Wolfgang Santjer

Gänseblut


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Dirksen stand auf. »Halt mich auf dem Laufenden. Insbesondere unsere Pressestelle. Da wird heute der Teufel los sein.«

      Broning nickte. »Mach ich, Renko. Stefan und ich fahren gleich noch mal zum Fundort der Leiche. Ich möchte die Anwohner befragen und vielleicht hat ja das Medieninteresse auch was Positives. Leute, die sich wieder an damals erinnern. An Ereignisse vom Krieg in dieser Gegend, oder an Ereignisse aus einer ganz anderen Richtung.«

      Renko schüttelte leicht den Kopf und verließ das Büro.

      Tag 2, vormittags,

      Truppenübungsplatz in Süddeutschland

      Sven Richter war ein letztes Mal zur Baracke des Übungsplatzes gegangen, um sich von seinem Nachfolger zu verabschieden. Er trug Zivil. Seine Uniform hatte er zusammen mit der anderen Dienstausrüstung bereits bei der Auskleidung abgegeben.

      Sein Nachfolger musste kurz raus auf den Platz und nun saß Sven wieder alleine in der alten Baracke. Seine Stimmung war auf dem Nullpunkt. Er konnte sich noch gut an das Gefühl erinnern, als er das erste Mal hier alleine gewesen war. Ausgestoßen, abgeschoben und entsorgt wie menschlicher Abfall. Wie Robinson Crusoe war er hier langsam aber sicher vereinsamt.

      Die Entlassungsuntersuchung vor vier Wochen hatte seine Dienstuntauglichkeit amtlich bestätigt. Befund: Diabetes und posttraumatische Belastungsstörung, abgekürzt PTBS. Die Zuckerkrankheit hatte er sich vermutlich bei diesen Pflichtimpfungen vor dem Afghanistaneinsatz zugezogen. Auch als Reservist kam er nun nicht mehr in Frage.

      Sven Richter war ausgebildeter Feuerwerker beim Heer, deshalb hatte man ihn hierher abgeschoben. Er hatte bis zum Ende seiner Dienstzeit auf dem Gelände nach Blindgängern suchen und sie möglichst entschärfen sollen. Sven vermisste die Kameradschaft mit den anderen Soldaten schmerzlich. Heute war offiziell sein letzter Tag bei der Bundeswehr. Am Nachmittag war Schluss und er hatte sich von seinem Nachfolger auf dem Übungsplatz persönlich verabschieden wollen. Der teilte sein Schicksal, weil er ebenfalls unter PTBS litt. Diesen Übungsplatz verglich Sven verbittert mit dem Papierkorbsymbol auf dem Computer.

      Sein Nachfolger war immer noch unterwegs. Sven schaltete aus Langeweile sein Smartphone ein und koppelte es mit seinem Tablet-Computer. Nun konnte er – wenn auch langsam – im Internet surfen. Auf seiner Lieblingsseite las er die neuesten Nachrichten. Heute sogar mit einer Schlagzeile aus seiner alten Heimat, dem Rheiderland: Sensation! Rheiderländer Ötzi gefunden.

      Er vergaß fast zu atmen, als er sich die Bilder der Leiche ansah. Ein großer Kloß bildete sich in seinem Hals, als er die Detailaufnahmen der Ausrüstung betrachtete, das verrostete Gewehr, die Uniformknöpfe und das Koppelschloss. Konnte es sein …? Er vergrößerte die Aufnahme des Koppelschlosses und war wie elektrisiert.

      Vor seinem geistigen Auge erschien sein Opa Trinus in dem alten Wehrmachtsmantel, unter dem er bei seinen speziellen Jagden den Karabiner versteckt hatte. Der Gürtel in Opas Hose hatte sich damals in Svens Augenhöhe befunden, wenn er vor ihm gestanden hatte. Der Schriftzug Gott mit uns und der Adler hatten ihn fasziniert. Sein kleiner Finger hatte oft über eine raue Stelle im Metall unter dem Adler gestrichen und Opa Trinus hatte das Interesse seines Enkels bemerkt. »Dieses Symbol unter dem Adler, das so vielen Menschen unendliches Leid gebracht hat, das habe ich abgefeilt. Damit wollte ich nicht mehr rumlaufen.«

      Später hatte Sven verstanden, was er damit gemeint hatte. Aber sein Opa war damals spurlos verschwunden. Was hatte sein Vater mit bitterer Stimme gesagt? »Entweder ist er beim Wildern im Dollart ersoffen, oder die Jäger haben ihn erwischt.«

      Danach war alles schnell gegangen. Sein Vater hatte sich den goldenen Schuss gesetzt, eine Überdosis. Svens Mutter hatte zu dieser Zeit schon in Süddeutschland bei ihrem neuen Freund gelebt. Sie war ins Rheiderland zurückgefahren, hatte sich um die Beerdigung gekümmert und ihren Sohn Sven mit nach Süddeutschland genommen.

      Sven wusste sofort, wen man dort in den Salzwiesen vergraben hatte. Sein heiß geliebter Opa war verscharrt worden wie ein totes Tier. Svens Tränen tropften auf das Display des Tablets. Seit diesem Schicksalstag in Afghanistan hatte er nicht mehr geweint. Seine Schultern zuckten und er vergrub sein Gesicht in den Handflächen.

