Der Erklärung suchende Blick in die Vergangenheit dagegen führt zum Selbstbild des Erlitten-Habenden.
Es geht also darum, ein vorwärts gerichtetes, aufrichtendes Element aufzusuchen, wenn wir moderne Lebensläufe betrachten, und zu lernen, dieses Element anzusprechen und aufzurufen, wenn wir Biographien beratend begleiten wollen. Es kommt nicht auf den lückenlosen Zusammentrag von Lebensdaten an, sondern auf die Krisenpunkte, Wendepunkte, Entscheidungssituationen, Einschnitte, Wechsel, kurz: Übergänge in einem konkreten Lebenslauf, wenn wir verstehen wollen, worauf er hinaus will. In den Übergängen spricht sich etwas von dem aus, was erst noch werden will. In ihnen ist immer damit zu rechnen, dass sich da jemand zu sich selbst aufzurichten versucht. Da wächst einer für einen kurzen Moment über sich hinaus. Da erscheint für einen Moment ein »roter Faden«, ein Sinnzusammenhang, und man ahnt, wofür sich jemand all diese Schwierigkeiten aufhalste. Etwas von den Lebenszielen kann in solchen Übergangsmomenten sichtbar werden.
Die Krise beginnt meist mit dem Gegenteil dessen, worauf sie hinaus will. Zunächst geht alles lange Zeit gut. Dann geht es schief. Dann ist die Ohnmacht da, eine elementare Ohnmacht: Man weiß nicht mehr, wie es weitergehen soll. Es ist eine Ohnmacht vor sich selbst. Solange man sich noch – in der Krise, wenn alles schief läuft – über den Ehepartner, die Kinder, die Schwiegermutter ärgert, hat man den Punkt noch nicht erreicht, der hier als Ohnmacht angesprochen wird. Erst wenn man empfindet, dass der Kern der Krise eine Ohnmacht vor und mit sich selbst ist, dass man an sich selbst ohnmächtig ist, dass man vor sich selbst darniederliegt in einem Versäumnis, einer Schuld, einem Versagen, einer Illusion – erst dann ist eine Öffnung der Situation möglich, aus der Anschluss an die Sphäre der Aufrichtung gefunden werden kann. Und dies entsteht nicht in erster Linie durch die Erklärung, wie es nun zu dieser schlimmen Situation gekommen ist, vielmehr liegt das Weiterführende in der Einführung eines Neuen: im Anerkennen des Veraltet-Seins dessen, was bisher gegolten hat, und in der Bereitschaft zu Neuem. Wo man von sich selbst enttäuscht und vor sich selbst ohnmächtig ist, entsteht die wesentliche Frage, die weiterführt: Wer bin ich wirklich? Wer bin ich über das hinaus, was ich an mir kenne und was sich – bis zu dieser Krise – an mir bewährt hat? Wer bin ich über all die Besitztümer, Kenntnisse und Fähigkeiten hinaus, mit denen ich es doch so weit gebracht habe, mit denen ich mich so stark identifizierte, die mir aber doch in dieser Krise nichts nützen?
Das ist keine Frage, die sich mit einem psychologischen oder charakterologischen Gutachten beantworten ließe. Es ist die Frage: Was bin ich noch nicht, das ich aber sein könnte? Es ist die Frage nach der Entwicklungsmöglichkeit, der Entwicklungsnotwendigkeit. Das Individuum ist heute etwas, das sich immer noch entwickelt. Es ist nie fertig, ausgereift. Das Individuum ist etwas, das sich über seine verflossene Geschichte hinaus in der Zukunft erst noch sucht.
Ein erhöhtes Bei-Sich-Sein, wie es sich nach einem vollzogenen Entwicklungsschritt immer einstellt, entsteht aus dem Sich-Aufrichten gegen Widerstände und Hindernisse, zumeist innerer Art. Sie müssen nicht auf Anhieb als solche erkennbar sein. Sie können zum Beispiel auch die Form von Gewohnheiten haben, die in der Krise am Umdenken und neuen Handeln hindern. Auch Gefühlsprägungen aus früher Kindheit können zu Hindernissen werden, wenn nun eine unbefangene Sicht der aktuellen Lebenssituation erforderlich wäre. Widerstände gegen Entwicklungen können auch in der Selbst-Täuschung liegen: Man macht sich etwas vor über seine sozialen Fähigkeiten oder seelischen Kräfte und gelangt dadurch nicht zu einer realistischen Sicht der Dinge. Aber auch Fähigkeiten, Kompetenzen und Erfahrungen können unter Umständen Hindernisse darstellen: Man versteift sich in der Krise darauf, bisher bewährte Fähigkeiten heranzuziehen; aber sie nützen nichts mehr.
Diese Ich-Qualität, das Element der Aufrichtung anzusprechen und aufzurufen, ist dann die Aufgabe der Biographieberatung: Wohin strebst du mit dem, was dir jetzt an Fähigkeiten und Unfähigkeiten, an Sicherheiten und Unsicherheiten gegeben ist? Durch welches Handeln kannst du dich an die Aufrichtekraft anschließen?
