Mathias Wais

Ich bin, was ich werden könnte


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Bedeutung der Zahlenverhältnisse

      Weiterhin gibt es noch individuellere Rhythmen. Ein Sechzehnerschritt war bisher nur bei Alexej Jawlensky zu finden, und es kann gezeigt werden, wie intim der geistige Bezug, den die Sechzehn anspricht, mit seinem Werk zusammenhängt.7

      So bedeutsam diese zeitlichen Verhältnisse in den Lebensläufen einerseits erscheinen, so sehr muss andererseits vor Zahlenmystik und -deuterei gewarnt werden. Das Individuelle einer Biographie kann man nicht aus allgemeinen Gesetzen ableiten. Die Entwicklungsgesetze und Zahlenstrukturen sind gleichsam Instrumente, derer sich das Höhere Ich als der Gestalter der Biographie bedient. Das Verhältnis der Gesetze zur Individualität kann man sich vielleicht am besten vor Augen führen, wenn man sich klarmacht, in welcher Weise in einem Gesicht beide Aspekte zum Ausdruck kommen: Der Aufbau eines menschlichen Gesichts unterliegt bestimmten Gesetzmäßigkeiten – zwei Augen, eine Nase in der Mitte darunter, darunter der Mund et cetera. Diese allgemeinen Gesetze erklären aber nicht den individuellen Ausdruck eines Gesichts, das Einmalige. Dieses kommt von woanders her als ein Abdruck des Höheren Ich.

      Es ist sinnvoll, solche und ähnliche biographische Entwicklungsgesetze und Gestaltungsmerkmale, wie hier und im folgenden beschrieben, zu kennen. Sie sind ein Mittel zum Verständnis von Biographien. Zum Erkennen des Individuellen tragen sie aber nur dann bei, wenn man sich bewusst macht, wie eine Person den in dem einzelnen Entwicklungsgesetz liegenden Impuls aufgreift.

      Es bringt auch keinen Erkenntnisgewinn, an jede Biographie, derer man habhaft wird, schematisch den Maßstab eines Neuner-, Zwölfer- oder sonstigen Rhythmus anzulegen. Wichtiger ist die Biographie des Betreffenden als Ganzes. Man versuche zunächst, sich ein erstes und vorläufiges Verständnis der für das Individuum charakteristischen Lebensthemen zu verschaffen, und frage dann erst, ob sich das bisher Erkannte anhand von rhythmischen Strukturen verifizieren lässt, deren Zahlenproportionen wiederum ein genaueres Verständnis der Lebensthemen ermöglichen.

      Das Wesentliche am Verständnis einer Biographie ist, sich ein Bild vom geistigen Wesenskern des Betreffenden aufzubauen, von seinen Zielen, Möglichkeiten und Grenzen. Die Einbeziehung zeitlicher Entwicklungsstrukturen in diesen Verständnis- oder Erkenntnisvorgang hat im Zusammenhang damit nur eine Hilfsfunktion. Es würde zu chaotischen Spekulationen führen, den »Sinn« eines Lebensganges aus bestimmten Zahlen »deuten« zu wollen.

      Überhaupt ist es eine heikle Angelegenheit, mit der »Bedeutung« von Zahlenproportionen umzugehen, die man zu finden meint. Die Versuchung ist groß, eine gefundene Zahlenstruktur in einem der numerologischen Werke nachzuschlagen, die heute zahlreich zur Hand und wohlfeil sind. Sinnvoller ist es, sich mit den geistigen Kräftekonstellationen zu befassen, deren irdischer Name in einer Zahl verborgen sein kann. Hierüber gibt es umfangreiche, aber auch zwielichtige Literatur. Der Autor bevorzugt dazu Werke der jüdischen esoterischen Tradition (heute vertreten durch Friedrich Weinreb) und des anthroposophischen Zahlen-, Mathematik- und Geometrieverständnisses (vertreten zum Beispiel durch Rudolf Bindel). Es kommt auf jeden Fall darauf an, sich in eine Empfindung für die Proportionen einzuleben, die sich in den Zahlen aussprechen.

      Zahlen weisen auf Wechselverhältnisse hin, die zwischen irdischen und sinnlich gegebenen Vorgängen bestehen können. Sie sagen etwas über die Natur eines Sinnzusammenhangs und über die geistige Seite irdischer Zusammenhänge. Weite Felder der Schöpfung sind nach Zahl und Verhältnis geordnet. Zwischen Planetenbahnen bestehen Proportionen, die in Zahlen abgebildet und sogar, in der harmonikalen Musik, zu Gehör gebracht werden können.8 Die Entwicklung des menschlichen Leibes durchläuft numerisch formulierbare Proportionen.9 Was sich in der Zeit entfaltet, bewegt und überhaupt zusammengehört, spricht sich in Zahlenverhältnissen zueinander aus. Auf dem Feld der Musik ist dies vielleicht noch am ehesten erlebbar. Aber auch im Bereich der Biographik entfalten sich die Ereignisse, die ichhaft zusammengehören, untereinander in Zahlenverhältnissen.

