detaillierten Ausgabe.
Sigrid sagt immer wieder, dass er die Kirche doch sowieso nur durch den Sucher seiner Spiegelreflexkamera sieht. Gemeinsame Besichtigungen lehnt sie deshalb seit Jahren kategorisch ab, weil Harald sich zu viel Zeit für Einzelheiten nimmt und das verschlimmert nur ihre Nervosität. Der knappe Reiseführer, den er benutzt, beschreibt lediglich einen typisch romanischen Sakralbau, warnt vor dem sehr steilen Anstieg zur Kirche, verliert jedoch kein einziges Wort darüber, dass es sich bei der Krypta um ein wahres kunstgeschichtliches Kleinod handelt, in ganz Italien berühmt, das Highlight ihrer Venetien-Rundreise.
In diesem sakralen Raum fühlt er das erste Mal seit langem so etwas wie ein Glücksgefühl aufblitzen. Es verflüchtigt sich jedoch sofort wieder, als Sigrid im Altarraum hektisch hin und her zu laufen beginnt. Die Absätze ihrer Schuhe klappern hart und nervenaufreibend auf dem antiken Marmor-Fußboden. Geduldig wartet er ab, bis die Geräusche verklingen.
Harald bedauert, dass sich die gemeinsamen Ferientage durch hohe Erwartungen und maßlose Enttäuschungen auszeichnen. Heimlich hat er von einem romantischen Urlaub zur Feier ihrer Silberhochzeit geträumt, zweite Flitterwochen sollten es seiner Meinung nach werden. Eine liebevoll und detailliert geplante Rundreise im Frühling hatte er sich gewünscht, im Mittelpunkt Besichtigungen ausgewählter Kunstdenkmäler, Kirchen und Museen, mit Übernachtungen in romantischen Luxushotels und der Besuch bekannter Edel-Restaurants am Abend, einfach alles perfekt. Naiv hatte er gehofft, mit diesen Mitteln ihre Ehe positiv zu beeinflussen. Doch aus seinem schönen Plan hat sich ein unvorbereiteter, liebloser Kurztrip mit nüchternen, billigen Nachtquartieren und einigen wenigen, eher zufälligen, Besichtigungen entwickelt.
Restaurants wählen sie erst abends auf die Schnelle aus, nach dem Zufallsprinzip. Ein Grauen für Harald.
Die Gründe für diese drastischen Unterschiede liegen zu Hause in Heidelberg. Dort waren in den letzten Wochen detaillierte, liebevolle Reisevorbereitungen, auf die er so großen Wert legt und in die er immer viel Zeit investiert, völlig unmöglich. Renovierungsarbeiten an ihrem Haus zogen sich durch massive Fehler der Handwerker schier endlos in die Länge. Harald war fest davon überzeugt, dass Sigrid die Renovierung nicht in den Winter verschieben wollte. Deshalb fragte er sie gar nicht erst. Und so reisen die beiden während der Hauptsaison. Harald leidet unter hohen Temperaturen und großer Schwüle, nahezu unerträglichem Lärm und überfüllten Hotels, während Sigrid Hitze und Lautstärke völlig gleichgültig gegenüber steht. Für sie zählt nur, dass zu Hause die Arbeiten am Haus zu ihrer vollen Zufriedenheit abgeschlossen sind. Im Spätsommer soll dann nachträglich ihre Silberhochzeit mit einer glänzenden Gartenparty gefeiert werden, mit vielen Gästen, Prosecco in Strömen und angesagtem Fingerfood. Harald empfindet jetzt schon Abscheu, wenn er an diese Feier denkt.
In solchen Augenblicken versteht er das erste Mal in seinem Leben Aussteiger. In Gedanken spielt er verschiedene Möglichkeiten durch, in Venetien zu bleiben. Hin und wieder schaut er sehnsüchtig in die Schaufenster der Immobilienmakler, doch auf Anhieb gefällt ihm kein Angebot. Schade.
Einen Augenblick genießt er noch bewusst die angenehme Kühle der Krypta, dann steigt er langsam die schmale, ausgetretene Wendeltreppe hinauf in die helle Oberkirche.
Hastig betritt Sigrid gerade das Baptisterium, das in einem Seitenschiff liegt. Wie so oft bewundert er, dass seine Frau im Gehen lesen kann, ohne mit Gegenständen zu kollidieren.
Auf dem Weg zur Hauptapsis bemerkt Harald rechts einen goldenen Schimmer. Neugierig schlendert er darauf zu und bleibt vor einem Bildnis stehen, das einen männlichen Heiligen darstellt. Das Gemälde im Hochformat zeigt kein vollständiges Rechteck, denn die obere Seite bildet ein sanftes Oval. Der goldene Heiligenschein der Figur wird dadurch zusätzlich betont. Warme Rot- und Goldtöne dominieren das Bildnis. Der Heilige trägt ein rotes Gewand, in den Händen hält er einen Palmzweig. Angestrengt überlegt Harald. Bedeutet das nicht, den Tod besiegen oder den Eintritt ins Paradies? Mehr fällt ihm dazu spontan nicht ein. Harald spürt eine gewisse Faszination die von dem Heiligen ausgeht, der den Betrachter sanft, milde und doch so beharrlich anblickt. Das erste Mal in seinem Leben fühlt Harald Ergriffenheit vor einem religiösen Bildnis. Erstaunt über sich selbst, denn er hat sich in den letzten Jahren zunehmend von Religion und allen Glaubensfragen distanziert, bis hin zum vollständigen Atheismus. In Betrachtung und Gedanken versunken, vergisst er, das Bildnis zu fotografieren und plötzlich bemerkt er, dass er nicht mehr alleine vor dem Heiligenbild steht.
