hatte sie den Gedanken an ihn verdrängt. Nun war er schon zum zweiten Mal binnen weniger Tage wieder präsent.
Es war Anfang September gewesen. Manuelas letztes Schuljahr hatte gerade begonnen. Dort an dem kleinen Teich hatte sie unter einem Baum im Gras gelegen, als sie vom Geräusch eines Mopeds aufgeschreckt wurde. Als es verstummte, trat ein junger Mann in ihr Blickfeld. Sie schätzte ihn vielleicht auf Anfang Zwanzig.
»Ist hier noch frei?« Ohne eine Antwort abzuwarten, hatte er sich neben ihr nieder gelassen. Nach einer Weile still nebeneinander musste Manuela über die seltsame Situation lachen. Das ermunterte ihn, sie erneut anzusprechen.
»Ganz allein hier?«
»Du doch auch!« Ganz selbstverständlich hatte sie ihn sofort geduzt.
»Gar keine Freunde oder Geschwister?«
»Doch, eine große Schwester. Aber die wohnt nicht mehr zuhause.«
Traurig hatte er sie angesehen. »Meine auch nicht. Und ich weiß nicht einmal, wo sie jetzt ist. Ihre Tochter hat sie mitgenommen, die müsste so in deinem Alter sein.«
Als Karsten ihr das erzählte, erinnerte sich Manuela sofort wieder an Kristina, die vor Jahren nach den Winterferien plötzlich verschwunden war. Das war dann also seine Nichte.
»Wohnst du in der Nähe?« Karsten hatte nirgendwo ein Fahrrad entdecken können, demzufolge musste sie wohl zu Fuß gekommen sein.
»Ja, gleich dort vorne, in der Siedlung. Und du?«
»Ein Stückchen weiter weg. Drüben, auf dem Berg.« Er musterte sie neugierig. »Gehst du noch zur Schule?«
Manuela