Heidi Cullinan

Das Rauschen der Stille


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dass sie es war. »Schlafenszeit, Liebling.«

      Sie hatte recht. Mein einundzwanzig Uhr fünfzig Alarm würde bald losgehen, damit ich wusste, dass es Zeit war, meine Zähne zu putzen, den Schlafanzug anzuziehen, die Sachen für morgen rauszulegen und ins Bett zu gehen. Ich schrieb Jeremey zurück. Ich muss mich jetzt zum Schlafen fertig machen. Ich sehe dich morgen.

      Okay. Gute Nacht. Danke, dass du mit mir geredet hast.

      Jeremey brachte mich so oft zum Lächeln. Das Lächeln dehnte mein Gesicht, als ich ihm antwortete. Wenn du willst, kannst du mir morgen Früh schreiben, falls du nicht zu lange schläfst. Ich kann um zwölf nicht schreiben, weil da Mittagszeit ist, aber ich habe einen Vibrationsalarm für dich und werde immer wissen, wenn du mir schreibst. Ich werde antworten, es sei denn, ich bin an einem Ort, wo es unangemessen ist, auf eine Nachricht zu antworten.

      Ich wollte ihm von der Heartbeat-Vibration erzählen, aber das war eine zusätzliche Information. Außerdem würde es bedeuten, dass ich erklären müsste, dass ich sein fester Freund sein wollte. Selbst ich wusste, dass es zu früh war, das laut auszusprechen. Manchmal mussten Gefühle warten.

      Jeremey schrieb zurück. Danke. Vielleicht schreib ich dir.

      Gute Nacht, Jeremey.

      Gute Nacht, Emmet.

      Kapitel 4

      Jeremey

      Niemand hat mich je gefragt, wie es ist, unter Depressionen zu leiden. Nicht Bart, nicht der Vertrauenslehrer der Schule, nicht unser Arzt, nicht meine Eltern. Alle behandelten mich wie einen Irren und schrieben mich ab.

      Alle, bis Emmet kam.

      Als wir uns um eins treffen wollten, fuhr tatsächlich ein Zug vorbei, aber ich konnte sehen, wie er im Garten wartete, auf den Fersen wippte und mit den Fingern auf seinem Bein tippte, während die Waggons vorbeirollten. Er sah mich nicht an, was sich noch immer seltsam anfühlte, aber um ehrlich zu sein, fühlte ich mich manchmal überfordert und musste wegsehen, wenn Menschen mich anstarrten.

      Ich fragte mich, ob er auch überfordert war oder ob es mit Autismus etwas anderes war.

      Ich überlegte, ob ich ihn danach fragen konnte.

      Als der Zug vorbeigefahren war, stieg ich in den Graben hinab zu den Gleisen und er tat es mir nach. Er begegnete noch immer nicht meinem Blick, obwohl er ab und zu in meine Richtung sah. Ein winziges Lächeln umspielte seine Lippen.

      »Siebenundsiebzig Waggons, drei Lokomotiven. Eine am Ende.« Emmet schlang die Arme um seinen Körper und stand stocksteif da, während sich sein Blick auf etwas über meiner Schulter fixierte und er leicht auf den Fersen wippte. »Es tut mir leid. Das war eine unhöfliche Begrüßung. Hallo, Jeremey. Es ist schön, dich wiederzusehen.«

      Lächelnd schlang ich die Arme um meinen eigenen Körper, wodurch ich seine Haltung spiegelte. »Es ist auch schön, dich zu sehen.«

      Er schien aufgeregt zu sein, aber als er sprach, war seine Stimme klar und deutlich. »Es ist ein schöner Tag. Fünfundzwanzig Grad, nur siebzig Prozent Luftfeuchtigkeit. Keine Regenwahrscheinlichkeit. Ich mag Regen, aber heute freu ich mich, dass es keinen gibt. Es ist sonnig, aber wir haben einen Sonnenschirm auf der Veranda und große Bäume. Es ist schattig und gemütlich. Würdest du gerne auf unserer Veranda sitzen?«

      Die Kein Augenkontakt-Sache war nur halb so schwierig wie der Wortschwall, den er mir entgegenschleuderte. Ich gab mein Bestes, sie nach der Frage zu durchsuchen. Wollte ich mit ihm auf der Veranda sitzen? Ja, aber es dauerte eine Minute, bis ich antworten konnte. »Ja, danke.«

      »Wenn du zu ängstlich bist, können wir auch auf deiner Veranda sitzen. Aber meine Mom hat Bananenbrot gebacken. Glutenfrei, kein Zucker. Wir benutzen Stevia. Der Einfluss von Gluten auf ASS ist unbegründet, aber es schadet nicht, darauf zu verzichten, für den Fall, dass es versteckte Nebenwirkungen gibt. Zucker wirkt entzündungsfördernd und ist schlecht für das Gehirn und den Körper. Gesundheit ist wichtig und Essen ist Gesundheit. Mein Dad nimmt mich aber trotzdem manchmal zum Eisessen mit, weil er sagt, dass Spaß auch wichtig für die Gesundheit ist.« Er hielt inne und wippte erneut. »Ich glaube, dass ich dir zu viele Informationen gebe. Es tut mir leid. Ich bin nervös. Es fällt mir schwer, daran zu denken, was ich dir nicht sagen soll.«

      Das hier, seine Unverblümtheit, hatte mich gestern zu ihm hingezogen und heute zog es mich noch genauso an. Zu sagen, Emmet wäre ehrlich, war eine ebenso große Untertreibung wie die Aussage, dass die Oberfläche der Sonne warm war.

