Wolfgang Santjer

Gänseblut


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Herr Kommissar. Können Sie Sütterlinschrift lesen?« Frau Driever drehte das Heft so, dass die Polizisten das Schriftbild sehen konnten. Jan und Stefan wechselten einen skeptischen Blick.

      »Jedenfalls, wenn Sie gar nicht klarkommen«, Frau Driever lächelte beide an, »hier gibt es immer eine Tasse Tee und eine Übersetzung.«

      Sie beantwortete noch einige Fragen zu den Nachbarn. Ihr wurde dabei selbst deutlich, wie wenig sie von diesen Leuten wusste. Schließlich wollte sie die Polizisten gar nicht mehr gehen lassen, so sehr freute sie sich über etwas Gesellschaft. Inzwischen kannten die zwei ihren gesamten Lebenslauf.

      »So, Frau Driever, wir müssen weiter, danke für den Tee und Ihre Zeit.« Broning legte seine Visitenkarte auf den Tisch. »Sollte Ihnen oder Ihren Nachbarn noch etwas einfallen zu unserem unbekannten Toten, dann rufen Sie uns bitte an! Ihre Idee mit dem Umzug finde ich übrigens gut. Ich weiß, wie die Nachkriegsgeneration an ihren Häusern hängt, aber letztlich ist es doch nur ein Steinhaufen und manchmal sogar ein Riesenklotz, der einen behindert. Tabak kann man auch auf andere Herde streuen.«

      Die Polizisten verabschiedeten sich und gingen zurück zum Dienstwagen.

      »Also doch ein Kriegsteilnehmer«, sagte Stefan im Auto. »Das letzte Aufgebot, ein Volkssturmmann.«

      Broning nickte. »Das würde erklären, warum wir kein Soldbuch und keine Erkennungsmarke gefunden haben. Die Ausrüstung war auch dürftig, passt alles schön zusammen. Vielleicht finden wir noch etwas im Notizheft, das uns weiterhilft.«

      Bronings Handy klingelte. Die Verbindung war schlecht. Die nette Dame von der Gerichtsmedizin Oldenburg stellte das Gespräch zu Dr. Knoche durch.

      »Moin, Herr Broning, ich sollte mich doch noch einmal bei Ihnen melden, es handelt sich um Ihren Ötzi. Der Termin für die Obduktion wurde jetzt noch weiter nach hinten verlegt. Tut mir leid, wir haben hier sehr viel zu tun und vermutlich handelt es sich bei dem aufgefundenen Skelett, sagen wir es einmal salopp, um eine Altlast. Die aktuellen Fälle haben Vorrang.«

      »Okay, Dr. Knoche.« Broning wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit dem Gerichtsmediziner zu verhandeln. »Was meinen Sie, wie lange wird es dauern bis zur Obduktion?«

      »Frühestens in einer Woche, ich kann es nicht ändern, Herr Broning!« Dr. Knoche legte auf.

      Während der Fahrt zur Dienststelle dachte Broning ständig an Frau Driever. Gleichzeitig ärgerte er sich über seine gedrückte Stimmung. Im Gegensatz zu ihr konnte er noch seinen liebsten Menschen in den Arm nehmen. Eine Idee bildete sich langsam, und als er den Dienstwagen in der Polizeigarage parkte, lächelte er vergnügt. »Stefan, ich hab ein Attentat auf dich vor. Ich möchte Maike in Spanien besuchen. Die Sachlage bei unserem Ötzi scheint klar zu sein. Die restlichen Ermittlungen, könntest du die für eine Woche übernehmen?«

      »Ich komme eine Woche auch ohne dich aus!« Stefan klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter. »Fahr zu deiner Maike.«

      Kurz darauf befand sich Broning im Büro seines Chefs und erstattete Bericht.

      »Wie ich schon sagte, Jan: klarer Fall!« Dirksen lehnte sich gut gelaunt zurück.

      Broning eierte nicht lange herum. »Renko, ich möchte eine Woche raus aus der Mühle!«

      Dirksen grinste. »Maike besuchen?«

      »Du hast es erfasst. Stefan kommt klar und die Gerichtsmedizin meldet sich auch vorerst nicht. Morgen früh steht eigentlich nur die Leichenschau beim Bestatter Erdmann auf dem Programm, danach könnte ich dann …«

      »Fahr zu deiner Maike«, Dirksen lachte, »und grüß sie schön von mir.«

      Als Nächstes bestellte sich Broning telefonisch ein Wohnmobil für eine Woche. Seine Laune wurde immer besser. Morgen Nachmittag konnte er das Fahrzeug abholen.

