Isolde Kakoschky

Frühlingstochter


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»Aber du rufst doch bestimmt aus einem anderen Grund an. Wie kann ich dir helfen?«

      Manuela fühlte sich durchschaut, aber da Berit so offen sprach, wurden ihre Hemmungen immer weniger.

      »Du hast recht«, stimmte sie ihr zu, »ich suche jemanden von früher und hoffe, du kannst mir helfen.«

      »Schieß los, ich werde sehen, ob ich was weiß!«

      »Tja, ich wollte dich fragen, ob Kristina, damals hieß sie Schmidmann, zum Treffen gekommen ist«, begann sie vorsichtig. Doch da Berit sie nicht unterbrach, erzählte sie gleich weiter. »Eigentlich suche ich ja gar nicht Kristina, sondern ihren Onkel Karsten. Aber ich denke, sie könnte mir dann wieder weiterhelfen, wenn du ihre Telefonnummer hättest.«

      »Ach so, Karsten. Das ist ja gar nicht…« Berit biss sich auf die Zunge. Nein, das sollte Karsten Manuela schon selbst erzählen, das war nicht ihre Aufgabe, sein Familiengeheimnis zu lüften. »Das ist ja gar nicht so kompliziert«, begann sie nun den Satz noch einmal. »Ich kann dir gerne die Adresse und die Telefonnummer

      von Karsten geben, seine Frau ist nämlich meine Kollegin.«

      Manuela hätte vor Freude laut jubeln können, aber sie hielt sich mit ihren Äußerungen zurück. »Na super! Das hätte ich jetzt nicht gedacht, dass es so einfach ist. Bin ich froh!«, brachte sie nun doch ihre Erleichterung zum Ausdruck.

      Sie notierte die Adresse und die Nummer, die ihr Berit diktierte und bedankte sich noch einmal von Herzen für deren Hilfe. Jetzt hatte sie endlich etwas Greifbares in der Hand. Am liebsten hätte sie jetzt sofort bei Karsten angerufen, doch eigentlich wusste sie gar nicht, was sie ihm erzählen sollte und wo sie anfangen sollte. Und er war verheiratet, das hatte sie nun erfahren. Wie würde seine Frau reagieren, wenn sie am Telefon sein würde? Also, nur nichts über´s Knie brechen, dachte sie bei sich. Morgen war schließlich auch noch ein Tag.

      Die Schicht steckte Manuela noch in den Knochen, als sie schon zuhause auf dem Sofa saß. Der Feierabend hatte sich um Stunden nach hinten verschoben. Doch nun lief die Anlage wieder richtig und sie konnte endlich die Beine hoch legen.

      Sie hatte sich ein Glas Weißweinschorle eingegossen, deren kühles Prickeln sie angenehm erfrischte. Schon gestern hatte sie die Nummer von Karsten in ihr Handy gespeichert. Nur nicht wieder einen Zettel ver-

      bummeln! Jetzt griff sie zum Telefon und wählte den Eintrag aus. Einen Moment sah sie abwartend auf das Display, dann gab sie die Verbindung frei. Es klingelte am anderen Ende, einmal, zweimal, nach dem dritten Mal drückte sie das Gespräch weg. Anscheinend war niemand zuhause. Vielleicht sollte es heute nicht sein. Hatte es so lange gedauert, nun kam es nicht auf einen Tag an. Sie würde es wieder versuchen, soviel stand fest.

      Stattdessen scrollte sie zu Kais Nummer und rief ihren Sohn an.

      »Hallo Kai!«

      »Hallo Mom, na, alles schick?« Manuela lächelte. Solange Kai solche lockeren Sprüche verwendete, war bei ihm wirklich alles schick.

      »Ja, danke der Nachfrage. Alles im grünen Bereich!«, gab sie locker zurück. »Was macht mein Sternchen?«

      »Stella sitzt gerade in der Badewanne. Da ist sie schon ganz Dame, das kann dauern!«

      »Baden ist ein gutes Stichwort«, ging Manuela direkt darauf ein. »Das Wetter soll ja bis zum Wochenende noch wärmer werden. Wollen wir zum See fahren?«

      »Also mir gefällt die Idee«, stimmte Kai ihr sogleich zu. »Ich glaube, wir hatten auch noch keine anderen Pläne. Ich werde es meinen beiden Frauen vorschlagen. Am Freitag melde ich mich noch mal, dann wissen wir auch, ob das Wetter passt.«

      »Schön, dann einstweilen bis Freitag! Mach´s gut und gib Stella einen Kuss von mir!«

      Manuela trank ihre Weinschorle aus und ließ sich Wasser in die Badewanne laufen. Was ihre Enkeltochter liebte, das mochte sie auch!

