übergegangen, das uns zu Reisenden macht, zu Suchenden? Denn wer reist, begibt sich auf die Suche. Nach dem Unbekannten, sagen die einen. Nach dem Versprochenen, sagen die anderen. Nach dem Anderen, auf jeden Fall. Doch das Andere, das wir in der Fremde suchen, braucht, um uns zu beglücken, auch ein Quantum Vertrautes. Unser jeweiliger Aufenthaltsort ist ein Spiegel, in dem wir uns selbst sehen wollen – eingebettet in einen anderen Rahmen. Wer bin ich, wenn ich in der Welt bin?
Sehr treffend heißt ein Buch des italienischen Journalisten Marco D’Eramo daher „Die Welt im Selfie“: Die Schauplätze wechseln, werden zu austauschbaren Hintergründen. Das Ich ist der Angelpunkt, um den sich die Welt dreht. Was nach einer narzisstischen Behauptung klingt, ist in Wahrheit eine bittere Erkenntnis: Viele brechen auf, um sich selbst zu entfliehen. Doch die Flucht aus der Welt endet immer in der Welt – und das Ausbrechen aus dem Ich wirft das Ich auf sich selbst zurück.
In diesen scheinbaren Widersprüchen bewegen wir uns, wenn wir auf Reisen gehen. Vielleicht ist deshalb das Ankommen schwierig, und vielleicht ist das die Quelle des Wehs, ob nach dem Heim oder nach der Ferne. Wer bin ich also, wenn ich in der Welt bin? Die Konstante. Die Unentrinnbarkeit des eigenen Ichs ist gleichzeitig kränkend und tröstlich. Geborgenheit finden wir letztlich nur in dem, was Bestand hat.
Für uns Menschen der Alpen ist der Inbegriff des Beständigen: der Berg. Unverrückbar und unübersehbar behauptet er sich im Landschaftsbild, gibt Orientierung, Ausrichtung, Halt. Man kann ihn ersteigen oder unterwandern, ihn stürmen oder ihm den Rücken kehren. Bezwingen kann man ihn nie. Möglich, dass wir ihn damit zu unserem Alter Ego mystifizieren, zum Unentrinnbaren, Schicksalshaften. Möglich, dass wir deswegen nicht von ihm loskommen, wir Bergler nicht, aber auch alle anderen nicht, die die Sehnsucht in die Berge führt.
Wer über den Tourismus in den Alpen schreibt, muss daher bei ihnen beginnen, bei den Bergen. Denn die Alpen, das hat schon Loriot festgestellt, bieten einen ganz erbärmlichen Anblick, wenn man sich die Berge wegdenkt.
Et eunt homines mirari alta montium et ingentes fluctus maris et latissimos lapsus fluminum et oceani ambitum et gyros siderum, et relinquunt se ipsos.
(Und es gehen die Menschen, die Höhen der Berge zu sehen und die gewaltigen Fluten des Meeres und die breit dahinfließenden Ströme und die Weite der Ozeane und die Bahnen der Gestirne und vergessen darüber sich selbst.)
Augustinus, Confessiones X, 8
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Magical Mystery Mountain
oder: Thronen wie Gott in Frankreich
Über Jahrtausende der Menschheitsgeschichte hinweg waren Berge vor allem eins: hinderlich. Sie versperrten den Weg, machten das Reisen umständlich und mühsam, zu einer beschwerlichen, gefährlichen Angelegenheit. Davon kann nicht nur die Gletschermumie Ötzi ein tiefgefrorenes Liedlein singen. Wie viele Elefanten starben bei Hannibals Überquerung der Alpen? Freilich, irgendwie musste man drüber, wenn man von Norden nach Süden, von Süden nach Norden wollte, Handel treiben, frohe Botschaften bringen, sich zum Kaiser krönen lassen oder auf irgendeine andere Weise sein Glück versuchen. Angesichts schlecht befestigter Saumpfade, rascher Wetterwechsel und unbefriedigender Gasthausdichte dürfte sich das Verkehrsaufkommen auf den Bergpässen allerdings in Grenzen gehalten haben.
Doch nicht nur für Reisende waren Berge herausfordernd. Auch für die Sesshaften war das Dasein an den steilen Hängen, auf denen ein paar Ziegen herumsprangen und nicht viel wuchs, ein ständiger Kampf. Freilich enthielt mancher Berg auch wertvolle Erze, Edelmetalle und Salz, die man auszubeuten trachtete – für die zahllosen Kinder und Erwachsenen, die man tief in die Eingeweide des Berges schickte, um dort Eisen, Silber, Salz und dergleichen abzubauen, blieben jedoch meist nur ein karges Auskommen und ein zerschundener Körper.
