Selma Mahlknecht

Berg and Breakfast


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wir etwas erleben, hängt stark davon ab, wie wir davon erzählen. Das scheint zunächst paradox, doch wenn wir uns klarmachen, dass Erlebnisse einerseits im Vornhinein phantasiert und andererseits im Nachhinein mystifiziert werden, ergibt das durchaus Sinn. Nur sehr selten stürzen wir uns wirklich blindlings in ein Abenteuer; im Großteil der Fälle haben wir tradierte Vorstellungen bei der Hand, die uns einen Leitfaden darüber geben, wie wir das Durchzumachende bewerten sollen. Meistens werden uns diese Vorstellungen in Form von – eben nachträglich mystifizierten – Bildern geliefert, die uns das Unfassbare des Noch-nicht-Erlebten zumindest visuell fassbar machen sollen. Imagination – in diesem Wort steckt der Begriff „Imago“ für Bild – ist hier der Schlüssel. Wir imaginieren, was uns bevorsteht, und wenn wir es dann erleben, versuchen wir, das vorgeformte Bild mit dem tatsächlich Erlebten in Einklang zu bringen.

      Das gilt, wie wir gesehen haben, auch und gerade für unsere Vorstellung, was Bergsteigen bedeutet. Ob wir uns die angebotenen Bilder aneignen wollen oder nicht, hängt wiederum von der Vereinbarkeit des eigenen und fremden Bildrepertoires ab.

      Ein Aha-Moment in dieser Hinsicht war für mich eine Diskussion mit einem befreundeten Ehepaar, das kurz vor der Geburt seines ersten Kindes stand. Ich fragte arglos nach, ob die Frau in Erwägung ziehe, den Geburtsvorgang durch schmerzlindernde Mittel zu unterstützen. Die geradezu empörte Reaktion kam für mich völlig unerwartet. Niemals käme sie auf so eine abstruse Idee, wurde ich belehrt. Eine Geburt sei wie Bergsteigen. Nur wenn man aus eigener Kraft zum Gipfel gelangt sei, könne man die Aussicht wahrhaft genießen. Wer die Seilbahn nehme, könne die tiefere Bedeutung des Aufstiegs nicht nachvollziehen. Liebe Leserinnen und Leser, ihr seht: Wir waren wieder bei Petrarca.

      Ich wandte – nun freilich schon deutlich eingeschüchtert – ein, dass man die Geburt des Kindes doch nicht als Höhe- und Endpunkt des Weges betrachten könne, da der Weg hier doch eigentlich erst anfange. Und an eine Seilbahn (im Sinne einer medikamentösen Unterstützung des an seine Grenzen stoßenden Körpers) sei von da an nicht mehr zu denken. Das wollten unsere Freunde nicht gelten lassen. Die Geburt, beharrten sie, sei der Gipfel und basta.

      Ich sagte nichts mehr. Allerdings war ich doch sehr beeindruckt, was die Macht eines Bildes ausrichten konnte. In meinem Kopf ging es freilich weiter. Ich stellte mir vor, wie die frischgebackene Mutter mit ihrem Neugeborenen auf dem Gipfel steht, sturmumtost, abgekämpft, erschöpft. Und jetzt? Lang kann man sich auf einem Berggipfel nicht aufhalten, um das Panorama zu genießen, man muss auch wieder runter. Das war in der Geburt-als-Gipfelsturm-Phantasie allerdings nicht vorgesehen. Mich erstaunt bis heute, dass diese löchrige Metapher tatsächlich so wirkungsvoll war, dass mit ihr im Hintergrund der Einsatz von Schmerzmitteln unter der Geburt als völlig inakzeptabel angesehen wurde.

      Was hat das nun mit dem Thema des Bergtourismus zu tun? Doch einiges.

      Wenn das Gebären eines Kindes mit dem Besteigen eines Berges verglichen werden kann, gilt das dann auch umgekehrt? Ist der Gipfelsturm eine Art Geburt?

      Mit Petrarca könnte man sagen: ja, zumindest im Sinne einer spirituellen Wiedergeburt. Wobei, und das zeigt mein obiges Beispiel auch, es eine wesentliche Rolle spielt, wie man an das Ziel gelangt. Da gibt es nämlich offensichtlich einen richtigen und einen falschen Weg. Der falsche Weg, symbolisiert durch die Seilbahn, zerstört das Ziel oder genauer: den Genuss des Am-Ziel-angelangt-Seins. Wir lernen: Der wahre Genuss stellt sich erst ein, wenn er durch Schmerzen, Opfer, Mühsal errungen wurde. Erst dann weiß man eigentlich, was man an der Aussicht hat.

      Man möchte einer angeblich so spaßorientierten Freizeitgesellschaft wie der unseren gar nicht eine derartige masochistische Entsagungsmoral zutrauen. Und doch haben wir sie bis ins Mark verinnerlicht, tradiert über Generationen, und uns klingt der mahnende Tonfall der Mutter im Ohr, wenn es da heißt: Erst die Arbeit, dann das Spiel. Und Arbeit ist sauer, hart und kräftezehrend, sonst gilt sie nicht. Außerdem: Schmeckt das Brot nicht noch einmal so gut, wenn man es im Schweiße seines Angesichts errungen hat?

