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Sprachgewalt


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der Errichtung des Reichstagsgebäudes 1894 ein Politikum gewesen, so konnte ihre Realisierung 1916 als ein Zugeständnis an die Kräfte verstanden werden, die auf Parlamentarisierung und Demokratisierung im Deutschen Reich drängten. Doch waren die angebrachten Worte bei näherer Betrachtung überaus heikel. Nicht nur, weil den Demokraten der Gestus, wonach der Kaiser dem Volk ein nur über begrenzte Macht verfügendes Parlament »schenke«, geradezu grotesk und anachronistisch anmutete. Auch blieb die Frage ungeklärt, wer oder was mit »DEM DEUTSCHEN VOLKE« überhaupt gemeint war. So verhinderte zum einen die Großschreibung aller Buchstaben Klarheit darüber, ob es sich hierbei um das deutsche oder um das Deutsche Volk handle, zum anderen ließ sich der Begriff Volk keineswegs nur im Sinne eines gleichberechtigten Staatsvolkes (demos) lesen. Ebenso konnte es als eine minderprivilegierte Schicht (plebs) oder eine Abstammungs- oder gar Rassengemeinschaft (ethnos) verstanden werden.

      Das Beispiel der Aufschrift am Reichstag zeigt, dass der Volksbegriff definitionsbedürftig war und – wie im Weiteren dargelegt werden soll – noch immer ist. Unbestimmt oder ohne Kontext gebraucht, bleibt er vieldeutig. Nur auf den ersten Blick scheint klar, was gemeint ist, doch ergeben sich bei näherer Betrachtung unterschiedliche Bedeutungen, die zueinander in einem zumindest latenten Widerspruch stehen können. Spätestens seit dem frühen 19. Jahrhundert ist Volk ein interpretierbarer sowie – aufgrund der Diskrepanz zwischen seiner normativen Aufladung und seiner unklaren Bedeutung – schillernder Begriff. Ausgehend von diesem Befund soll im Folgenden danach gefragt werden, wie sich die Bedeutung des Wortes im Laufe der Zeit veränderte, ob es als ein »missbrauchter« Begriff gelten kann und welche Alternativen es zu seiner Verwendung gibt.

      Ursprünglich wurde mit Volk eine konkrete Ansammlung beziehungsweise eine kleinere Gruppe von Menschen bezeichnet, die durch eine gemeinsame Tätigkeit oder Lebenssituation eine Gemeinschaft bilden. So wurden zum Beispiel eine Einheit Soldaten »Kriegsvolk« und die Besatzung eines Bootes »Schiffsvolk« genannt. Zugleich diente das Wort zur Bezeichnung von Personen aus den »unteren Schichten« und war dabei nicht selten negativ konnotiert. In der Bedeutung »Staatsvolk«, »populus«, etablierte sich der Begriff ab dem 17. Jahrhundert im staatsrechtlichen Diskurs.

      Die eigentliche »kopernikanische Wende der semantischen Entwicklung des Volksbegriffs« (Reinhart Koselleck)1 setzte mit dem Ende des 18. Jahrhunderts ein. Infolge der Amerikanischen und Französischen Revolution, der Napoleonischen Kriege sowie durch die Romantik differenzierte sich der Begriff aus. Ihm wurden neue Bedeutungen zugeschrieben. Ab dem Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert kann dabei zwischen drei verschiedenen Hauptbedeutungen unterschieden werden:

      Dem Volk als Gemeinschaft gleichberechtigter Staatsbürger (demos) kam in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und in der in Frankeich mit der Revolution entstehenden demokratisch-republikanischen Ordnung die Rolle des Souveräns zu. Es trat an die Stelle des Monarchen von Gottes Gnaden und wurde zur neuen Legitimationsinstanz. Die Regierungsgewalt ging nun von den vormals Regierten aus. Damit bekam der Begriff in demokratisch gesinnten Kreisen in Deutschland einen Verheißungscharakter für die bislang Minderprivilegierten.

      Bei ihrer Suche nach dem angeblich Urwüchsigen und Naturhaften stießen viele Dichter und Denker der Romantik auf die »unteren Schichten« (plebs). Johann Gottfried Herder etwa glaubte, durch die Erforschung von Sprache und Poesie des »einfachen Volkes« der »Seele des Volkes« nahezukommen. Eine Verklärung der »plebs« mit ihren Sitten, Gedichten, Märchen und Weisheiten setzte ein und sorgte dafür, dass diese nicht selten als eine Einheit, ja geradezu als ein Organismus gedacht wurde. In diesem Zusammenhang entstanden Begriffe wie »Volksgeist«, »Volksseele«, »Volkscharakter« oder »Volkskörper«. Das Volk wurde dabei als eine durch gemeinsame Kultur, Sprache und Abstammung konstituierte Gemeinschaft begriffen. Diese romantische Verklärung der »plebs« fand in Abgrenzung zur Aufklärung und zum Individualismus statt.

