von rechts. Der Rechtspopulismus bietet viele Varianten desselben Themas: »das Volk«, ethnisch oder rassisch definiert, gegenüber einem oder mehreren anderen, die nicht dazu gehören: Juden, Muslime, Türken, Schwarze, Mexikaner, »Einwanderer« und so weiter.
Wenn es heute in Europa und den USA eine politische Bedrohung gibt, die noch größer ist als der Populismus, dann ist es das weitverbreitete Versagen der etablierten politischen Parteien und Persönlichkeiten, ihm die Stirn zu bieten. Der verhängnisvolle erste Schritt besteht darin, sich damit abzufinden, wie Populisten die Sprache verwenden. Ein Beispiel dafür ist »der Wille des Volkes« – eine Formulierung, die im Vereinigten Königreich routinemäßig verwendet wurde, wenn es um das Ergebnis des Brexit-Referendums ging. Sogar Remainer, die sich für den Verbleib und gegen den Austritt aussprachen, neigten dazu, den Gedanken zu akzeptieren, dass das Ergebnis »den Willen des Volkes« zum Ausdruck bringe. Allerdings muss man die Wahlmöglichkeiten auf dem Stimmzettel genau bedenken: Kreuzen Sie »Mitglied der Europäischen Union bleiben« oder »Die Europäische Union verlassen« an. Die erste Option beschrieb den Status quo, eine bekannte Größe. Die zweite Option stand für eine total unbekannte Größe (die selbst zu dem Zeitpunkt, als dieser Essay geschrieben wurde, im Herbst 2020, in entscheidenden Punkten noch unbekannt ist). Bedenken Sie, dass die Wahlbeteiligung nur 72,21 Prozent betrug. Bedenken Sie ferner, dass die Abstimmung fast fifty-fifty ausging und das Vereinigte Königreich teilte: 51,89 Prozent für den Austritt, 48,11 Prozent für den Verbleib. Darüber hinaus stimmten von den vier Ländern des Vereinigten Königreichs zwei (England und Wales) für den Austritt, während zwei (Schottland und Nordirland) für den Verbleib stimmten.16 Zumindest legen diese Fakten nahe, dass die Verwendung des Ausdrucks »der Wille des Volkes« zur Beschreibung des Wahlergebnisses nicht taugt. Welches Volk? Wessen Wille? Wille mit welchem Wissens- oder Überzeugungsgrad? Und so weiter.
Es geht hier nicht um die Formulierung als solche. Es geht auch nicht um den Brexit, der von einigen aus Gründen unterstützt wurde, die weder populistisch noch nationalistisch waren. Es geht um die Art und Weise zu sprechen. Wenn »der Wille des Volkes« eine rein empirische Bedeutung hätte, dann hieße die Kurzform lediglich »die Mehrheit derer, die gewählt haben«. Aber in der öffentlichen Debatte, die auf das Ergebnis des Referendums folgte, schien sich der Ausdruck auf eine transzendente Einheit zu beziehen, »das Volk«, und einen metaphysischen »Willen«, der irgendwie alle Unterschiede in sich selbst aufhob; ein heiliger Wille; ein Wille, den man nicht infrage stellen konnte. Jeder, der das Ergebnis des Referendums bezweifelte, konnte leicht als undemokratisch bezeichnet werden – was natürlich selbst undemokratisch war. Aber die Stimmung im Land zeugte davon, dass die Menschen dies im Allgemeinen nicht erkannten. Es war wie ein böser Zauber, der über ein ganzes Volk gelegt wurde, ohne dass George Orwell ihn zerstreuen konnte.17 Es war unheimlich.
In gewisser Weise war dies ein größerer Triumph für Farage als der Brexit. Die Sprache ist die Seele eines Volkes. Wenn man die Sprache besitzt, besitzt man auch das Volk. In ganz Großbritannien sprachen die Menschen à la Farage, auf seine Art und Weise, übernahmen seine Syntax, als ob sie ein Pint Bier aus einem gemeinsamen Glas mit einem gemeinsamen Henkel tranken. (Ein Volk, ein Durst, ein Glas.) Es gab sogar prominente Brexit-Gegner, die das Ergebnis des Referendums als vollendete Tatsache zu akzeptieren bereit waren. Zum Beispiel der Schattenfinanzminister aus der Labour-Partei, John McDonnell. In der Today-Sendung von BBC Radio 4 sagte er: »Wir haben uns dafür eingesetzt, zu bleiben, aber wir sind Demokraten und müssen den Willen des Volkes respektieren.«18 Mit anderen Worten, die Angelegenheit ist erledigt. Doch in einer Demokratie können Entscheidungen angefochten und Fragen sollten wiederaufgeworfen werden. Hardcore-Populismus stellt die größte Bedrohung für die Demokratie dar, wenn Politiker und Kommentatoren einen populistischen Sprachgebrauch dulden.