      Mein ewiger Widerspruchsgeist wäre geneigt zu antworten: keineswegs. Wie wir aber gelernt haben, ist das die falsche Antwort. Wer sich an den Gipfel gondeln lässt, hat das Ziel verfehlt. Denn, das wissen wir ja auch, nicht das Ziel ist das Ziel, sondern der Weg (aber nur, wenn er möglichst steil und steinig ist).

      Hier zeigt sich eine zutiefst christliche Besonderheit: Der Weg zur Verzückung, zur Ekstase, zur Erleuchtung führt über beschwerliches, gefährliches Gelände, er ist entbehrungsreich und schweißtreibend. Mogeln gilt nicht. Wer mogelt, ist ein Tourist. Und das will nun wirklich keiner sein (dazu später mehr). Der echte Reisende geht überallhin zu Fuß. Wenn er dann mit zerschlissenen Schuhen und kaputten Kniegelenken hinab ins Tal blickt, darf er als Märtyrer der wahren Pilgerfahrt Zeugnis ablegen über die Größe der Natur, das Wunder der Schöpfung und die Metaphysik des Hühnerauges. Sein Leiden legitimiert erst seinen Genuss, sein Opfer macht ihn erst zum Eingeweihten. Alle anderen können nicht mitreden. Oder würden Sie einem Extrembergsteiger zuhören, der noch alle Fußzehen beisammen hat? Na also.

      Ich hingegen halte es lieber mit Siddhartha Gautama, genannt der Buddha. Der gelangte nämlich zur Erleuchtung, indem er sich an einem Flussufer unter einen Baum setzte. Einfach so.

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      Einrichten und zurichten

      oder: Der dressierte Berg

      Der Berg als Mysterium und Sitz des Heiligen mag beeindrucken, seine Unzugänglichkeit auf manche anziehend wirken, doch in seiner wilden und ungezähmten Form bleibt er für die meisten ein unnahbarer Sehnsuchtsort. Wo nur schmale Pfade neben Abgründen in die Höhe führen, wo Erdrutsch, Steinschlag und Ungemach drohen, lassen sich keine wandernden Massen anlocken. Anders gesagt: Es nützt den Berglern nichts, wenn ihre Berge schön und imposant sind, solange sie nicht auch zugänglich und gastfreundlich werden. Aber da kann man ja ein bisschen nachhelfen. Der Mensch ist ein Meister darin, sich die Natur nach seinem Bedarf einzurichten – und nicht selten wird aus dem Einrichten ein Zurichten.

      Im Fall des Berges beginnt das Einrichten zunächst mit dem Eliminieren von Gefahren und Unannehmlichkeiten, erschöpft sich aber keineswegs darin. Sind die steilen und schmalen Wege erst einmal geebnet und kinderwagentauglich, rutschgefährdete Hänge gesichert, potenziell gefährliche Tiere unschädlich gemacht (sprich: ausgerottet), geht der Spaß erst los. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, um die Wanderer, Erholungssuchenden, Abenteurer und Adrenalinjunkies gleichermaßen in die Berge zu locken. Atemberaubende Luftbilder urtümlicher Felsformationen sorgen für die Sehnsucht, den Rest erledigen Planierraupe, Bagger und Beton.

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      Der eingerichtete Berg mit breiten, gut gesicherten Wegen, mit Beschilderungen, Kletterhaken, Drahtgeländern, Aussichtspunkten und Gipfelkreuzen, mit Ruhebänklein, Unterständen und Gaststätten, mit Kinderspielplätzen, Seilbahnen, Skiliften, Abfahrtspisten und Rodelbahnen, Bike-Trails, abgesprengten Kuppen, umgepflügten Gletschern, künstlichen Seen und Beschneiungsanlagen, mit Konzertbühnen, Erlebnispfaden und anderen Attraktionen, garniert mit Plastik- oder Holzskulpturen jener alpinen Tierwelt, die vor dem Trubel längst Reißaus genommen hat, hat mit seinem Urzustand in etwa so viel gemein wie ein überzüchteter Mops mit einem Wolf. Der Vergleich mag zunächst irritieren. Wenn wir uns aber vor Augen halten, dass den meisten von uns ein Mops um ein Vielfaches lieber ist als ein Wolf, auch wenn der Mops mit seiner plattgedrückten Schnauze kaum noch Luft bekommt, dann passt das Bild wieder. Die wildromantische Vorstellung des Ungezähmten und Ursprünglichen ist genauso lange attraktiv, bis die unberechenbare und bedrohliche Seite der Wildnis zum Vorschein kommt. Kein Wunder, dass wir unsere sehr eigene Vorstellung davon haben, was Natur ist (oder vielmehr: zu sein hat). Knopfäugig, sanft und schön, harmonisch und friedvoll soll sie – darf sie! – sein. Was in dieses Bild nicht passt, wird passend gemacht. Gämsen, Steinböcke, Murmeltiere ja, Wölfe und Bären nein – hier wiederholt sich im Großen, was im Kleinen genauso zu beobachten ist. Bienen und Schmetterlinge sind uns willkommen, Wespen und Stechmücken müssen weichen.