      Ähnlich wie die demokratische Ordnung realisierte sich auch der Nationalstaat in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht. Schlimmer noch: Infolge der preußischen Niederlage in den Napoleonischen Kriegen bei Jena und Auerstedt 1807 hatte Preußen sogar Teile seines Territoriums an Frankreich verloren. Diese Existenzkrise und die Notwendigkeit, Truppen zu mobilisieren, trugen dazu bei, dass Männer wie Scharnhorst, Neidhardt, Gneisenau und Clausewitz begannen, das preußische Heer zu reformieren. Dabei machten sie sich die verbreitete Sehnsucht nach einem Nationalstaat zunutze und förderten ein entsprechendes Zusammengehörigkeitsbewusstsein in der Bevölkerung. Als seine Basis und zugleich als ein Ersatz für den fehlenden deutschen Nationalstaat galt das Konzept der »Kulturnation«. In diesem fiel dem Volk als der auf gleicher Abstammung, Herkunft, Sprache, Geschichte, Brauchtum oder Religion basierenden Gemeinschaft (ethnos) die zentrale Rolle zu. Stellte sich die Gründung eines deutschen Nationalstaats nach dem Sieg über Napoleon zwar nicht ein, so konnte der Erfolg in der »Völkerschlacht« bei Leipzig 1813 doch als Bezugspunkt für die Nationalstaatsbewegung der folgenden Jahrzehnte dienen. Während das Konzept des »Volkes« als Abstammungsgemeinschaft auf der einen Seite den Unterschied zwischen Untertanen und Regierten negierte, schuf es auf der anderen Seite aber eine Abgrenzung zwischen »Innen« und »Außen«. Nur diejenigen, die dieser Gemeinschaft angehörten, konnten Mitglied der »Kulturnation« und somit des deutschen »Volkes« sein. Ähnlich wie bei der Bedeutungsvariante »plebs« wurde Volk im Sinne von »ethnos« zumeist als kollektive Einheit und damit losgelöst vom einzelnen Menschen gedacht. Die Konstituierungsmerkmale des »Volkes« als Abstammungsgemeinschaft unterschieden sich von denen der ursprünglichen Volksbedeutung insofern, als dass in der neuen Variante un- oder kaum veränderbare Kriterien wie Herkunft, Sprache oder Religion und nicht mehr Aspekte wie die kurzfristige Situation, der jeweilige Zweck oder das zufällige Zusammentreffen über die Zugehörigkeit zum Volk entschieden. Nicht selten vertraten die Verfechter des Konzepts einer »Kulturnation« damit auch die Vorstellung, die Deutschen seien anderen Nationen überlegen oder hätten eine göttliche Mission.

      Diese drei Hauptbedeutungen des Volksbegriffs – »demos«, »plebs« und »ethnos« – bildeten sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert fast gleichzeitig heraus. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde das Wort Volk in der politischen Sprache häufig verwendet. Sowohl für Demokraten als auch für Nationalisten war (und blieb) es eine Sehnsuchts- und Verheißungsvokabel.

      Eine Radikalisierung erfuhr der ethnische Volksbegriff Ende des 19. Jahrhunderts. Durch die Gründung des (kleindeutschen) bismarckschen Kaiserreichs 1871 war der Nationalstaat zwar verwirklicht worden, rechte Kritiker wie der Jurist Heinrich Claß führten aber zum einen an, dass nicht alle »Deutschen« zum Reich dazugehörten, und monierten zum anderen die Existenz von »fremdvölkischen« Minderheiten innerhalb des deutschen Staatsgebiets. Mit dem Status quo des Kaiserreichs wollten sie sich nicht zufriedengeben. Radikalnationalistische Vereinigungen wie der »Alldeutsche Verband« verfolgten offen eine Expansionspolitik und Pläne für eine »völkische Flurbereinigung«2. Das ethnisch als »biologisch-geschichtliche ›Ganzheit‹«3 definierte Volk wurde von ihnen zur richtungsweisenden Instanz erklärt. Dabei griffen sie romantische Vorstellungen auf und radikalisierten diese, etwa durch die Bezugnahme auf rassistische Theorien. Kompromisse wurden von ihnen verachtet und Fragen der Gegenwart zu existenziellen Entscheidungen über Fortbestand oder Untergang des Volkes erklärt. Ihr Denken war von einem Konglomerat aus antisemitischen, rassistischen, sozialdarwinistischen, kulturkritischen sowie lebensreformerischen Elementen geprägt und bildete keine einheitliche Ideologie. Eine weltanschauliche Klammer für diese – eher lose miteinander verbundene – »Bewegung« stellte der omnipräsente Bezug auf das organische, einheitliche, vor- und überstaatliche deutsche Volk, das von inneren und äußeren Feinden bedroht werde, dar. Aus diesem Grund etablierte sich »völkisch« als Fremd- und teils auch als Selbstbezeichnung für diese Weltsicht. Dieses Label konnte allerdings nur notdürftig überdecken, dass es unter den »Völkischen« keineswegs einen Konsens darüber gab, wie sich das Volk genau konstituiere. Der Begriff wurde häufig eher unbestimmt verwendet. Jeder Sprecher glaubte für sich zu »fühlen«, was das Volk war, doch standen rassistische und mystisch-metaphysische Vorstellungen innerhalb der »völkischen Bewegung« häufig unverbunden nebeneinander.

      Eine Klammer bildete der Antisemitismus: Im Denken von Anhängern der völkischen Weltanschauung konnten »die Juden« niemals zum