dass dies dem Gemälde eine noch gewaltigere Dominanz verlieh. Ursprünglich hätte er das Fresko schon letzten Monat vollendet haben wollen; sein klerikaler Förderer Matthäus Rader, wie dessen Vertrauter Caspar Scioppius und ein holländischer Gelehrter namens Corvin van Cron, den sie als Begleitung angekündigt hatten, brannten darauf, es endlich in Augenschein nehmen zu dürfen. Sie hatten aber auch Verständnis gezeigt dafür, dass er es ihnen nicht präsentieren mochte, bevor er nicht selbst vollständig damit zufrieden wäre. Ende Februar, hatte er ihnen versichert, dürften sie exklusiv zur Enthüllung erscheinen. Er war schon eine Woche überfällig. Die Einladung lag geschrieben auf dem Tisch, nur das genaue Datum fehlte noch:
… möchte ich hochlöblichen Herrschaften, den ehrwürdigen lieben Pater Matthäus Rader, Professor am Sankt Salvator Kollegium, den Philologen Caspar Scioppius und den Doktor der Theologie und Astronomie Corvin van Cron, gegenwärtig Gastdozent an der Theologischen Fakultät der Universität Dillingen, zur Enthüllung des Freskos Die Sixtinische Madonna am … in meinem Atelier des Domkapitels Auf unser Frauen Graben zwischen Dom und Frauentor gelegen, mit diesem Schreiben meine Einladung aussprechen.
Für leibliches Wohl an Speis und Trank ist gesorgt.
Mit hochachtungsvollem Gruß
Johann Matthias Kager, Kunst- und Freskenmaler in Augsburg
Augsburg, den 12. Februar 1614 AD
Matthias hatte sich ganz bewusst für eine Replik dieses Bildes und dieses namhaften welschen Meisters entschieden, nicht weil er sich von möglichen Assoziationen an seine ehemaligen Lehrer am Bayrischen Herzogshof Friedrich Sustris, Peter Candid und Hans Rottenhammer zu distanzieren suchte, und auch nicht, weil er unfähig gewesen wäre, eine eigene Komposition zu schaffen und eindrucksvoll zu inszenieren – sein Können hatte er im Grunde schon an den inneren Tortürmen und am Weberhaus bewiesen. Raffaels Sixtinische Madonna war überall bekannt und wurde wie keine zweite bewundert; gerade auch von denjenigen, die sich in den Schönen Künsten sachverständig glaubten, doch darin nicht wirklich wissend waren, geschweige denn technisch ausgebildet. Es gab außer Raffael genügend andere welsche Künstler, von Federico Barocci und Michelangelo Merisi da Caravaggio über Antonio da Correggio bis zu Marietta Robusti, Tintorettos ältester Tochter, deren Kompositionen einer Sacra Conversazione14 der des Raffaels an Ausdruckskraft und ikonografischer Brillanz sehr wohl das Wasser reichen konnten. Raffael jedoch hob sich von ihnen durch wenige untypische Stilmittel ab. Ob das der Grund war, weshalb sich alle Welt um ihn und seine Sixtinische Madonna scherte, darüber konnte Matthias nur mutmaßen. Allein die außerordentliche Wertschätzung, die man dem Maler entgegen brachte, war Matthias’ Grund, sich dieses berühmten Werks als Vorlage für seine Replik zu bedienen, und damit seinen Stand als Augsburger Kunstmaler auf einen festen Sockel zu stellen, mehr noch, von diesem Sockel aus endlich zum hiesigen Mäzenat vorzudringen und die Chance zu erhalten, zum offiziellen Stadtmaler ernannt zu werden – Hans Müller, der jetzige, wurde diesem Titel nicht mehr gerecht; sein Augenlicht war schwach geworden und seine Hand zitterte, letztlich malte er grauenhaftes Zeug, und Matthias fragte sich immer wieder, wie lange Protektion allein den alten Mann noch in diesem Amt halten mochte. Matthias wusste um die Gunst der Protektion – dass er und seine Frau Ibia so zügig das Augsburger Bürger- und er zudem das Handwerksrecht erhalten hatten, als sie vor elf Jahren von München hierher übergesiedelt waren, war einzig einem entsprechenden Schreiben Herzog Wilhelms15 zu verdanken. Mit dem Ausscheiden aus den dortigen Diensten hatte Matthias diese Quelle der Förderung versiegen lassen. Nicht nur Hans Müller hatte seine Karriere gedrosselt, ärger noch war ihm Joseph Heintz im Weg gestanden. Der hatte sich seinerzeit dermaßen geschickt mit den höheren Augsburger Kreisen verwoben, dass es für Matthias ein Schweres gewesen war, auch ein Schläufchen des Geklüngelteppichs zu erheischen. Das berechnende sich Infiltrieren in den Elitärfilz war dem Basler Meister besser als Matthias gelungen, nicht nur, weil er älter an Jahren gewesen war, über mehr Berufserfahrung verfügte und einiges länger in Augsburg weilte, sondern weil er es bravourös beherrscht hatte, der oberen Eitelkeit ergebenster Diener zu sein. Erst nach Heintz’ Tod, durch Garbs Gunst und dank Raders Fürsprache war Matthias ein allmählicher, doch für sein Empfinden beschämend langsamer Aufstieg gelungen. Rottenhammer, ihm zu Münchner Zeiten noch voraus gewesen, hatte erst vier Jahre nach ihm das hiesige Bürgerrecht erhalten und war meist auswärtig beschäftigt; der bot keine Gefahr.