      So ist es zum Beispiel ein Unterschied, ob eine Trennung vier oder sieben Jahre, neun oder zwölf Jahre nach dem Kennenlernen geschieht. Die Qualität der Trennungssituation ist entsprechend eine jeweils andere. Eine Trennung nach vier Jahren wird in der Ebene von Schwierigkeiten des alltäglichen Zusammenlebens liegen. Wenn nicht noch andere Umstände und Faktoren hinzukommen, wird man dies so erwarten dürfen. Denn in der Vier verdichtet sich die rein irdische Seite des Menschen. Bei einer Trennung nach sieben Jahren darf man erwarten, dass das Paar nicht zu einer gemeinsamen Entwicklung finden konnte. Einer Trennung nach neun Jahren liegen zumeist gegenseitige Fremdheitserlebnisse zugrunde, die von dem Paar nicht mehr aufgelöst werden konnten. Bei der Trennung nach zwölf Jahren werden wir im allgemeinen das Fehlen einer geistigen Beziehung feststellen. Dies sind nur Beispiele, keine Deutungsmuster.

      Wir können, um beim Thema Trennung zu bleiben, in einer Biographie nach weiteren Trennungs- und Verlusterlebnissen suchen und dann oft ein bestimmtes Zahlenverhältnis, einen »Rhythmus« zwischen diesen Ereignissen finden. Die Zahlenwerte eines solchen Rhythmus können dann vielleicht einen Hinweis darauf geben, worauf die betreffende Individualität mit dem Trennungsthema in ihrem Leben hinaus will. Die Zahlenwerte können etwas sagen über den »Sinn«, den solche Trennungen für diese Person haben. Und dieser ist eben ein jeweils anderer – je nachdem, ob die Trennungen alle vier, alle neun Jahre stattfinden et cetera.

      Abschließend und dem übernächsten Kapitel schon vorgreifend sei noch zu bedenken gegeben, dass der besonders unter Anthroposophen bekannte und beliebte Siebener-Rhythmus ein Rhythmus anderer Art ist als etwa der Fünfer-, Zehner- oder Zwölfer-Rhythmus. Denn die Jahrsiebte sagen etwas über Zeiträume aus, die nach Erlebnis und Aufmerksamkeit unter einem bestimmten Thema stehen. Rudolf Steiner hat die Qualität dieser jeweils etwa sieben Jahre umfassenden und – bis zur Lebensmitte – durch einen biologischen Entwicklungsschritt abgeschlossenen Zeiträume mehrfach umfangreich beschrieben.10 Aus seinen Beiträgen geht hervor, was auch die einfache Beobachtung von Lebensläufen zeigt: Der Siebener-Rhythmus verweist auf Erlebnisqualitäten, Wahrnehmungsqualitäten, die sich aus der natürlichen Entfaltung und biologischen Entwicklung des Menschen ergeben. Etwas ganz anderes sind die in diesem Kapitel beschriebenen Zeitverhältnisse der Ereignisse zueinander. Der Sechzehner-, Zehner- oder Achter- Rhythmus sagt etwas über Zeitpunkte, zu denen bestimmte Ereignisse eintreten, die im Zusammenhang mit einem Lebensthema stehen und deren Abstand, in Jahren ausgedrückt, diesen sinnhaften Zusammenhang charakterisiert.

      Die Rhythmen betreffen den inneren, sinnhaften Zusammenhang äußerer Ereignisse. Ihr Auftreten hängt ganz von der individuellen Gestaltung einer Biographie ab. Sie müssen auch gar nicht auftreten, und meist ist es nur ein Rhythmus. Dagegen gilt das Gesetz der siebenjährigen Entwicklungsschritte für alle Biographien, auch wenn es oft von einer Reihe anderer, vor allem individueller Faktoren, überlagert ist. Anders wäre das Trennungs- und Verlustthema wahrscheinlich überbeansprucht, wenn zwar Trennungen und Verluste in der Biographie auftreten – es gibt sie wohl in den meisten Biographien –, aber kein Rhythmus zwischen ihnen zu entdecken ist.

      Diesen Bereich kann man nicht mechanisch handhaben. Vor allem geht es hier nicht um eine pauschale Zahlenmystik, die das »Vorkommen« bestimmter Zahlen untersucht und deutet: XY hat in einem Haus mit der Nummer 6 gewohnt, seine Frau hat ihn sechs Jahre nach der Heirat verlassen, und die Freundin seiner Tochter besitzt sechs Meerschweinchen. Das muss doch etwas bedeuten! Nein, das bedeutet nichts. Denn es werden dabei willkürlich aus allen möglichen Lebensbereichen, die gar keinen sinnhaften Zusammenhang haben, Zahlen zusammengestellt. Und weil man solche Zahlen vorfindet, interpretiert man den sinnhaften Zusammenhang oder wenigstens eine »Bedeutsamkeit« hinein.

      Die Zeit- und Zahlenstrukturen, wie sie in der Biographik Beachtung finden, bestehen zwischen Ereignissen. Sie sind nie selbst schon Ereignis – schon gar nicht als Hausnummer oder Anzahl von Meerschweinchen. Und die Ereignisse, zwischen denen sie erkennbar werden, müssen sinnhaft zueinander in Verbindung gebracht werden können. Sonst gerät man damit in willkürliche und unverbindliche Spielereien. Denn natürlich würde man in jeder Biographie für jede Zahl einen Rhythmus finden, der irgendwelche Ereignisse miteinander verbindet. Man wird vielmehr nach Wendepunkten suchen, nach Neuanfängen und dergleichen. Wenn überhaupt, dann setzt die rhythmische Strukturierung der Biographie an solchen Ereignissen an.

      Das