Susanne Wilting

Geschichten aus dem Alltag


Скачать книгу

dass Ettore bei seinen Besuchen in Freiburg die deutsche Sprache fast nebenbei gelernt hat.

      Danach beschreibt Harald seine Heimatstadt Heidelberg, die historische Altstadt mit dem berühmten Schloss.

      Andächtig hört Ettore zu.

      Die fast kindliche Neugier und Reiselust seines neuen Freundes berührt Harald und spontan lädt er Ettore nach Heidelberg ein. Während der Renovierung haben Sigrid und er ein hübsches Gästezimmer eingerichtet, denn mittlerweile sind ihre Kinder ausgezogen und freuen sich über ein komfortables Gästezimmer. Ettores Besuch stellt Haralds Meinung nach eine schöne Gelegenheit dar, das Gästezimmer einzuweihen. Was spricht also gegen eine Einladung?

      Ettores Gesicht strahlt vor aufrichtiger Freude, als Harald ihn einlädt. Ein selten emotionaler Tag in Haralds Leben und schnell tauschen die beiden Postadressen, Telefon-Nummern und E-Mailadressen aus.

      Während des Gesprächs ist Harald ein antikes, mit kleinen Goldblechen beschlagenes, Kästchen aufgefallen. Immer wieder wandert sein Blick zu dem auffälligen Stück. Schließlich fragt er nach der Funktion des kleinen Kastens und Ettore erklärt, dass das Kästchen als „Reliquien-Schwein“ bezeichnet wird.

      Für einen Sekundenbruchteil stutzt Ettore und schon dröhnt befreiendes Gelächter durch die Sakristei.

      Bei diesem Versprecher erinnert sich Harald an einen wissenschaftlichen Artikel, den er vor einiger Zeit über Sigmund Freuds Werk gelesen hat. Ein Absatz widmet sich ausführlich den Thesen zu Versprechern. Sofort legt er Ettore in groben Zügen Freuds Thesen zu auffälligen Versprechern dar, die sich hauptsächlich auf unterdrückte Konflikte des Sprechers konzentrieren. Beim Lesen kamen ihm Freuds Thesen haarsträubend vor. Er glaubt sich zu erinnern, dass sie im Text als Freudsche Fehler oder Fehlleistungen bezeichnet werden. Schlagartig wechselt die Stimmung seines Gastgebers.

      Lange schweigt Ettore betroffen, tiefe Stille herrscht in der Sakristei.

      Harald weiß absolut nicht, wie er sich verhalten soll. Hat er einen Fehler begangen? Darf er den Namen Sigmund Freud einem Priester gegenüber nicht nennen, vielleicht wegen der starken Betonung der Sexualität in der Psychoanalyse? Das kann doch heutzutage nicht mehr wahr sein, oder? Bisher zählt kein Geistlicher zu seinem Freundeskreis, also fehlen ihm Erfahrungen und Vergleichsmöglichkeiten und er fühlt sich verunsichert. Soll er die Situation möglichst geschickt überspielen und das Verhalten des neuen Freundes ignorieren? Oder einfach nachfragen? Da fällt ihm ein, dass am Ende des Artikels die Theorie der Freudschen Fehlleistungen in Frage gestellt wird. Sprachwissenschaftler deuten sie mittlerweile als Montagefehler beim Satzbau. Gerade will er Ettore von den neueren Forschungsergebnissen erzählen, als der Priester sein Schweigen bricht.

      Mit leiser Stimme vertraut Ettore ihm an, dass er seinen Glauben komplett verloren hat. Daraus entstehen für ihn eine tiefe Sinnkrise und schreckliche Zukunftsängste.

      Schockiert über diese Offenheit sehen sich die beiden über das zufällig aufgeschlagene Bild des Heiligen an, der sie sanft und gleichmütig aus dem Mittelalter anlächelt.

      Verlegen räuspert sich Harald, gleichzeitig rutscht ihm auch schon die Frage heraus, ob Ettore sich überhaupt noch in der Lage sieht, sein Amt auszuüben.

      Ettore zögert und zuckt dann traurig die Schultern. Schließlich schüttelt er den Kopf, langsam steigen ihm Tränen in die Augen. Er winkt ab, als Harald tröstend die Hand nach ihm ausstrecken will.

      Um die Situation irgendwie noch zu retten, wiederholt Harald seine Einladung nach Heidelberg und erwähnt, dass auch Sigrid sich über den Besuch freuen wird. Bei diesen Worten beschleicht Harald ein flaues Gefühl. Irgendetwas stimmt nicht, doch er stellt sein Empfinden erst einmal zurück.

      Ernst klopft Ettore mit dem Zeigefinger auf den Notizzettel mit der Adresse, nickt nachdrücklich, sprechen kann er im Moment nicht.

      Hilflos fühlt Harald sich, unendlich hilflos und gleichzeitig empfindet er tiefes Mitleid mit Ettore. Beide Männer stehen auf und schütteln sich die Hände.

