Isolde Kakoschky

Frühlingstochter


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doch, dass Heulen den Vater nur noch mehr reizte, doch es gelang ihr nicht.

      »Hier wird weder gegessen noch getrunken, ehe nicht unser Fräulein Tochter erschienen ist!«, schrie er seine Frau an. »Und du hör auf zu flennen, sonst setzt es was!« Keiner Bewegung fähig zog Manuela die Nase hoch.

      In dem Moment wurde die Küchentür geöffnet und Maria trat ein.

      »Kind, du bist zu spät«, versuchte die Mutter, ihre Tochter zu einer Entschuldigung aufzufordern, die ihren Mann vielleicht wieder beruhigen würde. Doch der Blick in Marias Gesicht ließ ihre Hoffnung schwinden. Mit trotziger Entschlossenheit sah Maria ihre Eltern an. »Mag sein, dass ich spät bin. Doch es ist nicht zu spät!«

      Verständnislos sah die Mutter sie an. »Was meinst du damit?«

      »Ganz einfach, ich gehe. Ich bin jetzt volljährig, ich ziehe aus. Ich ertrage es nicht mehr hier mit euch. Ich ersticke an eurem Weihrauch und was auch sonst immer. Ich lasse mich nicht mehr verprügeln für nichts und wieder nichts.«

      »Aber Kind, wo willst du denn hin?« Die Mutter schluchzte laut auf.

      »Mach dir keine Sorgen, Mutti, ich komme schon zurecht. Jedenfalls stecke ich meine Füße nicht mehr unter euren Tisch!«, spielte sie auf den häufig gebrauchten Satz ihres Vaters an.

      Maria trat um den Tisch herum auf Manuela zu. »Sei stark, kleine Schwester! Ich melde mich ab und zu. Ich hab dich lieb!«

      »Auf Wiedersehen, Mutti. Auf Wiedersehen, Manuela.«

      Die Mutter griff zu dem Päckchen auf dem Küchenschrank. Bisher hatte der Vater kein einziges Wort gesagt. Jetzt schraubte er sich von seinem Stuhl in die Höhe. Mit einem Ruck schob er den Tisch zur Seite und stand zwischen seiner Frau und seiner Tochter. Er riss Hedwig das Päckchen aus der Hand und warf es durch die Küche bis an die hintere Wand. Dann brüllte er los.

      »Raus! Verschwinde! Geh mir aus den Augen! Du undankbares Balg! Hau ab und lass dich nie wieder hier blicken!« Seine Augen quollen so weit hervor, als würden sie jeden Moment aus dem Kopf fallen.

      Maria trat in den Hausflur, wo sie den alten, abgewetzten Koffer abgestellt hatte, und zog die Küchentür von außen zu.

      Manuela saß starr vor Angst auf ihrem Stuhl. Durch den verschobenen Tisch war eins ihrer Beine eingeklemmt worden, doch sie wagte weder ein Wort zu sagen, noch zu weinen. Auch ihre Mutter hatte noch keine Bewegung getan, seit die Tür ins Schloss gefallen war. Dafür tobte der Vater wieder los.

      »Da siehst du nun, was du mit deiner Nachgiebigkeit erreicht hast, haut einfach ab, das Fräulein Tochter. Wird schon sehen, was sie davon hat. In der Gosse wird sie landen. Ich hab´s ja immer gewusst, ich hätte sie viel härter ran nehmen müssen!« Dabei streifte sein Blick Manuela. Was dieses »hart rannehmen« für sie bedeutete, wurde ihr erst später klar.

      »Anziehen! Die Glocken läuten!«, blaffte er kurz darauf seine Frau und seine kleine Tochter an. Mit erstarrten Gesichtern folgten sie dem Gottesdienst und Manuela betete heimlich: »Lieber Gott, mach dass Maria wieder kommt!«

      Doch Maria kam nicht wieder.

      Erst langsam begriff Manuela, dass sie nun mit Vater und Mutter allein leben würde. Maria fehlte ihr so sehr. Bei ihr hatte sie sich geliebt und geborgen gefühlt. Wenn es die Mutter jemals gekonnt hatte, dann hatte sie die Fähigkeit zu lieben in der Ehe mit Friedrich verlernt. Und der Vater kannte nur Beten und Arbeit und Buße tun. Er legte die Bibel so aus, wie es ihm gefiel. Nun, da Maria nicht mehr da war, gab es niemanden, der Manuela liebte und den sie liebte. Die ersten Tage wartete sie noch, dass Maria zurück kommen würde. Dann wartete sie, dass sie sich melden würde. Doch nichts geschah.

