alten Zeiten. Die meisten angeborenen Anomalien kann man nämlich tatsächlich an Fingern, Zehen, Händen und Füßen erkennen. Dann sage ich den Eltern, dass ich perfekte Hände und Füße sehe.
Anschließend horche ich Herz und Lunge ab.
Eine der wenigen ernsthaften Erkrankungen, die wir keinesfalls übersehen möchten, ist eine Aortenisthmusstenose oder ein anderer angeborener Herzfehler. Bei Neugeborenen überprüft man den Puls in der Falte am vorderen Oberschenkel. Ein schwacher Femoralispuls kann einen Hinweis auf ein Herzproblem liefern, sodass weitere Tests nötig sind. Das ist allerdings sehr selten. Wenn ich einen normalen Femoralispuls spüre, versichere ich den Eltern, dass alles genauso ist, wie es sein soll.
Dann schnappe ich mir mein Ophthalmoskop (eine spezielle Taschenlampe, mit der man sich die Augen ganz genau betrachten kann). Ich schaue nach einem guten Rotreflex. Das ist das normale rote Pupillenleuchten, das entsteht, wenn Licht durch die Pupille auf den roten Augenhintergrund fällt und von dort reflektiert wird. Bei Neugeborenen mit angeborenem Katarakt erhält man statt des roten Schimmers ein getrübtes, weißliches Pupillenleuchten. Ich habe bislang rund zehntausend Neugeborene untersucht und glücklicherweise noch niemals einen entdeckt!
Bis dahin habe ich das Baby so sehr gestört, dass es kurz davor ist, ein protestierendes „Aah!“ von sich zu geben. Ich versuche, genau den Moment abzupassen und kurz vorher zu sagen: „Und jetzt bitte einmal Aah sagen.“ (Die Eltern sind davon sehr beeindruckt.) Wenn das Neugeborene mit offenem Mund lautstark protestiert, betrachte ich sorgsam Gaumen und Mund und mache meinen altbewährten Witz: „Ein sehr schlaues Baby, kann schon jetzt Anweisungen befolgen.“
Häufig sieht man bei Babys oben am Gaumen einen weißen, erhabenen, rund einen Millimeter großen Punkt. Das ist eine sogenannte Epstein-Perle. Dabei handelt es sich um eine Zyste, die bei vier von fünf Neugeborenen auftritt. Ich zeige sie den Eltern und erkläre, dass das vollkommen normal und harmlos ist.
Ein sorgfältiger Blick auf die Hand zeigt oftmals trockene Stellen, Rötungen oder die flachen, dunkleren Flecken auf dem Gesäß, die manche als Mongolenfleck bezeichnen. Diese Verfärbung ist am häufigsten bei Amerikanern asiatischer, südamerikanischer und afrikanischer Abstammung. Meist verblasst sie im Kindesalter und fast immer bis zur Pubertät. Ich zeige den Eltern, was ich sehe, damit sie gleichzeitig etwas über ihr Neugeborenes lernen können.
Durch vorsichtige Bewegungen der Beine kann ich eine angeborene Hüftdysplasie ausschließen. Eine Hüftdysplasie möchten wir keinesfalls übersehen, weil sie andernfalls zu dauerhaften Hüftproblemen führen kann.
Es gibt zwar noch mehr zu untersuchen, aber das sind die Hauptpunkte. „Ihr Baby ist perfekt“, rufe ich entzückt.
Jedes Mal antwortet irgendjemand im Raum: „Wie hätte es anders sein können.“
Direkt nach der Geburt
Ich war der diensthabende Kinderarzt. Linda, die Großmutter des neugeborenen Mädchens, war mit im Kreißsaal.
„Zehn und zehn?“, fragte sie mich, als ich sorgfältig das glitschige, prächtige und rosafarbene Baby untersuchte, das gerade erst geboren worden war.
„Neun und neun“, antwortete ich ihr.
„Por dios!“, rief Linda erschrocken, weil sie dachte, ihre Enkelin hätte nur neun Finger und neun Zehen.
Allerdings sprach ich über den APGAR-Test. Das ist eine Untersuchung, die zwischen einer und fünf Minuten nach der Geburt gemacht wird, um den körperlichen Zustand eines Neugeborenen zu beurteilen. Es erfolgt eine Einschätzung von Atmung, Puls, Grundtonus, Aussehen und Reflexen. Jedes dieser fünf Kriterien erhält 0 bis 2 Punkte: Atemanstrengung, Herzfrequenz, Muskeltonus, Hautfarbe und Reflexauslösbarkeit. 10 ist die perfekte Punktzahl und 0 Punkte wäre bei einem toten Baby ohne Herzschlag und Atmung. Da die meisten Babys mit blauen Händen oder Füßen oder beidem geboren werden (der Fachausdruck dafür ist Akrozyanose), erachte ich 9 Punkte als perfekte Punktzahl. Dieses Baby, das übrigens Natalie hieß, war perfekt! Und ja, sie hatte zehn Finger und zehn Zehen.