In der Biographieberatung soll das Individuelle in seinem Zukunftscharakter angesprochen werden. Das Individuelle ist noch nie ganz da. Es auf seinem Weg zur Ganzheit beratend zu begleiten, ist Inhalt der Biographieberatung. Diese fragt nicht: »Wie hätten Sie’s denn gern?« sondern: »Wie können Sie angesichts der Ihnen jetzt gegebenen Situation sinnstiftend Ihr Leben weiterführen?« So ist Biographieberatung eine Art Entwicklungshilfe für das Individuelle und Einmalige eines Menschen. Die biographische Krise ruft nach einem aktiven Ergreifen des Schicksals, nach Schicksalsgestaltung. »Erkenne dich selbst« und »Ergreife dich selbst« – das ist heute das gleiche. Biographieberatung soll eine hinweisgebende Hilfeleistung sein auf dem meist langen und mühseligen Weg der tätigen Selbsterkenntnis.
Und es geht, ausgelöst zumeist durch Krisen oder Übergänge, um eine Selbsterkenntnis, die sich in erster Linie auf die Zukunft richtet, auf das, was ich noch nicht bin. Dieses Selbst, das sich da erkennen will oder soll, entsteht in gewisser Weise erst in dem Moment des Sich-Aufrichtens und Sich-Aufraffens. Erkennen und Gestalten sind hier eins.
So mag es auch in dem angeführten Fall weniger darum gegangen sein, durch die lebensgeschichtliche Analyse eine genaue Erklärung für die aktuellen Beziehungsverwicklungen zu finden, als vielmehr darum, den Sinn dieser Krise zu finden und daraus weiterführende Handlungsmöglichkeiten abzuleiten. Hier ging es für Herrn K. darum, Autonomie zu lernen, sich unabhängig zu machen vom Anpassungsdruck und Neid seiner Kollegen, für die nicht Erfahrung und überschauende Kompetenz zählten, sondern nur die unablässige Produktivitätssteigerung. Dass es um das Ziel der Autonomie ging, zeigte sich auch darin, dass sich zunächst das Gegenteil von Autonomie einstellte. Nicht nur finanziell, sondern auch, was seine Selbstachtung betraf, drohte Herr K. in eine lähmende Abhängigkeit von seiner Frau zu geraten. Sie war beruflich selbständig, eine selbstbewusste Frau mit vielfältigen sozialen Bezügen – und er, als jetzt Arbeitsloser, wiederum klein, unbedeutend und wie überflüssig daneben stehend. Das Thema, um das es geht, spitzt sich also noch einmal zu – wie wir überhaupt oft finden, dass das, was als Krise erlebt wird, noch gar nicht der eigentliche Umbruch ist, sondern im Gegenteil zur letzten Zuspitzung, ja zur Karikatur dessen führen kann, was schon lange anwesend war.
Herr K. konnte erst in der erneuten Zuspitzung erkennen, worauf diese Krise hinaus wollte: Sich nicht mehr da heraus zu definieren, was er für andere war, ob er ihnen wichtig war oder nicht, sondern unabhängig von anderen seine Prägungen, Erfahrungen und Fähigkeiten einzusetzen und sich in dieser Unabhängigkeit zu erkennen. – Nach einer Umschulung wurde er Unternehmensberater und war bald so gefragt, dass er es sich aussuchen konnte, welche Aufträge er annehmen wollte.
In dieser Auflösung der Krise liegt kein Patentrezept, sondern nur das für diese Individualität jetzt Sinnvolle. Für andere Individualitäten in ähnlicher Situation kann anderes sinnvoll sein. Immer aber wird die tätige Selbsterkenntnis darin bestehen, die Sprache der Krise so zu hören, dass ein Klang aus der Zukunft ertönt.
2
Das individuelle Urbild
Es geschieht immer mit einer gewissen Scheu, wenn man sich über den geistigen Wesenskern eines Menschen äußert. Es geht um sein »Höheres Ich« oder »Höheres Selbst«, sein Urbild. Es ist das Individuellste an einem Menschen und damit das Intimste.
Wenn ein Mensch aus der Not, der Krise, aus dem Scheitern sich zu dem wesenhaften Kern seiner selbst durchringt, so ist das immer ein bewegendes Ereignis. Dieses auf den Weg zu bringen und versuchsweise zu begleiten, ist der wesentliche Inhalt der Biographieberatung. Natürlich geschah schon immer und geschieht dieser Durchbruch auch ohne solche Hilfe. Jemand ringt sich zu einer schweren Entscheidung durch, und es ist, als käme da einer in einem erhöhten Sinne nach Hause – zu sich selbst. Er selbst mag es so erleben, als habe da schon jemand auf ihn gewartet. Und in der Tat: Er selbst, sein Urbild hat da schon auf ihn gewartet, zu dem er sich gerade erst durchgerungen hat, zu dem er sich gerade erst aufgerichtet hat. Und er empfindet: Jetzt erst bin ich Ich.
Wenigstens ahnungsweise weiß oder empfindet jeder Mensch, dass es eine »normale«, das heißt überwiegende Zeit im Vordergrund stehende Seite seiner selbst gibt und eine erhöhte Seite, die sich nur in Momenten des Übergangs, des Aufraffens vergegenwärtigt.
Worum