1»About Words« (Cambridge Dictionary blog): ‹https://dictionaryblog.cambridge.org/2017/11/29/cambridge-dictionarys-word-of-the-year-2017/›.
2Antonio Caño: Pope Francis: »The danger is that in times of crisis we look for a savior«, in: El Pais, 22.1.2017, ‹https://english.elpais.com/elpais/2017/01/21/inenglish/1485026427_223988.html›.
3Jan-Werner Müller: What is Populism?, Philadelphia 2016, S. 87.
4Cristóbal Rovira Kaltwasser et al: The Oxford Handbook of Populism, Oxford 2017, S. 3.
5Encyclopaedia Britannica: ‹https://www.britannica.com/topic/Optimatesand-Populares›.
6Ernesto Laclau und Chantral Mouffe befürworten Populismus aus einer linken Perspektive, aber sie sind politische Theoretiker und keine praktizierenden Politiker.
7Lewis Carroll: Through the Looking Glass, Kap. 6.
8Müller, S. 7.
9Ralf Dahrendorf: Acht Anmerkungen zum Populismus, Berlin 2003. Dahrendorf (1929–2009) war ein bedeutender deutsch-britischer Soziologe, Philosoph und Politikwissenschaftler.
10Ten-Point Program, Wikipedia, ‹https://en.wikipedia.org/wiki/Ten-Point_Program›.
11Nigel Farage war früher Vorsitzender der UK Independence Party (UKIP). Seit März 2019 ist er Vorsitzender der Brexit-Partei.
12The Independent, 24.6.2016: ‹https://www.independent.co.uk/news/uk/politics/eu-referendum-nigel-farage-4am-victory-speech-the-text-in-full-a7099156.html›.
13John Cassidy: Trump embraces Nigel Farage, his British alter ego, in: The New Yorker, 25.8.2016, ‹https://www.newyorker.com/news/john-cassidy/trump-embraces-nigel-farage-his-british-alter-ego›.
14The Independent, 24.6.2016.
15Siehe z. B. Jonathan Freedland in: The Guardian, 15.2.2020, S. 36-37.
16Results of the 2016 United Kingdom European Union membership referendum, Wikipedia, ‹https://en.wikipedia.org/wiki/Results_of_the_2016_United_Kingdom_European_Union_membership_referendum›.
17Eine Anspielung auf den Essay Politics and the English Language (1946) von Gerorge Orwell (1903–1950), Autor von Farm der Tiere und 1984. Orwell war ein Verfechter des demokratischen Sozialismus.
18The Guardian, 2.2.2017.
Patriotismus
Marion Detjen
Die meisten in der politischen Bildung, in den Medien, in der Politik, aber auch in akademischen Zusammenhängen gegebenen Definitionen von Patriotismus behandeln ihn als den nützlichen, wohlgeratenen, guterzogenen Bruder des bösen Buben Nationalismus; was der Nationalismus durch eine »Übersteigerung« der Vaterlandsliebe anrichte, solle der Patriotismus als »gemäßigte«, nicht aggressive, mit anderen Ländern, Völkern und Staaten Frieden und Ausgleich suchende Form verhindern; manchmal noch ergänzt um die Setzung, dass der Patriotismus an eine republikanische Staatsform geknüpft sein solle. Der Patriotismus habe – so der ideengeschichtliche Erklärartikel von Ives Bizeul auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung1 – auch historisch »dafür gesorgt, dass die modernen Republiken nicht primär als kulturelle beziehungsweise ethnische Einheiten verstanden wurden, sondern als nicht angestammte, politische ›Gemeinschaften von Staatsbürgern‹.« Die »mit dem republikanischen Patriotismus verbundene Idee der politischen Staatsnation (hat) die Vermehrung von menschenabgrenzenden ›völkischen‹ und von menschenverachtenden rassistischen Bewegungen gebremst.«