Er wippte weiter sanft hin und her, doch nun wedelte er auch hin und wieder mit den Händen. »Wie fühlt sich eine Depression an? In dem Artikel stand etwas von schlechter Laune und wenig Selbstbewusstsein, aber sie waren nicht sehr konkret. Bedeutet es, dass du die ganze Zeit traurig bist? In dem Artikel stand auch, dass generalisierte Angststörungen und Depressionen häufig gemeinsam auftreten. Hast du auch Angstzustände?«
»Ich… weiß nicht.« Generalisierte Angststörung? Was zur Hölle war das? Ich wollte sagen nein, das habe ich nicht, was auch immer es war. Es war nicht so, dass ich noch etwas finden wollte, was mit mir nicht in Ordnung war, aber es war schwer zu leugnen, dass ich Angst hatte, wenn ich mich in den Schultoiletten versteckte und nervös wurde, wenn ich nur daran dachte, einkaufen zu gehen.
Wahrscheinlich war eine generalisierte Angststörung die Kehrseite einer klinischen Depression. Warum hatte der Arzt nicht danach gefragt? Vielleicht, weil ich ihnen nichts von den Panikattacken erzählt hatte? Falls ich es ihnen erzählt hätte, hätten sie mir dann gesagt, dass ich auch eine generalisierte Angststörung hatte? Würde das bedeuten, dass ich zu verkorkst war und sie mich in eine Einrichtung stecken würden?
Winzige Klauen der Angst gruben sich in mein Gehirn und ich dachte: Ja, du hast definitiv eine generalisierte Angststörung. Du hast beides. Das muss etwas Schlimmes sein.
Ich pulte an dem Brot herum, hauptsächlich, um meine Hände zu beschäftigen. »Ich hatte nicht immer Depressionen. Aber ich war schon immer still. Erst auf der Highschool wurde es schlimmer.«
Ich versuchte, eine Antwort auf Emmets Frage zu finden, wie es sich anfühlte. Die Frage nach der Angststörung steckte ich in eine Kiste in meinem Kopf und verschloss sie gedanklich mit Panzertape. »Depression fühlt sich an, als würde eine Schüssel über dir liegen. Eine Glasschüssel, aus der du hinaussehen kannst, durch die die Welt jedoch weiter weg erscheint. Es fühlt sich einsam und schwer an. Aber manchmal ist die Schüssel wie in den Wolken.«
Ich konnte die Schüssel in meinem Kopf sehen, mich selbst im Glas. »Obwohl ich in der Schüssel bin, kommt alles von außen hinein, zu laut. Ich bin also unter dem Glas, das voller Wolken ist, mit einem Lautsprecher, der alle Geräusche hinein leitet, und die Gerüche und Lichter kommen auch rein. Manchmal sorgen sie dafür, dass ich in Panik verfalle, aber manchmal ist es laut und ich fühle mich einfach nur leer und stumpf. Oder ich fühle überhaupt nichts. Das macht es schwer für mich, mit anderen Leuten zusammen zu sein, aber wenn ich nicht mit ihnen zusammen bin, fühle ich mich noch einsamer.«
Mit ernstem Gesicht beugte sich Emmet näher zu mir. »Du brauchst Menschen, Jeremey. Menschen sind soziale Tiere. Wir werden krank ohne Kontakt.«
Als ob ich das nicht wüsste. Ich liebte diesen Kontakt gerade. Es war seltsam – ich vergaß immer wieder, dass er autistisch war, obwohl es jedes Mal, wenn ich ihn ansah oder mit ihm sprach, offensichtlich war. Größtenteils fühlte er sich jedoch wie jemand an, der nicht von mir genervt war oder sich in meiner Gesellschaft unwohl fühlte. Jemand, durch den ich mich wie eine reale Person fühlte.
Ein Freund.
»Ich bin froh, dass wir Freunde geworden sind.« Sein Blick huschte auf meine Brust.
Ich lächelte ihn an. »Ich bin auch froh, dass wir Freunde sind.«
Emmet wippte sanft. »Ich möchte jetzt mein Bananenbrot essen. Ist es in Ordnung, wenn wir so lange nicht reden, bis wir gegessen haben?«
»Natürlich.« Ich lächelte noch immer. Es war so einfach – er war einfach. Das fühlte sich gut an.
»Wir können weiterreden, wenn wir fertig sind. Ich rede gern mit dir.«
Die angespannten Nerven, die mich seit heute Morgen geplagt hatten, lösten sich langsam, Millimeter für Millimeter. »Mir gefällt es auch.«
Emmet und ich trafen uns nicht jeden Tag, aber wir schrieben immer miteinander. Zuerst kamen die Nachrichten zufällig, aber am dritten Tag fragte er, ob wir unsere Gespräche auf neun Uhr abends festlegen könnten, und er brachte mich sogar dazu, die Sache auf Google Talk zu verlegen, anstatt unsere Handys zu benutzen.