      Wut verdrängte langsam seine Trauer. Svens Gesicht verhärtete sich. Der Wut folgte etwas Neues: der Wunsch nach Rache.

      Sven war es gewohnt, seine Gefühle zu kontrollieren. Angst lässt die Hände zittern und lähmt den Verstand, das hatte er bei den Entschärfungsaktionen sehr schnell lernen müssen. Kälte breitete sich in ihm aus.

      Er betrachtete noch einmal die Bilder. Schaute sich an, wie sein Opa mit dem Mantel über dem Gesicht abgedeckt worden war. Wer seinen Opa vergraben hatte, hatte dabei nicht ins Gesicht des Toten sehen wollen. Opa Trinus war entweder ertrunken oder ein Jäger hatte ihn erwischt. Sven wusste sofort, dass die zweite Möglichkeit die Zutreffende war.

      Es konnte kein Zufall sein, dass er diesen Artikel gelesen hatte, und das ausgerechnet an seinem letzten Tag bei der Bundeswehr. Das Schicksal hatte seine Weichen gestellt.

      Nun gut, es war sowieso Zeit für einen Tapetenwechsel. Zeit für einen Besuch bei den Jägern im Rheiderland. Es gab sogar einen Kontakt. Sein Kamerad Kuno Hortema war ihm noch einen großen Gefallen schuldig. Kunos Vater war Jäger im Rheiderland und hatte einen großen Bauernhof. Dort gab es bestimmt genug Arbeit für Sven. Bei diesem Gedanken presste er die Lippen fest zusammen. Arbeit für ihn … eine doppelsinnige Formulierung aus dem Unterbewusstsein.

      »Opa«, flüsterte er, »ich erwisch das Schwein, kannst dich drauf verlassen.«

      Tag 2, vormittags,

      Gelände der Firma Lohnunternehmen Böltjer

      im Rheiderland (Karte Nr. 10).

      Jakobus Böltjer saß in dem schmuddeligen kleinen Büro und fluchte. Es war Saison zum Grasschneiden und diese Trottel von Angestellten hatten die Maschinen immer noch nicht fertig. Siefko Specker und Wirtje Hummers, auch Max und Moritz genannt, standen kleinlaut vor ihrem Chef. Der war inzwischen rot angelaufen und brüllte die zwei an. »Was heißt hier ›Die Teile sind noch nicht da‹? Draußen ist Hauptsaison und meine Maschinen stehen kaputt in der Halle.«

      Das Donnerwetter nahm kein Ende. Siefko biss sich auf die Unterlippe, wagte kein Wort zu sagen und sah hilfe­suchend zu seinem Freund Wirtje. Der knautschte verkrampft die Schirmmütze in seinen Händen. Endlich warf ihr Chef sie aus dem Büro.

      Böltjer hatte ordentlich Dampf abgelassen und griff etwas erleichtert erst einmal nach dem Rheiderlandkurier­, der vor ihm auf dem Tisch lag. Er stutzte, als er die Überschrift las: Sensation! Rheiderländer Ötzi gefunden. Während er den Artikel las, gingen seine Gedanken zurück zu dem Tag, an dem er mit seinem Kumpel den Wilderer im Dollart gesucht hatte. Ein gemeines Grinsen erschien auf seinem Gesicht. Die Schüsse, die er damals gehört hatte … Das merkwürdige Verhalten seines Kollegen, der damals angeblich nichts gesehen hatte … Der Wilderer war seit diesem Tag nicht wieder im Dollart gesehen oder gehört worden.

      Jetzt wusste er mit Sicherheit, dass sein Kollege den Mann umgebracht und später in den Salzwiesen vergraben hatte. Das war doch einmal eine gute Nachricht. Nun hatte er seinen Jagdkumpel in der Hand. Böltjer rieb sich erfreut die Hände. Endlich gab es eine Möglichkeit, gewisse Ziele zu erreichen. Sein Kumpel wollte doch sicher nicht, dass er der Polizei oder der Presse diese Geschichte von damals erzählte.

      Siefko Specker und Wirtje Hummers standen neben der Erntemaschine und fluchten. Siefko Speckers Daumen bewegte sich über seinen Hals, von einem Ohr zum anderen. Wirtje nickte und sagte mit Wut in der Stimme: »Genau, Siefko – eines Tages, ich schwör es dir, ist Böltjer fällig. Dann hängen wir ihn tot wie eine Schlachtsau an die Leiter.«

      Siefko sah zur Firmeneinfahrt, als ein Auto vor dem Büro hielt. Der Fahrer stieg aus und knallte die Tür zu. Mit gerötetem Gesicht stürmte der Mann ins Büro. »Scheint so, als wären wir beide nicht die Einzigen, die mit Böltjer noch ein Hühnchen zu rupfen hätten«, sagte er zu Wirtje.

      »Das war doch unser Gänseschützer Alting, der scheint ja ganz mies drauf zu sein«, stellte Wirtje