Wolfgang Santjer

Gänseblut


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handelt sich bei der Leiche um einen Kriegsteilnehmer, einen Soldaten?«

      »Genau«, bestätigte Egon, Albert nickte nur.

      Jan massierte seine Schläfen. »Vielleicht haben wir Glück und finden die Erkennungsmarke, die trug doch jeder Soldat. Was meint ihr, wie machen wir weiter?«

      »Leiche freilegen, abtransportieren und die gesamte Erde im Grab durchsieben«, schlug Egon vor. Albert Brede nickte.

      »Erdmann ist unterwegs«, sagte Broning. »Braucht ihr hier noch Hilfe oder mehr Ausrüstung?«

      »Zwei große Siebe für die Erde und ein Wasserschlauch wären super«, sagte Egon. »Bei einem ähnlichen Einsatz hat uns die Feuerwehr gut unterstützt.«

      »Ich kümmere mich darum.« Jan Broning griff zum Handy.

      Zeitgleich mit dem Bestatter traf die Feuerwehr ein. Unter Anleitung der Spurensicherer wurde die Leiche vollständig freigelegt und im Leichensack des Bestatters abtransportiert. Die Feuerwehr stellte zwei Siebe auf und die gesamte Erde aus dem Grab und der Aushub wurden gesiebt.

      Bei dem grauen Stoff, der über der Leiche gelegen hatte, handelte es sich tatsächlich um die Überreste eines Wehrmachtsmantels. Verrostete Patronen, Teile des Gewehrs und Uniformknöpfe wurden gefunden, zur Enttäuschung der Spurensicherer aber nicht die Erkennungsmarke.

      Jan Broning brauchte für den späteren Bericht die genaue Position des Grabes. Bisher hatten sie als Ortsangabe nur den Deichkilometer gehabt. Jetzt wurde der Fundort mit einem speziellen Navigationsgerät in Koordinaten eingemessen.

      Den Schatzsucher Peter Kowalski hatte Broning bereits entlassen. Er sah auf die Uhr. Jetzt suchten sie bereits Stunden vergeblich nach weiteren Spuren. Bei den Kameraden der Feuerwehr handelte es sich um Freiwillige, er wollte sie nicht zu sehr beanspruchen. Broning bedankte sich bei ihrem Leiter für den Einsatz, entließ die Frauen und Männer und versprach, einen kurzen Bericht über die Anforderung zu mailen. Zurück blieben zwei Kübel mit Wasser zum Reinigen der Ausrüstung und ein Gestell mit einem Sieb. Albert und Egon wollten noch alleine weiterarbeiten.

      »Egon, Albert, erst mal danke für euren Einsatz. Ich fahr zurück und fang mit dem Bericht an. Die Presseleute rennen uns sicher schon die Bude ein.« Broning formulierte schon in Gedanken den Bericht. »Was haltet ihr davon: Es handelt sich vermutlich um ein aufgefundenes Opfer aus dem zweiten Weltkrieg. Bei der Leiche wurden Ausrüstungsgegenstände aus dieser Zeit gefunden.«

      »Genaueres können wir noch nicht sagen«, antwortete Egon.

      Alberts Laune hatte sich inzwischen gebessert, weil man ihn ungestört hatte arbeiten lassen. Er lächelte sogar kurz, als er sagte: »Irgendetwas musst du ja reinschreiben, ist okay so.«

      Jan Broning verabschiedete sich von Swantje und Stinus. »Danke für eure Unterstützung, die Presseleute haben euch sicher auf Trab gehalten.« Er sah sich um. »Komisch – wo sind die denn alle?«

      Stinus wirkte nachdenklich, als er sagte: »Als wir diesen Schatzsucher entlassen haben, ist der zu Fuß zurück zum Parkplatz. Dabei hat er mit den Presseleuten gesprochen.«

      »Er hat die angesprochen, und dann sind alle gleichzeitig verschwunden«, fügte Swantje hinzu.

      »So viel zu seinem Versprechen.« Jan presste die Lippen aufeinander und atmete tief durch. In Gedanken konnte er schon die Schlagzeilen sehen.

      Tag 1 nach der Entdeckung des unbekannten Toten

      in den Salzwiesen des Dollarts,

      Stadt Weener, Redaktionsbüro des Rheiderlandkuriers

      Der Rheiderlandkurier war am schnellsten. Im Redaktionsbüro las der Reporter Hilko Cordes noch einmal den Artikel, der morgen erscheinen würde. Überschrift: Sensation – Rheiderländer Ötzi gefunden! Der Artikel füllte eine ganze Seite. Es folgten Bilder der Leiche, Detailaufnahmen der Ausrüstung und vom Fundort. Sogar ein Video wurde in der digitalen Ausgabe der Zeitung angekündigt.

      Die sachliche Pressenotiz der Polizei wurde nur kurz erwähnt.

