Mathias Wais

Ich bin, was ich werden könnte


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geradezu als das Gegenteil dessen bezeichnen, was jemand schon geworden ist. Ein erstes Bild entsteht deshalb näherungsweise, indem man das, was jemand ist, was man als sein Alltags-Ich kennt, umdreht. Denn das Geistige ist in gewisser Weise immer eine Art Umkehrung dessen, was irdisch-sinnlich erscheint.1 Ist also jemand in seinem Alltags-Ich zum Beispiel sanguinisch bis chaotisch, dann kann sein Urbild damit zu tun haben, dass er sich das Gegenteil – hier also Klarheit, Systematik und Verbindlichkeit – dazu zu erarbeiten sucht, um vollständig zu werden.

      So zu sprechen, heißt nicht, das Alltags-Ich gering zu achten. Das Alltags-Ich ist notwendig wie der physische Leib; es ist eine Art Kleidung für das Höhere Ich. Es kann überzeugend und schön sein, wie ein Leib, wie die Kleidung überzeugend und schön sein können. Das Höhere Ich kann gar nicht in reiner Form auf Erden anwesend sein. Und es würde diesen Zustand auch nicht wollen. Das verwirklichte Höhere Ich als irdische Situation wäre sinnlos.

      Es hängt mit diesem »Prinzip des Gegenteils« zusammen, des »Umdrehens«, dass die Krise genau die Lebenssituation ist, in der etwas vom Höheren Ich hindurchtönt. Wenn das Alltags-Ich nicht mehr trägt – in der aufgelassenen Situation, in der vom Alltags-Ich nicht mehr strukturierbaren Situation, im Chaos –, dann kann das Element des Geistigen, hier in der Gestalt des Höheren Ich, in das Irdische hineinwirken. Das Geistige kann da ansetzen, wo eine irdische Ordnung aufbricht, eine Struktur zerfällt, etwas Gewohntes nicht mehr gilt. Wenn wir uns ihm nähern, uns eine Vorstellung vom Urbild des anderen machen wollen, so ist es sinnvoll, die Krisen und Umbrüche seines Lebens anzuschauen: Womit haben sie begonnen? Worin bestand die Ohnmacht? Und was hat der Betreffende daraus gemacht? – Eine alte Ordnung zerbricht. Für einen Moment ist alles offen. Dadurch werden die Verhältnisse berührbar für eine neue Ordnung, die etwas qualitativ Neues, eigentlich Gegenteiliges hereinbringt. Dazwischen liegt die Grenzsituation. Wenn ein Mensch in großer innerer Not ist, oder wenn man ihn sehr liebt, kann man etwas davon sehen, worauf es mit ihm hinaus will – in Grenzsituationen, in der Liebe. Und der Betroffene selbst – auch er wird wohl erst in Grenzsituationen, in Situationen der Liebe und im Tod seines eigenen Urbildes ansichtig werden.

      Um sich die zentrale Bedeutung des Höheren Ich für den inneren Zusammenhang einer Biographie vor Augen zu führen, ist es sinnvoll, zu einer Modellvorstellung zu greifen, wie sie sich aus dem anthroposophischen Menschenbild ergibt: Das Höhere Ich ist nicht in der Weise im Menschen anwesend, wie es die Gewohnheiten, die Gefühle, das Denken, überhaupt das Alltags-Ich sind. Vielmehr strahlt es eher in den Menschen ein, von außen – von oben, wenn man so will. Es besteht also eine gewisse Distanz zwischen dem Ich, das sich im Alltag als solches erlebt, und dem geistigen Wesenskern des Menschen. Diese Distanz kann variieren. So ist sie gering in den beschriebenen Momenten des Übergangs und Sich-Aufraffens, und sie ist größer in Momenten, die auch in der Psychologie und Psychopathologie als »Ich-Störung« beschrieben werden: im exzessiven Alkoholgenuss, in der Geistesverwirrtheit. Auch in Schockmomenten kann sich das Höhere Ich gegenüber dem Alltags-Ich »lockern«. Außerdem kann diese Distanz auch von Person zu Person variieren; der eine ist seinem Urbild näher, der andere ferner.

      Auf diesen Umstand, dass das Höhere Ich von außen in den Menschen einstrahlt, ist seine dreifache Wirkungsweise zurückzuführen:

      1. Das Höhere Ich erscheint als Entwicklungsimpuls im Willensleben des Menschen.

      2. Indem es von außen oder oben seine Impulse ausstrahlt, werden auch die Menschen, die sich im Umfeld bewegen und entfalten, und die Lebensumstände von dem persönlichen Höheren Ich erfasst. Es erscheint dann als von außen, durch andere Menschen oder bestimmte Lebensumstände zukommendes Schicksal, als mich-berührendes Handeln anderer, als Gelegenheit, als Zufall.

      3. Schließlich strahlt das Höhere Ich von Anfang an in den Menschen ein. Deshalb gestaltet sich seine Leiblichkeit von der Zeugung an nicht nur nach dem Erbstrom, sondern auch nach den Gesichtspunkten des Höheren Ich.