      Tag 3, vormittags,

      Wohnung von Jan Broning

      Jan Broning hatte unruhig geschlafen. Das schlechte Gewissen, weil er seinen Kollegen allein weiterermitteln lassen wollte, und die Vorfreude auf die Reise zu seiner Maike wechselten sich ab. Er hatte schon einige Sachen zusammengesucht. Seine Nachbarin hatte ihm versprochen, die Post und die Zeitungen aus dem Briefkasten zu nehmen. Dann rief er in Spanien bei den de Buhrs an.

      »Hallo, Jan!« Karins Stimme klang gut gelaunt. »Du, Maike ist am Strand.«

      »Das hab ich gehofft, weil ich dich sprechen wollte«, antwortete er ebenfalls gut gelaunt. »Ich brauch eure Adresse, für einen Überraschungsbesuch.«

      »Kommst du mit dem Flieger, Jan?«

      »Nein, mit einem geliehenen Wohnmobil. Du hast doch erzählt, dass es ganz in der Nähe Campingplätze am Meer gibt. Da wollte ich das Wohnmobil für einige Tage abstellen.«

      Karin lachte. »Ihr wollt sicher mal einige Tage für euch sein, kann ich gut verstehen. Die Campingplätze sind genau an der Bucht, wo Maike immer spazieren geht.«

      »Morgen werde ich auf dem Platz mit dem Wohn­mobil stehen und ebenfalls einen Spaziergang am Strand machen.«

      Karin war begeistert. »Und zufällig werdet ihr euch dort treffen. Oh, wie schön! Jan, du bist doch ein Romantiker.«

      Sie erklärte Jan noch Maikes Spazierweg und versprach, nichts zu verraten.

      Tag 3,

      Bestattungsinstitut Erdmann

      Stefan Gastmann und Jan Broning saßen im Zivilwagen und waren unterwegs zum Bestatter. Nach der Leichenschau wollte Jan abreisen.

      »Stefan, ich hab immer noch ein schlechtes Gewissen.«

      »Ich bin froh, mal meine Ruhe zu haben.« Stefan grinste. »Auch wenn es nur für eine Woche ist.«

      »Danke, Stefan!«

      Der Kollege zog eine Schnute. »Erdmann, der singende Bestatter. Hast du dir eigentlich mal seine CD angehört? Ich meine, falls er fragen sollte.« Die hatte ihnen der Bestatter bei ihrem letzten gemeinsamen Fall überreicht. Eine Zusammenstellung, sozusagen Best of Erdmann. Seine Hobbys waren Gesang und feierliche Reden.

      »Mist«, Broning verzog schuldbewusst sein Gesicht, »habe ich nicht, muss ich wohl vergessen haben. Na ja, gleich bekommen wir ja die Live-Version.«

      Ein gut gelaunter Bestatter öffnete die Tür des Instituts. Seine Singsang-Stimme war unverkennbar. »Ah, die Herren von der Kriminalpolizei! Bitte folgen Sie mir in meine bescheidenen Räumlichkeiten.« Er ging voraus, die Polizisten folgten ihm. In den Händen trugen sie die Aluminiumkoffer mit der Ausrüstung.

      »Diesmal haben wir aber einen sehr speziellen Gast«, bemerkte Erdmann und begann eine Melodie zu summen. Gastmann bekam große Augen und Broning hörte noch mal genauer hin … Ja, ein Antikriegslied, und es handelte vom Schicksal eines Soldaten. Eigentlich sehr passend und einfühlsam gesummt.

      Im Behandlungsraum lag auf einem Chromtisch ein Leichensack. Der Reißverschluss war komplett geöffnet. Schimmel, ein großer Feind der Spurensicherer – die Trocknung der Spuren vor der Asservierung war deshalb so wichtig. »Sofort, als wir unseren Gast einquartiert hatten, habe ich dafür gesorgt, dass die Sachen trocknen können«, erklärte der Bestatter.

      »Sehr gut, Herr Erdmann!« Broning nickte anerkennend. »Stefan, fängst du schon mal mit den Fotos an?«

      Stefan Gastmann entnahm einer Alu-Kiste die Spiegelreflexkamera und machte als Erstes die Übersichtfotos. Die Reste des alten Wehrmachtsmantels umhüllten das Skelett. Außer dem dicken Mantelstoff war von der Kleidung der Leiche nichts mehr zu erkennen.

      Erdmann unterbrach sein Summen und bemerkte aus dem Hintergrund: »Die Todesursache zu bestimmen, dürfte schwierig sein, Herr Broning.«

      »Ich weiß. Vielleicht haben wir Glück und finden ein Einschussloch im Mantel, Spuren einer Gewehrkugel, eines Messers oder eines Granatsplitters an den Knochen.« Broning beugte sich über das Skelett, das von starken