hast meine Mühle gesprengt!«, schrie Alting.
»Scheiß auf deine Mühle, du tickst doch nicht richtig!«, brüllte Böltjer.
Die Sache eskalierte zu einer Schlägerei. Siefko und Wirtje genossen das Schauspiel, bis die Stimme von Böltjers Frau Jani aus dem Bürofenster schrillte. »Max, Moritz – steht da nicht rum, sondern trennt die beiden!«
»Schade«, murmelte Siefko.
Nur mit Mühe gelang es ihnen, die Kontrahenten festzuhalten. Alting riss sich los und lief zu seinem Wagen. Bevor er einstieg, drehte er sich noch einmal um und schrie: »Dafür wirst du büßen, Böltjer! Ich erwisch dich noch und dann dreh ich dir den Hals um, so wie du es mit den Gänsen machst!«
»Verpiss dich, du Arschloch!«, rief Böltjer zurück. Dann drehte er sich zu seinen Angestellten um. »Und ihr, habt ihr nicht anderes zu tun?! Seht zu, dass die Maschinen fertig werden!«
Tag 2, vormittags,
ein Bauernhof im Rheiderland.
Der Jäger saß kreidebleich am Küchentisch und hielt den Rheiderlandkurier in den zitternden Händen. Das konnte doch nicht wahr sein. Sie hatten den Wilderer gefunden, den er erschossen und vergraben hatte …
Tag 2, nachmittags,
am Dollartweg in der Nähe des Fundortes der Leiche
Jan Broning und Stefan Gastmann hatten den Zivilwagen vor dem Deich geparkt, hinter dem in den Salzwiesen das Skelett gefunden worden war. Eine lange Reihe von Häusern, der Dollartweg, lief parallel zum Deich bis zu einer Kreuzung. Rechts ging es über den Deich zur Bohrinsel Dyksterhusen. Links verlief die hoch gelegte schmale Straße über ein historisches Sieltor weiter in Richtung Ditzumerhammrich.
Die beiden hatten sich die Arbeit aufgeteilt und trafen sich zwischendurch immer wieder an dieser einzigen Straße, nur um festzustellen, dass der andere auch niemanden angetroffen hatte. Die Ausstrahlung der Häuser lag irgendwo zwischen einsam und trist. Der verhangene Himmel, der Nieselregen und die heruntergelassenen Rollos versetzten Jan Broning in düstere Stimmung. Die Nähe zum Dollart brachte wieder mal Erinnerungen, die er sonst verdrängte.
Er ging gerade an einem eingefallenen alten Arbeiterhaus vorbei. Die Büsche und Sträucher wuchsen ungehindert zwischen den Mauern. Man konnte noch erkennen, dass es sich einmal um ein kleines Wohnhaus mit einem angesetzten Stall gehandelt hatte. Die Ruine sah verwunschen aus, Kinder würden es als Hexenhaus bezeichnen.
Daneben stand ein noch bewohntes Haus. Keine heruntergelassenen Rollos, und das davor geparkte Auto mit dem Leeraner Kennzeichen ließ hoffen.
Als er klingelte, öffnete eine Frau misstrauisch die Tür einen Spalt breit. Die Kette war vorgelegt. Früher hatte hier keiner sein Haus abgeschlossen, aber die zunehmende Kriminalität hatte auch die Menschen in dieser einsamen Gegend vorsichtiger gemacht.
»Moin, entschuldigen Sie bitte die Störung.« Er zeigte ihr die Dienstmarke. »Mein Name ist Jan Broning von der Kriminalpolizei Leer. Nichts passiert, es handelt sich nur um eine Befragung.«
»Sicher wegen dem Ötzi.« Sie entfernte die Kette und öffnete die Tür. »Hab schon davon gelesen.«
»Genau, Frau …?«
»Gretchen Driever.« Sie wurde rot. »Oh, wie unhöflich von mir, kommen Sie doch bitte herein.«
Sie ging voraus, Broning schätzte ihr Alter auf fünfundsechzig bis siebzig Jahre, sie war etwas übergewichtig. Ihre Haare trug sie in einem dicken Knoten. Ständig wischte sie sich ihre abgearbeiteten Hände an der altmodischen Schürze ab. Sie erinnerte ihn an die Bronzefigur der alten Fischerin vor dem Ditzumer Sieltor. Im Flur roch es nach Tabak – Pfeifentabak, da war er sich sicher, sein Vater hatte auch immer diese Marke geraucht. Irgendetwas mit einem Grafen hatte auf der Packung gestanden. »Ist Ihr Mann auch zu Hause, Frau Driever?«