Matthias legte den Pinsel ab, rieb sich die Kniegelenke, hauchte sich in die Hände und schritt wieder zur Mitte des Ateliers, um das Fresko in seiner Ganzheit wahrzunehmen; das war der Tribut an großformatige Bildnisse, man musste in den vielen Stunden des Malens tausende Schritte hin- und hergehen, um Inaugenscheinnahme und anschließendes Fortfahren zu verbinden. Die Stimmungen der Gesichter des Figurenensembles waren ihm vortrefflich gelungen; die Fürsorge der Madonna, die Ängstlichkeit des Jesuskindes, die Erhabenheit der Heiligen Barbara und die Demut des Papstes Sixtus II., die Tiara abgesetzt, das schüttere Haupt entblößt. Nicht nur deren Physiognomie hatte er originalgetreu wiedergegeben, auch stand das Augenspiel der einzelnen Figuren der Vorlage in nichts nach; Madonna folgte dem Fingerzeig Sixtus II., während die Heilige Barbara auf die beiden Putten sah, die wiederum ihren Blick erwiderten. Stolz war er auch, die Farben aller Bildelemente selbst in kleinsten Nuancen getroffen zu haben: das elfenbeinige Sand im aus jungen Engelsköpfen bestehenden Himmel, das bernsteinerne Honiggold des päpstlichen Chormantels, das tintige Nachthimmelblau und scharlachrote Purpur des Madonnengewandes, und das moosige Waldlichtgrün des Vorhanges, der die Komposition zum oberen Rand hin geometrisch abschloss. Allein Verdruss bereiteten ihm immer noch die Faltenwürfe. Rottenhammer hatte ihn schon seinerzeit gelehrt, dass Gesichter einfach, Faltenwürfe jedoch am schwersten zu malen seien, und Recht hatte er bis heute behalten. Es half nichts; Matthias musste die ganze Kraft seines technischen Könnens in den Schlag der Falten legen und nicht eher ablassen, bis deren Ausführung dem Fresko genau den glanzvollen Rahmen schenkte, das es verdiente, aber auch brauchte, um Ehrfurcht bei seinen Betrachtern zu erwecken, die ihm nur dann weitere Gönnerschaft entgegenbrächten.
Die Zeit drängte. In sieben Tagen würde er die Enthüllung vornehmen, ein Unding, die drei Geladenen länger warten zu lassen. Er schritt zum Tisch, griff sich eine der zahlreichen Federn aus dem Becher, tunkte sie ins Tintenfass und setzte 13. März in die Einladung ein, die er noch heute abgeben würde. Somit zwang er sich, alles daran zu setzen, rechtzeitig mit der Freske fertig zu werden. Mit einem Ziehen in den Knien strebte er zurück an die Wand, nahm den Pinsel auf und machte sich an die dritte Falte von links des rechten Vorhangs.
»Matteo!« Ibia rief von draußen und trat wenige Augenblicke danach ins Atelier, den kleinen Matthias, ihren Sohn, im Arm.
»Gott, wie kalt es hier wieder ist! Man sieht jeden Atemhauch. Du wirst mich eines Tages noch unterm Malen zur Witwe machen und unseren kleinen Matteo zum Vaterlosen!«
Ibia schlug das Schultertuch übers rußschwarze Haar und drückte den Kleinen noch näher an die Brust. Schon öfters hatte Ibia Matthias vorgehalten, dass er nie einheize – der Ofen im Atelier fasste mehr Holz als der in der Wohnstube, und Scheite lagerten genügend draußen unter dem Verschlag –, doch stets vertieft in seine Arbeit, vergaß er es schlichtweg oder wollte sich nicht aus seinem schöpferischen Akt durch so etwas Banales wie heizen herausreißen lassen. Lieber fror er, als auch nur einen Moment eines kreativen Aktes – und das konnte manchmal nur ein einziger Pinselstrich sein – verlustig zu werden. Als Ibia für die Madonna seiner Replik Modell gestanden hatte – sie war das einzige lebende Modell, sonst malte er nach einer Vorlage, seinerzeit aus Rom mitgebracht –, war ihm der Ofen nur deshalb nicht erloschen, weil sie ihn immer wieder darauf hingewiesen hatte; so vertieft war er in ihr Gesicht gewesen, so verliebt in sie, die wie keine andere Frau aus dem Welschland der Sixtinischen Madonna glich. Am liebsten hätte er Madonnas braunem Haar unter dem ockerfarbenen Kopfschleier Ibias Schwarz gegeben, aber diesen Kunstfrevel zu begehen, traute er sich nicht, bei aller Liebe zur Fantasie und zu seiner Frau.
Matthias hielt inne und beobachtete, wie Ibia sich geschickt mit nur einer Hand am Ofen zu schaffen machte, während sie den Kleinen sicher mit der anderen weiter an die Brust drückte. Ihm gefielen ihre flinken Finger und ihre behänden Bewegungen;