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Sprachgewalt


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mit den Folgen des zerstörten öffentlichen Raums und der zerstörten Freiheit umzugehen. Selbst die Entziehung der deutschen Staatsbürgerschaft konnte dem elitären Patriotismus des Schriftstellers Rudolf Borchardt nichts anhaben, der dafür seine jüdische Herkunft verleugnete und notorisches Lügen und Fälschen betrieb. Es scheint überhaupt ein innerer Zusammenhang zwischen einem Komme-was-wolle-Patriotismus und der Bereitschaft zum Lügen zu bestehen.7 Kurt Tucholsky jedenfalls und seine Freunde wussten bereits vor der nationalsozialistischen Machtübernahme, dass in einem Deutschland, das den Herausgeber der »Weltbühne« Carl von Ossietzky als Landesverräter ins Gefängnis schickte, jeder Patriotismus, auch der republikanische, sinnlos war. Die Freiheit war verloren, so Ossietzky: »Anderthalb Jahre Freiheitsstrafe? Es ist nicht so schlimm, denn es ist mit der Freiheit in Deutschland nicht weit her. Mählich verblassen die Unterschiede zwischen Eingesperrten und Nichteingesperrten«.8 Während Tucholsky, Walter Hasenclever und andere sich schon damals als exiliert empfanden und aus Deutschland herauszukommen suchten. »Tucho und ich sehen düster mit unserem Vaterlande. Die Partie ist verloren. Uns droht Verbannung, Verbot, Ächtung – Auf nach Frankreich! Zusammenschluss der Heimatlosen!!«, schrieb Hasenclever am 1. Dezember 1931 an Kurt Wolff.9

      Nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg, dem Verlust der deutschen Ostgebiete und der deutschen Teilung schließlich machte Dolf Sternberger 1959, nach gut zehn Jahren der Geltung des bundesrepublikanischen Grundgesetzes, das deutsche »Vaterland« in enger Bindung an die »›Republik‹, die wir uns schaffen«, und »die Freiheit, deren wir uns nur wahrhaft erfreuen, wenn wir sie selber fördern, nutzen und bewachen«, wieder zu einem Wert.10 In den 1970er-Jahren formulierte er diesen Wert aus und entwickelte ihn zum sogenannten Verfassungspatriotismus, ohne den Patriotismusbegriff selbst zu reflektieren.11 So stand er als ein republikanischer Patriotismus bereit, als ab Mitte der 1980er-Jahre der Historikerstreit, die deutsche Wiedervereinigung, die Fortschritte bei der europäischen Integration und die zunehmenden Einwanderungsbewegungen nach Deutschland eine neue Debatte über nationale Identität entfachten. Theoretisch untermauert wurde er, wiederum ohne dass der Patriotismusbegriff selbst reflektiert worden wäre, von Jürgen Habermas, als eine Art normatives Scharnier, um zwischen der partikularen, nationalgeschichtlich geprägten Kultur und den universellen Werten der Verfassung zu vermitteln.12 Anstatt in der liberalen Tradition, mit ihrem individualistisch-instrumentalistischen Verständnis von Staatsbürgerschaft, nur »einen formalen Konsens« auszudrücken, brauche die Verfassung die freiwilligen »kooperativen Anstrengungen einer staatsbürgerlichen Praxis«, und diese ließen sich über den Verfassungspatriotismus, als einem »neuen politischen Selbstbewußtsein«, erzeugen, vor allem im Hinblick auf ein geeintes Europa.13 Vor gut zehn Jahren, und das ist wohl der letzte Stand, hat Jan-Werner Müller das Konzept noch einmal präzisiert – und wieder, ohne den Patriotismusbegriff zu reflektieren: Den Verfassungspatriotismus solle man als ein »reflexives Projekt« von Bürger*innen ansehen, die sich in einem liberaldemokratisch verfassten Staat als Gleiche und Freie gegenseitig anerkennen, durch Aushandlung ihrer Konflikte kontinuierlich an der geteilten Verfassungsrealität arbeiten und gemeinsam eine »Verfassungskultur« ausbilden, die »zwischen universellen Prinzipien auf der einen Seite und den spezifischen Erfahrungen historisch konstituierter Kollektive auf der anderen« vermittelt.14 Wichtig sei die universelle Anschlussfähigkeit dieses Patriotismus und sein Verzicht auf ethnisch-kulturelle Identitäten. Während der Nationalpatriot, auch wenn er liberal ist, »bei Nationalkultur anfängt und dann bei liberaldemokratischen Werten landet«, geht der Verfassungspatriotismus die andere Richtung, er »(beginnt) mit universellen liberaldemokratischen Prinzipien und (gewinnt) daraus unter spezifischen historischen Umständen eine partikulare Verfassungskultur«15.

      Die Anhänger ethnisch-kultureller Nationalidentitäten warfen und werfen bis heute dem Verfassungspatriotismus vor, dass er »papiern«, kalt und blutleer sei. Sie ignorieren dabei, dass die Liebe zu einer freiheitlichen und gerechten Konstitution durchaus heiß empfunden werden kann; sie ignorieren aber auch, wie nützlich er inzwischen geworden ist, um Konflikte zu verschleiern und eigene Interessen zu verfolgen.

