Wolfgang Santjer

Gänseblut


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sein Auto zwischen der Scheune und dem Häuschen. Als er ausstieg, kam ihm ein Mann aus der Scheune entgegen.

      »Mensch, Kuno!« Sven lachte. »Hast dich ganz schön verändert, hätte dich fast nicht erkannt!«

      Kuno Hortema umarmte seinen Kameraden spontan. »Hallo, Sven, schön, dich zu sehen!« Er sah ihn besorgt an. »Die lange Fahrt hat dich sicher geschlaucht, du siehst müde aus. Komm mit, ich stell dich meiner Familie vor!«

      Sven folgte ihm in das Wohnhaus. Im Flur betrachtete er kurz sein Spiegelbild. Schwarze Augenränder, tiefe Falten im Gesicht und sein Haar begann vorzeitig grau zu werden. Kunos besorgter Blick wunderte ihn nicht, sein Freund hatte ihn jahrelang nicht gesehen.

      Teure antike Möbel standen in dem breiten Flur. Sven wurde klar, wie unterschiedlich ihrer beider Leben verlief. Kuno der Erbe eines Polderfürsten, und er selbst hatte seinen ganzen Besitz in seinem Auto …

      Seine Gedanken wurden vom lauten Schreien eines Mannes unterbrochen. Sven hörte Wortfetzen heraus: Zeitungsartikel, verstümmelte Gänse und irgendein Idiot, der dafür verantwortlich war.

      Kuno blieb unsicher vor der Bürotür stehen. »Ist vielleicht kein günstiger Moment. Komm, wir gehen in die Küche und holen den Schlüssel vom Ferienhaus.«

      In der Küche trafen sie Kunos Mutter. »Darf ich dir meinen alten Kameraden Sven Richter vorstellen? Sven, meine Mutter Feekeline Hortema.«

      Sie drückte Sven fest die Hand. »Nennen Sie mich bloß nicht so. Sie dürfen Lini zu mir sagen. Da ich die Ältere bin, schlage ich das Du vor. Du Ärmster bist bestimmt hundemüde von der langen Autofahrt. Möchtest du einen Tee oder lieber einen Kaffee?«

      Sven nickte dankbar und unterdrückte ein Gähnen. »Ehrlich gesagt möchte ich mich gerne ein bisschen hinlegen, Frau Hortema, entschuldige bitte – Lini.«

      Kuno Hortema zeigte in Richtung des Büros. »Was hat Vater denn? Den kann man ja draußen schreien hören!«

      »Oha …!«, antwortete seine Mutter. »Heute Morgen auf Seite eins im Rheiderlandkurier: Gänse ohne Brustfleisch am Deich gefunden! Den Rest kannst du dir denken.« Sie nahm einen Schlüssel vom Schlüsselbrett und gab ihn Sven. »Bitte – der ist für dein neues Zuhause und entschuldige meinen schlecht gelaunten Mann. Der beruhigt sich auch wieder.«

      Als er das kleine Ferienhaus betrat, dachte Sven sofort an seine Kindheit. Das alte Arbeiterhaus am Deich.

      Frau Hortema hatte alles vorbereitet. Todmüde ließ er sich in das frisch bezogene Bett fallen.

      Tag 8

      Jan Broning und Maike der Buhr hatten schöne Tage auf dem Campingplatz an der Costa Brava verbracht. Abends besuchten sie die Turteltauben, wie Maike ihren Vater Johann und dessen Freundin Karin scherzhaft nannte.

      Für Jan wurde es langsam Zeit, den Heimweg anzutreten. Für Maike gab es jetzt zwei Möglichkeiten: Sie konnte in Spanien bei den Turteltauben bleiben oder mit zurück nach Leer fahren. Die Wahl fiel ihr nicht schwer, und so verabschiedeten sich die beiden. Maike und Jan hatten eine Zwischenübernachtung in Frankreich geplant. Die Fahrt zurück sollte Maike nicht überanstrengen.

      Jan und Maike waren seit Stunden mit dem Wohnmobil unterwegs. Maike saß auf dem Beifahrersitz und war glücklich, weil sie endlich wieder zusammen waren.

      »Stell dir mal vor, Jan, wir könnten immer so weiterfahren.«

      »Wenn wir Rentner sind, haben wir Zeit genug«, antwortete er gut gelaunt.

      »Wo wollen wir denn übernachten?« Sie blätterte im Straßenatlas und sah ihn fragend an.

      »Ein Geheimtipp, lass dich überraschen!«, antwortete er und freute sich schon diebisch darauf.

      Kurze Zeit später fuhren sie auf einer Landstraße in Frankreich. Die Gegend wurde immer einsamer und Maike sah ihn zweifelnd von der Seite an. In diesem Moment setzte Jan den Blinker und fuhr auf ein Schloss zu. Er bremste das Wohnmobil vor einem Torbogen ab und Maike konnte vom Beifahrersitz aus durch den Bogen in den Schlosspark sehen. Dass es sich nicht um einen normalen Park handelte, wurde ihr klar, als sie die vielen Wohnwagen zwischen den großen Bäumen sah.

