Harald Haarmann

Die Anfänge Roms


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für Bodenständigkeit einerseits und für Einwanderung andererseits). Es wird immer wieder dasselbe Argument angeführt, wenn es um die Ablehnung der Einwanderungsthese geht: Die Etrusker können nicht eingewandert sein, weil sich das typische Gepräge ihrer Kultur erst in Italien ausgebildet hat. Dies klingt logisch, und von der Einwanderung eines voll entwickelten Volkes der Etrusker kann deshalb auch keine Rede sein. Tatsächlich sind auch nicht die Etrusker eingewandert, wie wir sie aus Italien kennen, sondern deren Vorfahren, die Proto-Etrusker, in deren Kultur wahrscheinlich noch viel mehr ägäisches Erbgut lebendig war, als es sich im Profil der etruskischen Kultur der vorrömischen Ära identifizieren lässt. Die Frage nach der Einwanderung der Etrusker als des historischen Volkes, das uns in Italien entgegentritt, ist also abwegig, eben weil sie falsch gestellt ist. Damit erübrigt sich aber nicht die »richtige« Frage nach der Herkunft des unübersehbaren ägäischen Kulturerbes. Woher kamen die Vorfahren der Etrusker, die Proto-Etrusker? In dieser Form gestellt, wird die Frage wiederum den Realitäten ethnischer Transformationsprozesse gerecht, mit denen wir es hier zu tun haben.

      Bei den Einwanderern, die im Verlauf des 11. und 10. Jahrhunderts v. Chr. nach Italien gelangen, handelte es sich um »eine zahlenmäßig wahrscheinlich gar nicht starke Gruppe von ›Tyrrhenern‹, die aus dem kleinasiatisch-ägäischen Bereich kommen« (Pfiffig 1989: 8). In den vergangenen Jahren hat die archäologische und sprachhistorische Forschung Erkenntnisse geliefert, die für die Migrationsthese sprechen, und die Annahmen von der Urheimat der Proto-Etrusker im ägäischen Raum stützen.

      In einer Gesamtschau von Charakteristika der etruskischen Zivilisation wird eine Reihe von Parallelen mit altägäischen Kulturen hervorgehoben (Haarmann 1995: 154 ff.):

      –Die prominente Rolle der Frau in der etruskischen Öffentlichkeit;

      –Die Vorliebe für bestimmte Hutformen (konisch, mit Dekor geschmückt, mit Spitze) in der weiblichen Mode;

      –Verbreitung der Doppelflöte als Musikinstrument (bekannt von kykladischen Statuetten, minoischen Fresken und etruskischen Wandmalereien);

      –Die Rituale in Verbindung mit der Ahnenverehrung;

      –Der Typ der sogenannten »Hüttenurne«, der in den Kulturen der ägäischen Bronzezeit und in Etrurien verbreitet war;

      –Geflügelte Greifen in der figuralen Kunst;

      –Der spezielle Typ der Grabstele für Krieger (Lemnos und Etrurien);

      –Die Rolle religiöser Prozessionen;

      –Die Rolle von Masken und ihre Verwendung in Ritualen;

      –Die Sitte, Votivgaben in Heiligtümern zu deponieren, die Körperteile wiedergeben;

      –Die Sitte, Skulpturen von Kindern als Votivgaben zu deponieren;

      –Die religiöse Bedeutung von Tieren (Stier, Schlange);

      –Die graphischen Parallelen ägäischer und etruskischer Zahlensysteme;

      –Die Sitte, anthropomorphe und zoomorphe Votivgaben zu beschriften;

      –Die Sitte, Spiraltexte zu verfassen.

       Lemnische Kultur und Sprache, und frühe Schriftzeugnisse

      Seit Ende des 19. Jahrhunderts v. Chr. sind in der Forschung die Beziehungen zwischen der etruskischen Kultur Italiens mit der der vorgriechischen Bevölkerung auf der Insel Lemnos in der nördlichen Ägäis bekannt. Früher wurde angenommen, dass vielleicht etruskische Piraten auf der Insel Station gemacht hätten. Heutzutage sieht man die Dinge jedoch anders. Aufgrund neuerer Erkenntnisse wird die materielle Hinterlassenschaft (z. B. Keramik) auf Lemnos mit einer proto-etruskischen Kulturstufe assoziiert (Cultraro 2012: 106 f.).

      Auch die Sprache, das Lemnische, ist durch eine Grabstele bekannt, die im Jahre 1885 auf der Insel in der nördlichen Ägäis gefunden wurde. Diese Stele, auf der ein Krieger abgebildet ist, und die eine längere Inschrift mit insgesamt 33 Wörtern trägt, stammt aus dem späten 7. oder frühen 6. Jahrhundert v. Chr. (Abb. 3).