      Tatsächlich ist die »partikulare Verfassungskultur« inzwischen in Deutschland so ausgeprägt, dass, anders als noch zu Zeiten Dolf Sternbergers, auch Liberale und Konservative bis sogar in die AfD hinein an ihr mitwirken, sogar Leitkultur-Positionen mit ihr kompatibel sein können. Von der Bundeskanzlerin lässt sich keine Äußerung finden, die zu ihr in Widerspruch stünde. Als Angela Merkel im November 2018, als der UN-Migrationspakt diskutiert wurde, im Bundestag den Multilateralismus zum Patriotismus erklärte – »Entweder man gehört zu denen, die glauben, sie können alles alleine lösen und müssen nur an sich denken. Das ist Nationalismus in reinster Form. Das ist kein Patriotismus. Denn Patriotismus ist, wenn man im deutschen Interesse auch andere mit einbezieht und Win-win-Situationen akzeptiert«16 – konnte sie das im Vertrauen darauf tun, dass das »deutsche Interesse« in verfassungspatriotischem Sinne nicht mehr als Interesse einer ethnisch-kulturellen Volks- und Schicksalsgemeinschaft verstanden wurde, sondern als das Interesse der durch das Grundgesetz liberaldemokratisch verfassten und in dieser Verfassung bewährten deutschen Staatsbürgernation.

      Dolf Sternberger schrieb 1959 über das »Vaterland«, es »wäre eine Erlösung, wenn wir das Wort mit Ernst und ohne Scheu gebrauchen dürften«. Die Wortwahl ist heute anders, aber auch wenn kaum jemand bis auf die AfD und die CSU noch Vaterland sagt, ist der Patriotismus gerade in den letzten Jahren auch durch die Berufung auf den Verfassungspatriotismus vollständig rehabilitiert, von jeder Scheu und auch jeder Scham befreit, ja zu einer neuen Pflicht geworden. Kein*e Politiker*in, quer durch das Spektrum, kann es sich heute noch leisten, als unpatriotisch zu gelten. Die angeblich unpatriotische Geste, mit der Merkel 2013 auf der Siegesfeier der CDU nach der Bundestagswahl dem grinsenden Hermann Röhe das Deutschlandfähnchen aus der Hand nahm und wegwarf, hängt ihr bis heute nach, obwohl sie damit wohl nur eine Grenze zwischen Staat und Partei ziehen wollte.17 Es wird inzwischen wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Deutschlandfahne in jedem Kontext eine gute Sache ist, weil der Patriotismus ja an die Verfassung, an Freiheit, Recht und Ordnung geknüpft ist. Im Wort »Patriotismus« stecken aber immer noch die Vaterherrschaft, die Exklusion, die Unterwerfung und Unterdrückung ganz genauso drin wie im »Vaterland«, und weder die Verpflichtung auf die Verfassung noch die Versuche der Grünen, ihn durch unpräzise Heimatbegriffe zu besetzen, entkommen dieser Etymologie. Der Soziologe Stephan Lessenich ließ sich deshalb auf die Trennung von Nationalismus, Patriotismus und Verfassungspatriotismus gar nicht erst ein, als er 2018 den »linken Neonationalismus« als »eine der wenigen politischen Positionierungen, auf die sich Rot-Rot-Grün derzeit einigen zu können scheint«, diagnostizierte.18 Die patriotischen Anbiederungen und der Verrat an der internationalen beziehungsweise transnationalen Solidarität haben eine fatale Kontinuität auf der Seite der deutschen Linken, quer durchs 20. und 21. Jahrhundert, und leben jetzt wieder auf.

      Jede Art von Patriotismus, auch der Verfassungspatriotismus, auch und gerade dann, wenn er sich ausschließlich von universellen Werten herleitet, muss sich fragen lassen, wie er zu einer Welt steht, in der immer mehr Menschen in »ihren« Nationalstaaten eben nicht aufgehoben sind, sondern durch verbrecherische, kleptokratische, genozidale Regierungen und Wirtschaftsorganisationen heimatlos gemacht, ins Exil gezwungen und in die Flucht getrieben werden; und in der sich alle Versuche des internationalen Staatensystems – am stärksten mit der Genfer Flüchtlingskonvention oder eben jüngst eher schwach mit dem UN-Migrationspakt – Flüchtlingen und Vertriebenen wieder zu einem Status zu verhelfen, der ihnen Menschenrechte gibt, heute das Scheitern eingestehen müssen. Wie kann der Verfassungspatriotismus es mit den universalen Werten, von denen er herkommt, vereinbaren, dass der Verfassungsstaat, auf den er sich fixiert, eben nicht mit allen anderen Staaten als Gleicher und Freier verkehrt, sondern schon in seiner Entstehung engstens mit dem Imperialismus verschwistert ist, wie Hannah Arendt und, unter vielen anderen, auch Achille Mbembe gezeigt haben? Um mit sich ins Reine zu kommen, müsste er sich erst einmal entkolonisieren und bei der Gelegenheit über seine Umbenennung nachdenken.

      Die als Kind mit ihrer Familie aus Europa vertriebene politische Philosophin Judith Shklar hat ein Begriffsinstrumentarium entwickelt, um die Unterschiede und die Konflikte zwischen politischer Verpflichtung, politischer Loyalität, Bekenntnis, Treue und Gefolgschaft herauszuarbeiten.19 Im