      Jan freute sich über ihren überraschten Gesichtsausdruck. »Da staunst du, was? Ein Campingplatz in einem Schlosspark. Hinter dem Park verläuft der Fluss Saône und dort gibt es ein wunderschön gelegenes Restaurant. Komm mit, wir melden uns bei der Rezeption an.« Sie stiegen aus.

      Hinter dem Tresen saß ein Mann und lächelte sie an. Maike kramte ihr verstaubtes Französisch heraus. Nach ihren ersten mühsamen Worten hob er seine Hände und lachte. »Bitte! Sie können Deutsch mit mir sprechen. Ich komme aus Ter Apel und das liegt ja bekanntermaßen in der Nähe von Leer, nur in den Niederlanden. Ein Campingplatz in einem französischen Schlosspark unter der Leitung eines Niederländers.«

      Es stellte sich heraus, dass der Campingplatz bei den niederländischen Nachbarn sehr beliebt war. Er lag etwa auf der Hälfte der Strecke nach Spanien und wurde gerne als Zwischenübernachtungsplatz benutzt, wobei die Camper gern auch mal ein paar Tage länger blieben.

      Kurze Zeit später spazierten Jan und Maike durch den Park, vorbei an alten Bäumen, riesigen Hecken, und sogar der Schlossteich mit einem Graben, der um das Gebäude herumführte, fehlte nicht. Sie gingen über einen schmalen Weg durch Wiesen zu dem kleinen Restaurant am Fluss.

      Nach zwei Flaschen Rotwein und einem köstlichen Menü wanderten sie zurück zum Campingplatz. Maike umarmte Jan und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Sie grüßten noch schnell einige Camper, die vor ihren Wohnwagen saßen, und verschwanden in Windeseile im Wohnmobil. Sie rissen und zerrten an ihrer Kleidung und fielen im Bett übereinander her. Schließlich lag Maike erschöpft in Jans Armen. Plötzlich hörten sie draußen Applaus.

      Maike lief rot an. »Meinen die uns?«

      Jan fasste sich an die Stirn. »Ich hab vergessen, die Stützen vom Wohnmobil herunterzudrehen und …«

      »… unser Wohnmobil hatte dann wohl eben schweren Seegang!«, vermutete Maike. Sie prusteten los.

      Tag 9

      Sven Richter stand im Büro des Polderfürsten. Vor ihm saß Hero Hortema, sein zukünftiger Boss. Er sah aus wie sein ehemaliger Ausbilder beim Heer. Groß, athletische Figur, graues Haar und ein markantes Kinn. Hortema sah ihn geringschätzig von oben bis unten an.

      »So, Sie sind also dieser Held aus Afghanistan, der meinem nichtsnutzigen Sohn den Arsch gerettet hat. Damit wir uns gut verstehen: Ich erwarte bedingungslosen Einsatz von meinen Leuten. Ich habe gehört, dass Sie nicht ungeschickt sein sollen. Bei uns gibt es einiges zu tun. Hier!« Hortema stand auf und drückte Sven eine Liste in die Hand. »Ihr Wochenplan.« Er lachte fies, als Sven sprachlos auf die lange Liste starrte. »Ja, Ihre kostenlose Unterkunft im Ferienhaus müssen Sie sich schon verdienen. Kennen Sie sich auch mit Dieselmotoren aus?«

      Sven nickte. Ein Fehler, wie er kurz darauf feststellte.

      »Dann fahren Sie jetzt erst einmal zum Lohnunternehmen Böltjer, die haben dort ein Problem mit einem Motor. – Kuno sagte mir, dass Sie bei uns Jäger werden möchten.«

      »Ja, ich …«

      Hortema unterbrach Sven sofort. »Dann geben Sie sich Mühe bei Böltjer, der ist nämlich mein Stellvertreter im Hegering und jetzt raus hier, an die Arbeit.«

      Vor dem Bauernhof der Hortemas

      Kuno Hortema traf seinen Freund Sven vor der Scheune. Sven zeigte ihm den Zettel mit seinen Aufträgen. Sprachlos starrte Kuno auf die lange Liste. »Für eine Woche!«, sagte Sven und atmete tief durch. Kuno war entsetzt, dafür brauchte Sven ja den ganzen Monat! Er sah seinen Freund mitleidig an. »Ich rede noch mal mit Vater, so ist das nicht in Ordnung. Lass den Zettel hier.«

      »Jetzt soll ich zu einem Böltjer in die Firma, irgendetwas mit einem defekten Motor«, sagte Sven.

      »Was, zu Böltjer?!«, fragte Kuno fassungslos. »Mensch,