Das war 1986. Obwohl ich in der Pädiatrie meine Berufung gefunden hatte, machte unser Krankenhaus, das Valley Medical Center in Fresno, Kalifornien, bei Wehen, Geburt und Neugeborenenversorgung alles falsch. Wie damals die meisten Krankenhäuser in den USA.
Wehen können insbesondere bei Erstgebärenden Stunden dauern, manchmal sogar Tage. Das macht Ärzten das Leben schwer. Sie sind in Patienten geschult, nicht in Geduld. Uns wurde gelehrt, einzugreifen. „Als Arzt habe ich143 weitaus mehr Angst, zu wenig zu machen als zu viel“, gesteht Dr. Atul Gawande, Professor für Chirurgie an der Harvard Medical School. So geht es den meisten Ärzten.
Wenn man als diensthabender Arzt über den Pager in einen Kreißsaal gerufen wird, wird man von Adrenalin durchflutet. Ist man für mehrere Geburten gleichzeitig verantwortlich, kann es sein, dass man tatsächlich in den Raum rennt und sich noch währenddessen die Ärmel hochkrempelt.
Doch gesunde Babys brauchen nach der Geburt nichts anderes als Ruhe, Liebe, Kuschelzeit und eine Brust, an der sie saugen können. Diese Dinge lernen Gynäkologen und Kinderärzte nicht während des Medizinstudiums. Auch wenn wir Ärzte es gut meinen, ist das Letzte, was ein gesundes Baby braucht, ein tatkräftiges Team aus medizinischem Personal, das es in seinen ersten Lebensmomenten unsanft behandelt.
Weg mit der Eile, nicht mit der Nabelschnur
Früher glaubte man, Blutungen bei der Mutter würden verhindert, wenn man innerhalb von Sekunden nach der Geburt die Nabelschnur durchtrennt. Jahrelang war dies Behandlungsstandard, obwohl es kaum stützende Beweise dafür gab und niemand darüber nachdachte, wie sich die sofortige Abnabelung auf das Baby auswirkt. Doch eine Reihe von wissenschaftlichen Studien hat jetzt bestätigt, dass, wenn die Nabelschnur nach der Geburt noch an der Plazenta verbleibt, das Blut des Neugeborenen, das sich noch darin befindet, wieder zurück ins Baby fließen kann.
Für eine schwedische Studie wurden 382 gesunde, reif geborene Babys randomisiert in eine von zwei Gruppen eingeteilt. Bei einer wurde die Nabelschnur erst später (frühestens drei Minuten nach der Geburt) durchtrennt, bei der anderen sofort nach der Geburt. 263 dieser Kinder wurden vier Jahre nach der Geburt erneut untersucht. Es stellte sich heraus, dass insbesondere Jungen von der späteren Nabelschnurdurchtrennung profitierten. Die schwedischen Kinder, insbesondere die Jungen, hatten bessere soziale und feinmotorische Fähigkeiten144 als Babys, deren Nabelschnur innerhalb von zehn Sekunden nach der Geburt durchtrennt worden war.
Zwar sind viele Krankenhäuser in der Hinsicht noch nicht auf dem neuesten Stand, aber wir wissen jetzt, dass es für die Babys – sowohl zu früh145 als auch termingerecht geborene146 – besser ist, wenn wir uns mit dem Durchtrennen der Nabelschnur nicht so sehr beeilen. Wenn wir damit warten, bis die Nabelschnur nicht mehr pulsiert – was von ein paar Minuten bis zu wenigen Stunden dauern kann –, sinkt bei den Babys die Wahrscheinlichkeit für Blutungen147 und sie haben höhere Eisenspeicher.148
Anämie bei Neugeborenen ist ein weltweites Problem. Bei der Geburt haben Babys viele zusätzliche rote Blutkörperchen. Wenn sie abgebaut werden, entsteht das gelbe Bilirubin. Die durch den schnellen Abbau von roten Blutkörperchen verursachte Gelbsucht ist leicht zu behandeln. Anämie, die durch zu wenige Blutkörperchen hervorgerufen wird, ist bei sechs bis neun Monate alten Säuglingen häufig und schwerer in Griff zu bekommen. Manchmal ist eine monatelange Gabe von Eisen nötig. Es mehren sich die Hinweise darauf, dass man durch eine spätere Durchtrennung der Nabelschnur das Risiko für Anämie in den ersten Lebensjahren verringern kann. Alles, was die Eisenspeicher erhöht – wie beispielsweise eine spätere Durchtrennung der Nabelschnur –, ist meiner Meinung nach sehr leicht durchzuführen.
Gemeinsame Zeit
Ihr Baby war neun Monate lang ein Teil von Ihnen und sollte nicht entrissen werden. Warum? Weil sich herausgestellt hat, dass die Babys durch Haut-an-Haut-Kontakt direkt nach der Geburt