      Inzwischen ging sie längst zur Schule. Aber ganz entgegen aller durch den Vater gesäten Befürchtungen, gefiel ihr die Schule. Sie lernte leicht und gern. Es machte ihr Spaß, etwas Neues zu begreifen. Was ihr nicht gefiel, war ihre Stellung als Außenseiterin in der Klasse. Als im Dezember alle Kinder ein blaues Halstuch von den Großen aus der vierten Klasse umgebunden bekamen, stand sie abseits und ging leer aus. Sie durfte nicht an den Pioniernachmittagen teilnehmen. Stattdessen ging sie zur Christenlehre oder später zum Kommunionsunterricht. Doch das kam ihr nicht halb so lustig vor, wie das, was die anderen ihr gelegentlich von den Pionieren erzählten.

      Erst zwei Jahre später erhielt Manuela das erste Lebenszeichen von Maria, als eines Tages eine junge Frau am Schultor auf sie zu kam.

      »Du bist doch Manuela, die Schwester von Maria?«, sprach sie Manuela an, die nickte. »Ich bin Ingrid, wir waren zusammen auf der Berufsschule, Maria und ich. Sie hat mich gebeten, dir das hier zu geben.« Ingrid

      holte einen Brief aus der Tasche und drückte ihn Manuela in die Hand. »Du kannst ihr schreiben. Aber sie wird ihre Antworten immer an mich schicken. Seit zwei Jahren hat sie vergeblich versucht, zu dir Kontakt aufzunehmen. Aber anscheinend hat euer Vater die Briefe abgefangen.«

      Wie betäubt hatte Manuela da gestanden, der Brief in ihrer Hand schien zu glühen. Wo sollte sie ihn lesen? Als einzige Möglichkeit fiel ihr die Kirche ein. Der Priester würde dem Vater sogar bestätigen, dass sie dort gewesen war, falls er ihre Notlüge überprüfen würde. Denn das war wichtig, wollte sie sich nicht der Gefahr einer Bestrafung aussetzen. Längst hatte sie begriffen, was es hieß, vom Vater hart rangenommen zu werden. Wie sehr fürchtete sie sich vor den Momenten, wenn er schon mit dem Stock in der Hand hinter der Tür stand, als sie heim kam. Wenn er dann die Frage stellte: »Na mein Fräulein, hast du mir was zu sagen?«, dann wusste Manuela, dass irgendein kleines Vergehen an seine Ohren gedrungen war. Nur seine ausgesprochene Prüderie bewahrte sie davor, auf den nackten Hintern geschlagen zu werden. Schlimm war es trotzdem, wenn er ihr noch während des Schlagens sein beliebtestes Bibelzitat vorbetete: Wen der Herr liebt, den züchtigt er.

      Nun saß sie in der letzten Reihe der Kirche und faltete den Brief ihrer Schwester auseinander. In sauberer

      Handschrift, in gut lesbaren Druckbuchstaben hatte Maria den Brief an ihre kleine Schwester verfasst:

       Liebe Manuela, geliebte kleine Schwester!

       Ich hoffe sehr, daß Dich dieser Brief erreicht. So oft schon habe ich an Dich und Mutter geschrieben, doch ich befürchte, die Briefe sind nicht an unserem Vater vorbei gekommen. Für ihn bin ich wohl gestorben, er für mich aber auch!

       Ich hoffe, es geht Dir gut. So gut, wie es einem in dieser Familie gehen kann. Ich denke oft an Dich, meine Kleine. Aber ich bin froh, daß ich weggegangen bin. Jetzt geht es mir wirklich gut. Ich habe eine gute Arbeit, eine eigene kleine Wohnung und seit Kurzem einen Freund. Bernd ist sehr nett.

       Liebe Manuela, bitte antworte mir so schnell Du kannst! Dann schreibe ich Dir noch mehr. Ich schicke alle Briefe zu Ingrid.

       Bitte paß gut auf, daß der Vater keinen Brief findet! Ich warte voll Sehnsucht auf Deine Antwort.

       Deine Schwester Maria

      

      Stumm legte Manuela den Brief wieder zusammen. Sie war froh, endlich eine Nachricht von Maria bekommen zu haben, aber auch ein bisschen wütend, dass es Maria gut ging und sie selbst keine Chance hatte, dem Regime ihres Vaters zu entfliehen.

      Doch welch ein Glück, dass sie in den letzten zwei Jahren schon so gut lesen und schreiben gelernt hatte.

      Sobald sie eine Gelegenheit fand, wollte sie antworten. Die Adresse prägte sie sich sofort fest ein, für den Fall, dass sie den Brief nicht aufheben konnte. Aber jetzt musste sie erst einmal schnellstens nach Hause.

      »Guten Tag Mutti!«, begrüßte sie ihre Mutter, die in der Küche am Herd stand. Seit Manuela zur Schule ging, arbeitete die Mutter wieder als Verkäuferin und nutzte die Zeit, in der mittags der Konsum geschlossen hatte, um das Essen für ihren Mann vorzubereiten, der dann bald von der Schicht im Walzwerk heimkehrte.

      »Du kommst spät«, bemerkte die Mutter.

      »Ich habe eine Frau