      Diese drei Wirkungsebenen des Höheren Ich sind noch zu erläutern.7

      1. Das Höhere Ich als Entwicklungsimpuls in der Beobachtung des eigenen Seelenlebens: Dieser Gesichtspunkt ist mit Vorsicht zu handhaben. Nicht alles, was Impuls ist, ist schon eine Äußerung des Höheren Ich. Impulse aus dem Höheren Ich gehen immer auf Wandlung und damit auf Verzicht von Sicherheiten und Gewohnheiten. Impulse, die aus dem geistigen Wesenskern kommen, bringen, wenn sie in die Tat umgesetzt werden, immer die Notwendigkeit eines Verzichts mit sich.

      Der Impuls, heute ins Freibad zu gehen, ist noch kein Impuls des Höheren Ich. Wünsche solcher Art sind normal und notwendig. Ihre Verwirklichung befriedigt das Alltags-Ich. Impulse aus dem Urbild dagegen sind unbequem für das Alltags-Ich, verlangen Einsatz und Überwindung und führen, wenn sie verwirklicht werden, zu einer auch als solcher empfundenen Vervollständigung der Person.

      Wünsche aus dem Alltags-Ich drängen auf Wiederholung: Es war letzten Sonntag so gemütlich im Freibad, also möchte ich diesen Sonntag wieder hin. Impulse aus dem Urbild aber bringen immer eine neue Qualität und verlieren ihre voranbringende Kraft, wenn sie wiederholt werden. Niemand wiederholt so etwas. Es handelt sich um den einmalig als notwendig erkannten Schritt, seine Durchführung und das darauf folgende Empfinden, einen Schritt in Richtung Ganzheit gemacht zu haben. Er ist nicht beliebig wiederholbar, weil diese Dinge in die gesamten Lebensumstände so eingebettet sind, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt als notwendig erkannt werden – und dann auch in die Tat umgesetzt werden müssen.

      Während man die Realisierung von Wünschen verschieben kann, kann man die neue Tat nicht verschieben: Wenn es heute nicht reicht ins Freibad, gehe ich eben morgen. Habe ich aber einmal die Notwendigkeit erkannt, einen Dauerstreit mit einem Nachbarn zu beenden, weil mir mein eigener Anteil daran deutlich geworden ist, so kann ich das nicht verschieben. Der Urbild-Impuls entfaltet seine Kraft im Moment des Auftretens und verliert sie, wenn ich lieber erst noch dieses und jenes erledige. Für den Phlegmatiker kann der Impuls, Fechten zu lernen, das heißt, sich in zielgerichteter, kontrollierter und geistesgegenwärtiger Aggression einzuüben, aus seinem Urbild kommen – ein solcher übender Umgang mit sich selbst würde ihn vervollständigen, das heißt dazu beitragen, dass er ganz auf die Erde kommt. Und wenn er die Einsicht einmal hat, wird er sich sogleich anmelden. Der Impuls aus dem Höheren Ich, der im Bewusstsein als willensbetonte Einsicht erscheint, richtet sich immer auf etwas Ungeahntes, etwas nicht Selbstverständliches, auf etwas, das einem eigentlich, das heißt vom Alltags-Ich her gesehen, gar nicht liegt, das man aber als notwendige Ergänzung der eigenen Person erkannt hat.

      Im künstlerischen Schaffen ist man den Impulsen des eigenen Urbildes in besonderer Weise nahe. Der Künstler bemüht sich nicht primär um das, was er kann, sondern um das, was er noch nicht kann. Sein Ringen um Ausdruck ist immer eine Suche nach Steigerung und Verwesentlichung. Er will über das hinaus, was er schon gemacht hat. Damit stellt er sein Werk und seinen Lebensgang in besonderer Weise unter die Gestaltungsmacht seines Urbildes.2

      2. Indem mein Höheres Ich auch auf die menschlichen und zwischenmenschlichen Zusammenhänge meiner Umgebung einstrahlt und offenbar auch in die äußeren Abläufe, kommt es mir als mein Schicksal von außen entgegen. Ereignisse, bestimmte Konstellationen, das Verhalten anderer Menschen mir gegenüber – all dies enthält auch Aufgaben, Herausforderungen und Impulse für mich. Eine andere Frage ist es, ob ich das erkenne und aufgreife. Wenn ich es nicht aufgreife, bleibt das, was um mich herum geschieht, Zufall. Wenn ich es erkenne und aufgreife, dann lasse ich es mir zufallen und nehme es als meines an.

      Auch hier muss man nicht in schlechthin allem, was einem begegnet, das eigene Höhere Ich am Walten sehen. Man entwickelt seine diesbezügliche Wahrnehmungsfähigkeit am besten, wenn man sich in die Haltung einer Bereitschaft, sich von menschlichen Ereignissen und sachlichen Abläufen etwas sagen zu lassen, begibt. Es sind vor allem die Situationen und Schicksalsumstände, an denen ich mich stoße, die ich nicht ohne weiteres meistere, die ich vielleicht sogar loshaben möchte, in denen sich etwas von meinem geistigen Wesenskern ausspricht.

      Und es spricht sich das Höhere Ich immer als Aufforderung aus. Angenommen, ich läge seit Jahren mit meinem Grundstücksnachbarn in einem erbitterten menschlichen und juristischen Streit, weil er nach meiner Meinung seinen Gartenzaun 5 cm zu weit auf mein Grundstück gesetzt hat. Ich kann