Ich wünschte, du hättest einen iMac oder ein iPhone, schrieb er eines Abends. Die Verbindung von iMessage ist viel besser und wenn du auch Apple Produkte hättest, könnten wir einfacher zwischen dem Computer und Handy hin und her wechseln.
Ich hab nicht mal ein Smartphone, antwortete ich.
Wir haben ein altes iPhone, das du benutzen könntest, wenn es mit deinem Tarif funktioniert.
Ich log, als ich sagte, dass ich es mir ansehen würde. Ich wollte ihm nicht sagen, dass meine Eltern niemals zustimmen würden.
Seit dem Picknick war die Stimmung zwischen meinen Eltern und mir aus verschiedenen Gründen angespannt, aber es dauerte nicht lange, bis Emmet das Zentrum unserer wiederkehrenden Diskussionen wurde. Sie hatten gesehen, wie ich auf dem Straßenfest mit ihm gesprochen hatte, und hatten auf dem Nachhauseweg nach ihm gefragt, aber ich hatte größtenteils abgewunken. Ich wusste, dass Emmet lieber bei sich zu Hause war, also trafen wir uns dort und um ehrlich zu sein, fühlte ich mich im Haus der Washingtons auch wohler. Als ich am dritten Tag in Folge von einem Besuch nach Hause kam, war ich froh, ihn nicht zu mir eingeladen zu haben und ich schwor mir, dass eher die Hölle zufrieren würde, als dass ich es tun würde.
»Wo warst du?«, fragte meine Mom, als ich zur Tür reinkam. »Ich hab den ganzen Garten abgesucht, aber du warst nirgends zu finden. Bist du wieder auf den Gleisen gelaufen?«
Kurz zog ich in Erwägung, zu lügen, aber es fühlte sich falsch an, über Emmet zu lügen. »Ich hab einen Freund besucht.«
»Bart?« Die Haltung meiner Mutter änderte sich vollständig. Sie lächelte und ihre Schultern sanken leicht herab, als würde die Welt langsam wieder in die richtige Bahn kommen. »Ich wusste nicht, dass ihr euch wieder trefft. Wie geht's ihm?«
Jetzt wünschte ich mir, meinem ersten Impuls gefolgt zu sein und sie anzulügen. »Es ist nicht Bart. Ein neuer Freund.« Ich sah, wie sich die Frage auf ihrem Gesicht abzeichnete, die Verurteilung und Kritik an Emmet, und entschied, sie in die Falle zu locken. »Er studiert im zweiten Jahr an der ISU. Doppelter Studiengang in Informatik und moderner Physik.« Vielleicht war es auch angewandte Physik. Es war mir egal – modern klang besser.
Sie hielt inne, geschlagen in ihrem eigenen Spiel. »Ein Universitätsstudent, hier? So weit weg vom Campus? Gibt es ein Mietshaus in der Gegend?«
»Nein. Er wohnt bei seinen Eltern. Sollte ich auch machen, um Geld zu sparen. Und wir wohnen ziemlich nah an der ISU, wenn man durch den Park geht.« Ich beschloss, wirklich dick aufzutragen. »Er ist wahnsinnig intelligent. Programmiert zum Spaß an seinem Computer herum.«
»Oh.« Mom entspannte sich und schien beruhigt zu sein, dass ich einen anständigen Freund gefunden hatte, der mich wieder auf Kurs bringen konnte. »Wie heißt er? Ich kann nicht glauben, dass ich nichts über einen Jungen in deinem Alter hier in der Gegend wusste.«
Junge? Wie alt war ich denn, zwölf? »Emmet Washington«, sagte ich und sah, wie sie sich anspannte.
»Jeremey Andrew Samson.« Sie überbrückte die Distanz zwischen uns und schwebte bedrohlich über mir. »Es ist schrecklich von dir, über einen behinderten Jungen zu lügen. Was machst du mit ihm? Babysitten?«
Umgehauen von ihrer Bosheit und Kaltschnäuzigkeit blinzelte ich sie an – außer, dass sie nicht gemein war. Sie war wirklich ahnungslos. »Mom, er hat die Höchstpunktzahl in seinem Collegetest. Er hat wirklich zwei Hauptfächer. Ich passe nicht auf ihn auf. Ich treffe mich mit ihm. Er ist nicht behindert und du solltest dieses Wort ohnehin nicht mehr benutzen.«
Sie verdrehte die Augen. »Komm mir jetzt nicht mit dieser blöden politischen Korrektheit. Behindert heißt zurückgeblieben. Du kannst mir nicht erzählen, dass der Junge normal ist.«
Nein, das konnte ich nicht – aber manchmal hatte ich das Gefühl, dass er um einiges normaler war als ich.
Emmet hatte seine Macken, ja, aber er hatte einen Pragmatismus,