      Ettore begleitet Harald zur Tür, schweigend umarmen sie sich. Durch die schwere Holztür schlüpft Harald verstört wieder zurück ins Kirchenschiff.

      In einer Kirchenbank sitzt Sigrid. Nach den vielen Ehejahren erkennt Harald ihre Wut allein an ihrer kerzengeraden Körperhaltung. Als er zu ihr tritt, sieht ihr Gesicht versteinert aus. Mit einer knappen Handbewegung fordert sie ihn auf, die Kirche sofort zu verlassen. Aus einem Impuls heraus, will Harald widersprechen, er möchte unbedingt in Ruhe die Apsis besichtigen und fotografieren. Doch dann nickt er kurz und verlässt nach seiner Frau die Kirche. Leise seufzt er, das gibt Ärger. War er doch länger in der Sakristei als er gedacht hat?

      Sigrid schreit schon los, bevor sich die Kirchentür hinter ihm geschlossen hat. Auf der Stelle will sie wissen, was er sich dabei gedacht hat, so lange zu verschwinden. Wo, zum Teufel, hat er sich wieder rumgetrieben? Und ihr reicht es jetzt endgültig mit ihm, immer dieses Theater. Das wollte sie ihm übrigens schon zur Silberhochzeit sagen, das wäre der richtige Zeitpunkt gewesen.

      Spontan fallen Harald Sigrids unzählige Shopping-Touren ein, bei denen er immer wie ein vergessenes Paket herumsitzt. Er bemüht sich, bei dieser Assoziation nicht zu lachen.

      Wortlos dreht Harald um und schlägt den Weg zum Hotel ein. Er will sein Gepäck holen.

      Hinter ihm kreischt Sigrid, doch er fühlt völlige Gleichgültigkeit. Kann man Gleichgültigkeit fühlen? Er weiß es nicht. Unterwegs beschäftigt ihn nicht der Bruch mit Sigrid, den erwartet er schon seit einiger Zeit. Harald weiß mit Bestimmtheit, er wird sich von Sigrid trennen. In aller Ruhe lässt er sich noch einmal das Gespräch mit Ettore durch den Kopf gehen. Besonders berührt ihn, dass der Priester keine Perspektive für die eigene Zukunft sieht, weil er seinen Glauben verloren hat. Wie kann er Ettore helfen?

      Einen Augenblick bleibt Harald direkt vor seinem Hotel in der prallen Sonne stehen.

      Schlagartig versteht er die unvermittelte Vertrautheit zwischen zwei Männern, die sich gerade erst kennenlernen. Gut gelaunt pfeifend betritt er das Hotel.

      Haralds ungewisse Zukunft beginnt.

      Jasper

      Mai 2000

      Die Schulklingel läutet zum Ende der zweiten Pause, der Schultag scheint wie jeder andere zu verlaufen.

      Jaspers Leiche liegt zerschmettert im Treppenhaus der großen Eingangshalle. Schnell breitet sich eine Blutlache neben seinem Kopf aus und bildet einen starken Kontrast zu dem schwarz-weißen Karomuster der Fliesen.

      Flüsternde Mädchen und Jungen drängen sich um den toten Mitschüler, um seine Leiche möglichst genau sehen zu können. Endlich eine richtige Sensation! Eine blutige, sogar eine tödliche Sensation! Genau wie im Film! Sie zeigen keine spontane Trauer, kein Mitleid, überhaupt keine Gefühle, nur ein kleiner Junge beginnt zu weinen. Blitzschnell werden Handys gezückt, um zu fotografieren.

      Frau Rieck, eine junge Lehrerin, kommt aus der Pausenaufsicht. Da sie nicht schwindelfrei ist, benutzt sie das zum Hinterausgang gelegene, geschlossene Treppenhaus und braucht immer etwas länger in die Halle.

      Als Frau Rieck den toten Jasper entdeckt, schreit sie fassungslos: „Mein Gott! Was ist ihm denn passiert?“ Vor Schreck kann sie sich nur mühsam auf den Beinen halten, ihre Stimme zittert: „Hat schon jemand den Notarzt gerufen? Nein?“ Hektisch blickt sie von einem zum anderen, doch sie bekommt keine Antwort. „Sofort in die Klassenzimmer mit euch! Ich übernehme das und bleibe bei ihm! Los jetzt! Los!“

      Murrend und betont langsam zerstreuen sich die Schulkinder.

      Nach dem Notruf bricht Frau Rieck schluchzend neben Jaspers Leiche zusammen.

      Drei Monate früher

      Anne und Thore leben mit ihren drei Kindern in einer alten, verwohnten Reihenhaus-Siedlung. Damit haben sie sich einen langjährigen Traum erfüllt, denn beide Ehepartner sind in vernachlässigten, elenden Komplexen des sozialen Wohnungsbaus am Stadtrand aufgewachsen, in völlig zerrütteten Familienverhältnissen.