      Außerdem war er süß und ich konnte ihn anstarren, weil er mich nicht ansah. Seine Lippen waren nicht zu dünn und nicht zu voll und hatten einen leicht rosigen Schimmer. Aber mehr als alles andere gefiel mir sein Hals. Die Sehnen, die Mulden seines Schlüsselbeins, seine glatte Haut. Ich machte mir Sorgen, ob es in Ordnung war, ihn als süß zu bezeichnen. Ich machte mir sehr große Sorgen, ob es mich zu einem Perversling machte, für ihn zu schwärmen. Dann machte ich mir Sorgen, dass es unverschämt war, ihn nicht lüstern anzustarren, da er mehr als deutlich gezeigt hatte, dass Autismus keine geistige Behinderung darstellte.

      So, das bin ich, kurz zusammengefasst. Ich sorge mich um all die Regeln und breche schließlich in Panik aus, weil es keine eindeutige Antwort auf alles gibt.

      Ich hatte ihm noch nicht geantwortet. Aber er war nicht wütend oder aufgeregt. Er wartete einfach.

      Tief einatmend antwortete ich. »Ich bin ängstlich, aber das bin ich immer. Setzen wir uns auf eure Veranda. Das Bananenbrot hört sich gut an.«

      Er entspannte sich. »In Ordnung. Gehen wir.« Er ging in Richtung Haus, redete aber weiter und drehte den Kopf ein wenig, damit ich ihn verstehen konnte. »Sie macht zwei Sorten. Eine mit Walnüssen und eine ohne. Ich mag keine Walnüsse im Essen. Die Konsistenz ist zu seltsam. Du kannst aber das Brot essen, das du möchtest. Aber sie wird wahrscheinlich darauf bestehen, dass wir Wasser trinken.«

      Ich nickte, stellte jedoch schnell fest, dass er es nicht sehen konnte, weil er mich nicht wirklich ansah, also sagte ich: »In Ordnung.«

      Emmet redete weiter und erklärte die Zutaten des Bananenbrots und wie unterschiedlich sich die Aromen beim Backen verhielten, dann die Bindungsfähigkeiten von Eiern im Vergleich zu Gluten und ich hörte einfach nur zu, obwohl ich größtenteils nachdachte. Ich hatte noch nie jemanden wie Emmet getroffen. Er erinnerte mich an einen Jungen aus unserer Klasse, Kyle, der eine Zerebralparese hatte. Manchmal gab es bei ZP Hirnschäden und manchmal nicht, aber die körperlichen Beeinträchtigungen machten ihn anders. In der Mittelschule waren Kyle und ich Freunde, aber er zog in der neunten Klasse um. Kyle war nicht dümmer als ich. Aber man vergaß leicht, dass sein bellendes Lachen, die seltsamen Geräusche, die er von sich gab, und die fuchtelnden Gesten nicht sein Innerstes widerspiegelten.

      Mit mir ist es ebenso. Ich bin still und es fällt mir sehr schwer, meine Gefühle auszudrücken, aber ich fühle sehr viele Dinge und ich möchte Freunde haben. Mit Emmet war es jedoch ein bisschen knifflig. Normalerweise beobachtete ich die Menschen, um auf Zeichen zu warten, wie ich mich in ihrer Nähe zu verhalten hatte, und Emmet gab mir keines dieser Zeichen. Ich wünschte mir, ihn mehr über Autismus fragen zu können, aber ich hatte Angst, dass es unhöflich war. Ich wollte seine Gefühle nicht verletzen.

      Als wir an der Veranda ankamen, deutete Emmet auf einen Stuhl. »Du sitzt hier. Ich stelle den Sonnenschirm auf und sage meiner Mom, dass wir bereit für einen Snack sind.«

      Er drehte die Kurbel am Sonnenschirm, bis sich das Segeltuch über uns ausbreitete. Er beobachtete die Kurbel beim Drehen und ich glaubte, ihn einmal kurz summen zu hören. Als er fertig war, ging er jedoch nicht ins Haus. Er zog sein Handy hervor, schrieb etwas, legte das Telefon auf den Tisch und setzte sich schließlich.

      »Ich lasse das Handy draußen, aber ich werde nur antworten, wenn es meine Mom ist. Sie hat vielleicht Fragen. Oh. Welche Art Brot möchtest du? Mit Walnüssen oder ohne?«

      Einen Moment lang überkam mich Panik, während ich versuchte zu entscheiden, welche die richtige und welche die falsche Entscheidung war, aber es war schwer, nervös zu sein, wenn Emmet