      Die Schrift, in der die Grabinschrift wie auch Beschriftungen auf der Wandung lemnischer Keramikgefäße abgefasst wurden, zeigt deutliche Ähnlichkeit mit der ältesten Version des etruskischen Alphabets in Italien. Inzwischen ist auch nachgewiesen, dass das auf der Insel verwendete etruskische Alphabet altertümliche ägäische Eigenheiten aufweist (Agostiniani 2012). Es kann sich also bei dem Kriegergrab nicht um eine späte Bestattung eines etruskischen Seeräubers handeln, der aus Italien bis nach Lemnos gesegelt wäre.

      Abb. 3: Grabstele von Lemnos (Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr.; Facchetti 2000a: 27)

      Die Sprache der Etrusker ist nicht-indoeuropäisch (Facchetti 2000a, 2008) und sie gehört zum Kreis der altmediterranen Sprachen (Kausen 2013: 196 ff.). Lemnos mit seinem ägäisch-anatolischen Kulturgepräge liegt nicht weit von der Westküste der heutigen Türkei, und es bleibt die Frage, ob die Insel die einzige Region war, wo Proto-Etrusker lebten, oder ob sich deren Verbreitungsgebiet in der Bronzezeit auch auf den Nordwesten Anatoliens ausdehnte. Das Gebiet südlich des Marmarameeres – den antiken Regionen Hellespont und Bithynien entsprechend, die an Lydien angrenzen – ist von Robert Beekes (2003: 6) als proto-etruskische Urheimat identifiziert worden.

      Eine weitere Stütze für die Anatolien-These findet man in Erkenntnissen der Humangenetik. Moderne Untersuchungen zur mitochondrialen DNA der Bevölkerung in der Toskana (wo sich das Genom der etruskischen Bevölkerung nachweisen lässt) haben ergeben, dass deren Merkmale auf Anatolien als Ausgangsgebiet weisen (Achilli et al. 2007, Brisighelli et al. 2009). Die geographische Nähe der Urheimat zu Troja stützt die Annahme, dass die Proto-Etrusker in spätmykenischer Zeit Verbündete dieses Stadtstaates waren.

      Sprachlich lässt sich das Lemnische zweifelsfrei mit dem Etruskischen assoziieren. In der lemnischen Grabstele findet sich die Formel avis sialchvis, ›(im Alter) von 40 Jahren‹, die sprachlich der etruskischen Formel avils machs sealchls, ›(im Alter) von 45 Jahren‹, entspricht. In der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr. wurde Lemnos von den Athenern erobert, und die lemnische Bevölkerung assimilierte sich allmählich ans Griechische.

       image Kultur- und Sprachkontakte im ägäischen Raum: Pelasgisch-griechisch-etruskische Beziehungen

      Das Etruskische hat dem Lateinischen zahlreiche Ausdrücke vermittelt, die in die Fachterminologie des Schiffsbaus und der Schifffahrt integriert sind. Dazu gehören auch einige Wörter, die das Etruskische selbst als Entlehnungen aus dem Griechischen aufgenommen hat (z. B. lat. anchora, ›Anker‹; aplustra, ›Schiffsknauf‹; guberno, ›steuern‹ ← etrusk. ← griech.). Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob die Etrusker im Kontakt mit den Griechen der Magna Graecia diese Ausdrücke von griechischen Seefahrern übernommen hätten. Das kann aber nicht sein, u. zw. aus chronologischen Gründen.

      Als die Etrusker anfingen, mit den Griechen Süditaliens Handel zu treiben, waren sie selbst bereits erfahrene Seefahrer: »Neuere Erkenntnisse zur Seefahrt der Etrusker zeigen technisch hochqualifizierte und weitgereiste Leute, die die Gewässer jenseits von Italien bereits vor dem 8. Jahrhundert v. Chr. befahren haben« (Turfa 2007: 165). Die etruskischen Seefahrer beherrschten also bereits das Know-how des Schiffsbaus, bevor die ersten griechischen Kolonisten nach Süditalien gelangten. Insofern war es gar nicht erforderlich, technische Ausdrücke für den Schiffsbau von den Griechen zu übernehmen.

      Wie aber kann der Transfer technischer Terminologie aus dem Griechischen ins Etruskische erklärt werden? Dieser Transfer fand sicherlich viel früher statt, zu einer Zeit, als die Vorfahren der Etrusker Italiens, die Proto-Etrusker, in der ägäischen Region als Nachbarn der mykenischen Griechen lebten. Im Kontakt mit diesen lernten die Etrusker, wie man Schiffe