Ein Priester steht neben ihm, lächelt ihn an und grüßt leise. Lebhaft deutet der Priester auf den kleinen Kunstreiseführer und fragt in gutem Deutsch, ob Harald sich für das Heiligenbild interessiert.
Verwundert nickt er stumm.
Einen Moment stehen die beiden Männer einträchtig schweigend vor dem Bildnis.
Der Priester tippt Harald sanft mit dem Ellenbogen an, deutet mit dem Kinn auf einen Mann, der hektisch versucht, den berühmtesten Kunstschatz der Kirche, eine Pieta aus Sandstein, die wahrscheinlich im 15. Jahrhundert gefertigt wurde, zu fotografieren. Der Mann trägt einen einfachen Strohhut unter den Arm geklemmt, sein Gesicht ist stark gerötet, vermutlich vom steilen Aufstieg zum Dom. Er bewegt sich immer ungeduldiger, doch die Lichtverhältnisse in der Kirche erfordern technisches Geschick und Erfahrung, um die Pieta in ihrer ganzen Schönheit abzulichten. Sein Geduldsfaden reißt, er stülpt den hinderlichen Hut kurzerhand über eine auffallende, große antike Vase, die gerade neben ihm steht.
Sowohl Harald als auch der Priester versuchen, ihr Lachen zu unterdrücken. Der Priester konzentriert sich fest auf das Heiligenbild. Harald sieht nach unten, er zählt erst schwarze, danach weiße Marmorsteine im Fußbodenmosaik. Vergebens, beide glucksen mal lauter, mal leiser vor sich hin. Deshalb verspricht der Priester Harald kichernd einen guten Espresso und einen Blick in einen wertvollen, antiquarischen Kunstband. Dieses wertvolle Buch stammt noch von seinem kunstbegeisterten Vorgänger und zeigt ganz ähnliche Heiligenbilder.
Der Priester bemerkt, dass Harald unsicher zu Sigrid hinüberblickt. Sofort versichert der Geistliche, dass er ihn nur wenige Minuten aufhalten wird.
Sigrid steht mittlerweile interessiert vor einem Kunstschmiedegitter, das die linke Seitenapsis verschließt. Aus den dürftigen Informationen des Reiseführers weiß Harald, dass dieses Gitter kunstgeschichtlich interessant ist. Außerdem befindet sich in der Seitenapsis der Domschatz. Harald ist sich sicher, dass Sigrid hier einige Zeit andächtig vor repräsentativen Prunkgegenständen verbringen wird. Diese übertriebene Pracht lehnt er selbst strikt ab. Ihm fallen TV-Sendungen ein, die er bevorzugt, besonders Talk-Shows, in denen Fragen der Doppelmoral, die die Institution der Kirche betreffen, kontrovers beleuchtet und diskutiert werden. Bei solchen Gelegenheiten sitzt Sigrid kerzengerade auf dem Sofa, ihr Mund nur noch zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Mindestens dreimal pro Sendung bemerkt sie, dass parallel ein Krimi läuft, begleitet von gequälten Seufzern an kritischen Stellen.
Vielleicht bietet sich hier und jetzt eine Gelegenheit für Harald, einmal selbst, sozusagen vor Ort, seine Meinung zu äußern. Entschlossen nickt er dem Priester zu.
In stillschweigendem Einverständnis huschen die beiden Männer durch eine schwere Holztür in die Sakristei. Als die uralte, mit Schnitzereien verzierte Tür leise hinter ihnen zuläuft, lachen sie erleichtert. Einige Minuten später sitzen sie bei einem vorzüglichen Espresso und betrachten in aller Ruhe mittelalterliche Heiligenbilder in dem antiquarischen Kunstband. Nach und nach kommen sie ins Gespräch, dabei fühlen sie sich spontan vertraut, als ob sie sich schon jahrelang gut kennen.
Beim zweiten Espresso fragt der Priester Harald nach seinem Vornamen und Harald erfährt, dass der Priester Ettore heißt.
Obwohl sich Harald als Atheist betrachtet, kostet es ihn Überwindung, den Priester zu duzen. Energisch schiebt er seine Skrupel beiseite und konzentriert sich auf sein sympathisches, lebhaftes Gegenüber. Schon vergisst er Weihe und Amt seines Gesprächpartners. Beide Männer spüren, dass eine besondere Freundschaft entsteht, genießen die Freude darüber, ohne große Worte zu verlieren.
Laut und temperamentvoll, von Gesten lebhaft untermalt, erzählt Ettore, dass er seit vielen Jahren mit einem Pfarrer, Georg, in Deutschland befreundet ist. Georg führt eine Pfarrei bei Freiburg und Ettore besucht