      Im Gegensatz zu den beiden vorangegangenen Tagen verlief der Donnerstag eher ruhig. So konnte Manuela mit gutem Gewissen etwas früher in den Feierabend gehen. Doch sie fuhr nicht zu ihrer Wohnung, sondern direkt in Richtung Mansfelder Land. Sie hatte sich das kurzentschlossen überlegt, nach der Devise: Jetzt oder nie! Diesmal wählte sie die Strecke über die Straße an der Saale aus. So war sie in ihrer Lehrzeit gelegentlich mit dem Bus nach Hause gefahren. In Friedeburg verließ sie die Uferstraße und folgte der Straße sanft bergan. Noch ein paar Dörfer, dann kam ein kleines Städtchen, in dem sie sich plötzlich an einen Besuch in einer Eisdiele erinnerte. Und eine Viertelstunde später erreichte sie die Stadt in der sie geboren wurde und aufgewachsen war. Noch immer empfand sie ein gewisses Unbehagen, doch längst nicht so schlimm, wie noch ein paar Tage vorher.

      Am ersten Supermarkt an der Hauptstraße stellte sie ihr Auto ab. Von hier aus war es nicht weit bis zum Markt, sie konnte das Stadtzentrum bequem zu Fuß erreichen. Neben ihr plätscherte die Wipper und auf dem begrünten Uferbereich watschelten am alten, steinernen Wehrturm, im Volksmund »Zuckerhut« genannt, ein paar Enten umher. Auf der Brücke blieb sie stehen und schaute um sich. Es hatte sich schon einiges verändert. Auch wenn sie per Zeitung und Internet immer auf dem Laufenden blieb, so war es doch etwas ganz anderes, hier zu sein, zu sehen, zu fühlen. Der Markt zeigte sich bei dem schönen Frühsommerwetter von seiner besten Seite. Die Plätze im Straßencafé waren gut besucht und auch der Ratskeller lud mit Tischen und Stühlen zum Verweilen im Freien ein. Es gab ein paar Geschäfte, die sich noch immer an der gleichen Stelle befanden, andere vermisste sie. Der Fischladen war von der Bildfläche verschwunden, dafür warben gleich mehrere Mobilfunkanbieter um Kunden.

      Manuela bummelte bis zum »Saigertor«. Sie hatte noch erlebt, wie die Straße um das mittelalterliche Stadttor herum gebaut wurde und eine erste kleine Fußgängerzone entstand. Dennoch hatte sich auch danach noch viel verändert. Aber es gefiel ihr. In einer Art kleinem Bachlauf, der von einem modernen Springbrunnen gespeist wurde, hopsten Kinder umher. Das wäre auch ein Spaß für Stella, dachte sie und lächelte. Sie lief zurück in Richtung Rathaus. Vor dem Ratskeller nahm sie an einem der Tische Platz und bestellte sich einen Kaffee. Dort drüben war einst ein Uhrmacher gewesen, erinnerte sie sich nun wieder. Und aus der Sparkasse war die Apotheke geworden. In dem Haus neben dem Kaufhaus hatte es einst einen Fleischer gegeben, nun war die Filiale einer OptikerKette eingezogen, während im benachbarten Laden gerade Umbauarbeiten im Gange waren. Vor einiger Zeit hatte sie bei Facebook eine Seite entdeckt, die Fotos von Hettstedt zeigte, oft Aufnahmen von früher und von heute. Jetzt konnte sie die Bilder vor ihrem inneren Auge nachvollziehen.

      In ihrer Kindheit hatte sie die Stadt manchmal als trist und grau empfunden, vielleicht weil auch ihr Leben selbst so war. Jetzt musste sie sich eingestehen, dass das nur die halbe Wahrheit war. Was auch immer sie von hier vertrieben hatte, das hier war ihre Heimat. Hier waren ihre Wurzeln. Vielleicht konnte sie auch Maria überzeugen, einmal wieder zurück zu kommen in die Heimat.

      Manuela bezahlte ihren Kaffee und lief zu ihrem Auto. Sie hätte nicht sagen können, ob es bewusst geschah, jedenfalls lenkte sie den Golf in Richtung Neubaugebiet, dorthin, wo Karsten jetzt wohnte. Da es eine der zuerst gebauten Straßen war, fand sie sich problemlos zurecht und stand schon bald vor dem richtigen Haus. Hier sah es, ähnlich wie bei ihr in HalleNeustadt, jetzt wunderbar grün aus. Die vor Jahrzehnten angepflanzten Bäume hatten eine beachtliche Größe erreicht und spendeten Sauerstoff und Schatten. Zögernd ging sie langsam auf das Wohnhaus zu und blickte auf das Klingelschild. Dort, wie es aussah im ersten Stock, wohnte Karsten also. Sie holte tief Luft und drückte auf die Klingel.

      Doch nichts regte sich. Keine schnarrende Stimme drang aus der Gegensprechanlage, kein Summer ertönte, kein Fenster wurde geöffnet, nichts. So einfach, wie sie es sich nach dem Telefonat mit Berit vorgestellt hatte, war es dann wohl doch nicht. Manuela überlegte. Karsten war zwar älter gewesen als sie, doch er könnte noch im Berufsleben stehen, also deshalb noch nicht zuhause sein. Sie könnten auch beim Einkaufen sein. So vieles war möglich. Er könnte jeden Moment um die Ecke kommen oder heute gar nicht mehr.

      Schade, sie hatte gerade so viel Mut gehabt. Aber sie würde wieder kommen, das versprach sie sich selbst und Karsten. Auch er hatte ein Recht, endlich die Wahrheit zu erfahren.