Er erhielt keine Antwort. Frau Driever stand vor dem Elektroherd und schaute auf den glimmenden Ascherest auf einer Herdplatte. »Herr Kommissar, mein Mann ist schon vor Jahren gestorben.« Sie lief schon wieder rot an. »Ich hab immer geschimpft, wenn er im Haus geraucht hatte. Wegen der Gardinen und so.« In ihren Augenwinkeln bildeten sich Tränen. »Ist doch verrückt … jetzt streue ich seinen Lieblingstabak auf die heiße Herdplatte. Ich schließe die Augen, rieche den Tabak und denke, er sitzt neben mir.« Sie räusperte sich. »Nehmen Sie doch Platz.« Frau Driever zeigte auf das Sofa, das zusammen mit einem großen Rattanstuhl vor dem Küchentisch stand. »Ich wollte mir gerade einen Tee machen, sie trinken doch sicher auch gerne eine Tasse.«
Jan Broning glaubte die Einsamkeit in diesem Haus mit den Händen greifen zu können. Deshalb nahm er das Angebot an. Als Frau Driever Tassen auf den Tisch stellte, klingelte sein Handy. Er drückte auf die grüne Taste. »Stefan, was gibt’s?«
»Jan, hier scheint alles ausgestorben zu sein. Entweder stehen die Häuser leer, oder die Leute wollen nicht mit mir sprechen. Jedenfalls geht hier keiner an die Tür.«
»Du, ich bin hier gerade bei Frau Driever in der Küche.«
»Ihr Kollege möchte doch sicher auch einen Tee«, unterbrach sie ihn. »Er soll ruhig zu uns kommen.«
Broning nickte. »Danke, Frau Driever. Stefan, du bist zum Tee eingeladen. Das Haus neben der Ruine.«
Kurz darauf saßen die Polizisten auf dem Ostfriesensofa und Frau Driever neben ihnen auf dem Stuhl. Auf der Wachstuchtischdecke standen drei dampfende Tassen. Als Stefan den Tee mit dem Löffel umrührte, traf ihn ein strafender Blick von Frau Driever.
Sie erklärte, dass es sich bei den meisten anderen Häusern in der Straße um Ferienhäuser handelte. Deshalb hätten sie niemanden angetroffen. »Ja, meine Herren, verdammt einsam hier und kein Ort zum Altwerden. Früher hatten wir hier eine gute Nachbarschaft, jeder kannte jeden und heute …« Frau Driever sah verzweifelt aus. »Ich glaube, ich werde auch verkaufen und wegziehen. Keine Verwandtschaft mehr und wenn ich erst nicht mehr mit dem Auto fahren kann …«
Broning befragte sie zu dem aufgefundenen Toten. Sie hob bedauernd die Hände. »Da weiß ich gar nichts von, ich hab mir auch schon den Kopf darüber zerbrochen.« Sie bemerkte die Enttäuschung in den Gesichtern der Polizisten. »Aber …« Jetzt lächelte sie zum ersten Mal. »Mein verstorbener Opa war ein berüchtigter Ahnenforscher und hat sich auch für das Kriegsende interessiert. Moment bitte!«
Sie verließ die Küche und kam kurz darauf mit einem altmodischen Schulheft zurück. »Opas Kriegserinnerungen als Volkssturmmann!« Sie wedelte mit dem Heft. »Ich hätte nicht gedacht, dass wir die noch einmal in die Hand nehmen.« Eine Weile blätterte sie konzentriert darin herum. »Haben Sie bei dem Toten eine Erkennungsmarke gefunden?« Sie sah die Polizisten fragend an. Jan Broning verneinte. »Das hätte Ihnen sicher weitergeholfen, oder?« Frau Driever lächelte wieder, gab jeweils einen Kluntje in die leeren Tassen und schenkte nach.
»Allerdings, Frau Driever.« Broning lächelte respektvoll. »Sie scheinen sich ja auch schon Ihre Gedanken gemacht zu haben.«
»Wenn Sie wüssten, wie viel Zeit ich habe … – Bei Kriegsende war hier richtig was los. Der Volkssturm, das letzte Aufgebot, war eilig organisiert worden. Es fehlte an allem, Waffen, Uniformen und Soldbüchern. Mein Opa gehörte auch zum Volkssturm und hatte große Angst, als Partisan behandelt zu werden, weil er weder ein Soldbuch noch eine Erkennungsmarke hatte.« Gretchen Driever suchte eine bestimmte Stelle in dem Heft. »Hier, Kanadier im südlichen, deutsche Marinestellungen im nördlichen Rheiderland. Im Rheiderland dauerten die Rückzugsgefechte mit versprengten deutschen Einheiten noch bis Ende April 1945.«
»Hier herrschte also bei Kriegsende Chaos«, stellte Broning fest.
»Ich glaube, bei dem armen Schwein, das sie in den Salzwiesen gefunden haben, handelte es sich auch um einen Volkssturmmann.« Gretchen Drievers Stimme klang traurig. »Alte Männer und halbe Kinder, schlecht bewaffnet, gegen Panzer und Tiefflieger.«
Für einen Moment schwiegen alle.
»Frau