Waren des Berges Tiefen düster und gefährlich, so waren des Berges Höhen erst recht lebensfeindlich. Am angenehmsten lebte es sich auf halber Höhe über den Sümpfen des Tales und unter der zerklüfteten Ödnis der Felsen, wo Steilacker, Wald und Weide noch einiges hergaben und der Berg frische Wasserquellen, Schutz vor äußeren Bedrohungen und schöne Aussichten bot. Über der Waldgrenze, in der Nähe der Gipfel wohnten die Winde und der ewige Winter, dorthin verirrte sich kaum ein Mensch. Kein Wunder, dass man in den schroffen Felsen dämonische Wesen vermutete, Riesen, Zwerge, Geister, die mit den Menschen Schabernack trieben, sie in die Irre führten, in Abgründe stürzten, aber manchmal auch reich beschenkten.
Berge bergen – Geheimnisse, Schätze, das Göttliche. In ihrer Geborgenheit konnte man sich sicher fühlen, fern aller irdischen Verblendungen, dem Ewigen nahe. Vom holden Musenhort des Parnass zu den entfesselten Hexentänzen des Blocksbergs ist es freilich nur ein kleiner Schritt. Die Nymphen, Faune, Geister und Dämonen, die man in den Höhen vermutete, waren im gleichen Maße bezaubernd und beängstigend wie die belebte Natur, der man sie zuordnete. Über allen Wolken aber, dem Blick der Menschen entrückt, weilten die Unsterblichen. Der Berggipfel als Sitz der Götter ist eine Vorstellung, die nicht nur die alten Griechen kannten. Kann es einen majestätischeren Thron geben, von dem aus man auf die Welt hinabblickt? Wo aber die Götter thronen, da ist für den Mensch kein Aufenthalt. Heilige Berge galten (und gelten teilweise bis heute) als unbetretbar, verboten, zumindest den Uneingeweihten. Für Rituale und Zeremonien konnte man die mystischen Orte aufsuchen, aber auch dann nur nach sorgfältiger Vorbereitung und nur, wenn man wahrhaftig würdig war. Eremiten lebten ihr asketisches Leben in Berghöhlen, Klosterbrüder zogen sich in die steinerne Wüste zurück, um Gott zu schauen, doch unbedarfte Laien, oft vor allem Frauen, mussten dem heiligen Bezirk fernbleiben.
Bis heute gibt es weltweit Pilgerstätten auf Bergeshöhen, die unzählige Heil und Heilung Suchende anziehen. Längst ist aus der persönlichen spirituellen Reise selbst in entlegenen Winkeln der Erde eine durchorganisierte und kommerzialisierte Industrie geworden, Wanderhändler und Rastlokale verkaufen bis knapp vor der Erleuchtung Wegzehrung, Ausrüstung, rituelle Gegenstände. Doch auch jenseits dieser sakralen Bezirke umgibt die Berge eine Aura des Majestätischen, Weihevollen, Überirdischen. Instinktiv fühlen wir, dass wir uns in eine entrückte, magische Sphäre begeben, wo das Göttliche gegenwärtig ist, bereit, zu segnen oder zu zerschmettern. Der Mensch schrumpft angesichts der Naturgewalt zum Stäubchen zusammen, den Elementen ausgeliefert, dem Unberechenbaren. Er erlebt sich als unbedeutend und endlich, zugleich aber auch als in etwas viel Größeres eingebunden – eine geradezu transzendente Erfahrung. An seine Grenzen zu gehen, einen Teil der Kontrolle abgeben zu müssen, sich einer höheren, ungreifbaren Macht auszuliefern und sich zugleich auf eine Art zu spüren, wie es im sicheren Bereich der eigenen Komfortzone nie möglich wäre, darin liegt denn auch ein beträchtlicher Teil der Faszination, die uns in die Berge treibt.
Das Gefühl, dem Heiligen zu begegnen, ist auch heute noch tief in uns verwurzelt, und es schwingt jedes Mal unausgesprochen mit, wenn wir über die Berge sprechen. Dabei kann man die freizeittauglich gemachten Berge unserer Zeit nicht mit den schroffen, abweisenden Gebirgen vergangener Tage vergleichen. Wer heute in Turnschuh und T-Shirt losmarschiert, der kann sich auf bequeme Seilbahnen und wanderfreundliche, gesicherte Wege freuen, ausgeschildert und mit Zeitangaben versehen. Es winken Einkehrmöglichkeiten und Unterstände, und für den schlimmsten Fall steht der Helikopter der Bergrettung bereit. Aus dem gefährlichen, strapaziösen Geschäft der Bergüberquerung ist betreutes Wandern geworden. Sogar im Himalaja führt ein Schritt für Schritt vorbereiteter Weg mit Seilen, Leitern, Sauerstoffflaschen aufs Dach der Welt, und die Minuten des Gipfelsiegs sind gezählt und durchgetaktet, damit alle Wandergruppen rechtzeitig abgefertigt werden können.
Haben die Berge dadurch ihre Aura, ihre Magie verloren? Sind sie durch das Gewusel der Wanderwütigen entweiht, gar geschändet? Immer wieder hört man diesen Vorwurf von unterschiedlichen Seiten. Schon der Dichter Rainer Maria Rilke klagte, „kein