      Hilko Cordes sortierte noch einmal die Fotos. Der Schatzsucher hatte ihn am Deich angesprochen. Cordes hatte sich als Erster die Story gesichert. Kowalski wollte als Archäologe in der Zeitung erscheinen und hatte ihm außerdem den Artikel diktieren wollen. Das wäre ja noch schöner, wenn sich ein Rheiderländer unter Druck setzen lassen würde … Also blieb es beim »Schatzsucher« und auch den Artikel hatte Cordes selbst verfasst. Er wusste, dass dieser Fund in den Medien Wellen schlagen würde, zumal es keine anderen aktuellen Themen gab. Das hier war Stoff für mehrere Artikel in den Zeitungen, Berichte in den sozialen Netzwerken und den Fernsehnachrichten, zumindest dem NDR.

      Seine Einschätzung sollte sich als zutreffend erweisen. Hilko Cordes konnte zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, dass der Tote über Jahrzehnte still in seinem Grab gelegen und sein Geheimnis bewahrt hatte. Die Entdeckung und der Medienrummel setzten Ereignisse in Gang und die Büchse der Pandora war geöffnet worden.

      Tag 2, vormittags,

      Polizeidienstgebäude in der Stadt Leer,

      Büro des Fachkommissariatsleiters Jan Broning

      Jan Broning saß mit dem Rheiderlandkurier am Schreibtisch. Sie hatten Bilder der skelettierten Leiche, sogar mit Detailaufnahmen der Ausrüstung, abgedruckt. Das verrostete Gewehr, die Uniformknöpfe und das Koppelschloss … Seine Pressemeldung stand am Ende des Artikels.

      Es klopfte. Sein Chef Renko Dirksen kam mit rotem Kopf ins Büro, ebenfalls mit dem Rheiderlandkurier in der Hand, und fuchtelte damit in der Luft herum. »Das hättet ihr verhindern müssen! Hast du eine Ahnung, was jetzt hier los ist?!«

      »Anrufe, Medieninteresse, Presserummel …« Jan verkniff sich ein Grinsen. »Renko, setz dich doch erst einmal hin. Was hätten wir denn machen sollen mit unserem Schatzsucher? Maulkorb verpassen, nach Fotokameras durchsuchen und Bilder beschlagnahmen?«

      »Klingt doch gut!«

      »Renko, mit Smartphones kannst du sofort Fotos weiter­leiten. Das konnte er in Ruhe erledigen, lange bevor wir am Fundort waren.«

      Dirksen atmete tief durch. »Und wie weit seid ihr mit unserem … Ötzi?«

      Broning sah auf seine Notizen. »Im Moment gehen wir davon aus, dass es sich um einen Kriegsteilnehmer aus dem Zweiten Weltkrieg handelt. Dabei müssen wir aber vorsichtig sein.«

      »Wieso? Der Fall ist doch klar. Das Gewehr ein Karabiner aus dem Krieg, da war sich unser Albert doch sicher. Der Wehrmachtsmantel mit Uniformknöpfen. Die Reste vom Gürtel mit dem Koppelschloss.«

      »Ich weiß«, unterbrach Jan Broning seinen Chef. »Sogar mit der Aufschrift Gott mit uns. Alles ziemlich eindeutig, aber da sind noch einige Ungereimtheiten.«

      Dirksen sah zur Zimmerdecke. »Jan, warum wird es bei dir immer so kompliziert?!« Er merkte, dass Broning ihn unterbrechen wollte, und hob abwehrend die Hände. »Ich weiß, du liegst oft richtig mit deiner Einschätzung oder deinem Bauchgefühl. Was stört dich denn an dieser schönen, einfachen und unkomplizierten Geschichte?«

      »Erstens haben wir keine militärische Erkennungsmarke gefunden. Zweitens das Koppelschloss. Mir ist aufgefallen, dass da etwas nicht stimmt. Hier …« Broning reichte ihm zwei Fotos. »Das eine da ist das Original so eines Koppelschlosses. Die Überschrift Gott mit uns, der Adler in der Mitte und darunter das Hakenkreuz. Hier …«, Broning zeigte auf die Detailaufnahme vom Fundort, »fehlt das Hakenkreuz. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es damals ein Soldat gewagt hätte, das Symbol der Nazis zu entfernen.«

      Renko Dirksen presste die Lippen kurz aufeinander. »Du könntest recht haben, aber können die Rechtsmediziner nicht zweifelsfrei feststellen, wie lange der Tote dort schon gelegen hat?«

      »Die Überreste liegen bei dem Bestatter Erdmann. Für die Obduktion brauchen wir eine Anordnung von der Staatsanwaltschaft. Vorab habe ich schon mit dem Gerichtsmediziner Dr. Knoche gesprochen. Dort haben sie alle Hände voll zu tun. Er meldet sich noch bei