einen Lunapark gemacht? Der sprichwörtliche Wanderer in Flipflops ist zur Ikone des Leichtsinns geworden, mit dem wir uns dem Berg nähern. Kann ja nichts schiefgehen, irgendwer holt uns da schon raus.
Doch ein Restrisiko bleibt. Noch immer kann man sich im Gebirge Arme, Beine und den Hals brechen, noch immer kann man sich verirren, vom Steinschlag getroffen werden, abstürzen, erfrieren. In der Todeszone des Everest steigt man an Leichen vorbei, und auch der stolze Preis von mehreren Zehntausend Dollar für die Teilnahme an der Expedition gibt keine Garantie auf eine sichere Rückkehr. Nein, es ist weder schiere Vergnügungssucht noch eine Laune, die den Menschen in die Berge treibt. Es gibt bequemere Wege von Norden nach Süden, es gibt angenehmere Arten des Zeitvertreibs, es gibt risikoärmere Sportarten.
Warum also faszinieren uns die Berge, warum streben nach wie vor und immer mehr Menschen den Gipfeln zu? Wegen des Naturerlebnisses? Der schönen Aussicht? Oder weil es zur Sucht wird, nach und nach? Alle diese Gründe mögen eine Rolle spielen. Trotzdem glaube ich, dass der Hauptantrieb nach wie vor derselbe ist: Wir gehen in die Berge, um dem Göttlichen zu begegnen – und uns selbst.
Zum Beweis rufe ich in den Zeugenstand: Francesco Petrarca und Dante Alighieri.
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Der Gipfel der Läuterung
oder: Petrarca besteigt einen Berg und erfindet den Alpinismus
Francesco Petrarca, der große italienische Dichter des 14. Jahrhunderts, ist wohl den meisten zusammen mit Dante Alighieri und Giovanni Boccaccio als Teil der toskanischen Poeten-Triade des „Aureo Trecento“ bekannt. Er ist Autor zahlreicher Sonette, deren Form nach ihm benannt ist und von denen sich viele um eine ins Mythische überhöhte Schönheit namens Laura ranken. Petrarca gelingt es dabei meisterlich, die Natur als Kulisse seiner Seufzer, als Sichtbarwerdung seiner inneren Turbulenzen zu inszenieren.
Es ist ein wiederkehrender Topos der Literatur, dass Phänomene der Natur als Spiegel- bzw. Gegenbild einer seelischen Befindlichkeit dargestellt werden. Es ist daher oft nicht zu entscheiden, ob ein Dichter in seinen Werken von einer tatsächlichen Naturbeobachtung ausgeht oder aus einer Seelenstimmung das Naturbild entwirft. Meistens ist das für das Verständnis des literarischen Textes auch unerheblich. Verba volant und Papier ist geduldig – dass man Worte oft nicht wörtlich nehmen muss, ist uns bewusst. Wir rechtfertigen ja selbst sachliche Ungenauigkeiten gerne mit dem Begriff der „dichterischen Freiheit“ und nehmen diese auch in eigener Sache reichlich in Anspruch, wenn wir von unseren Abenteuern erzählen.
Wie verhält es sich nun mit einer der berühmtesten Episoden aus Petrarcas Leben, nämlich der selbsterklärten Erstbesteigung des 1.909 Meter hohen Mont Ventoux in Südfrankreich? In einem in lateinischer Sprache verfassten und von Experten auf 1352/53 datierten Brief an seinen Freund Dionigi di Borgo San Sepolcro schildert Petrarca diese Expedition, die er um das Jahr 1335 herum zusammen mit seinem jüngeren Bruder Gherardo durchgeführt haben will. Dabei gerät alles zum Omen, zur symbolisch aufgeladenen Begebenheit. Der Berg ist sturmumtost, der Weg steil und steinig. Gherardo, der jüngere, unbeschwerte Wanderer, der sich früh für ein geistliches, Gott zugewandtes Klosterleben entschieden hat, steigt leichtfüßig voran. Francesco, gedankenschwer und an weltliche Güter gefesselt, kommt nur mühselig vorwärts. Immer wieder muss er innehalten und seine Kräfte sammeln. Dennoch gelingt den Brüdern gemeinsam der Aufstieg zum Gipfel. Dort angelangt, schlägt der Dichter sein geliebtes Buch „Confessiones“ aus der Feder des Kirchenlehrers Augustinus auf, auf das er offensichtlich auch auf der Bergtour nicht verzichten wollte. Die Fügung – oder Petrarcas Erfindungsgeist – will es, dass das Buch sich an einer Stelle öffnet, an der zu lesen ist: Et eunt homines mirari alta montium et ingentes fluctus maris et latissimos lapsus fluminum et oceani ambitum et gyros siderum, et relinquunt se ipsos.
Übersetzt lautet der Satz: „Und es gehen die Menschen, die Höhen der Berge zu sehen und die gewaltigen Fluten des Meeres und die breit dahinfließenden Ströme und die Weite der Ozeane und die Bahnen der Gestirne und vergessen darüber sich selbst.“ Nun bedeutet „relinquere“ freilich nicht wörtlich „vergessen“, sondern genaugenommen „verlassen“ oder „zurücklassen“. Damit knüpft das „relinquunt“ an das „eunt“ vom Satzanfang an: Die Menschen gehen fort (um Berge, Ströme, Ozeane usw. zu betrachten) und verlassen dabei sich selbst.
Im Kontext seiner Bergbesteigung kommt Petrarca also zum Schluss: Das letzte Ziel der Reise kann nicht die Selbstvergessen- heit, das Außer-sich-Geraten, das Nicht-bei-sich-Sein des Reisenden sein, vielmehr muss der Weg, um vollendet zu werden, letztlich ins Innere zurückführen. Nur so wird das Naturerlebnis zu einer geistig erfüllenden Erfahrung transformiert.
Doch hat Petrarcas Bergabenteuer überhaupt stattgefunden? Oder ist der Aufstieg zum Gipfel einfach nur eine sehr anschauliche Metapher für die innere Suche nach dem Göttlichen? Ich habe es schon geschrieben: Das ist schwer zu entscheiden. Tatsache ist: Manchen gilt Petrarca aufgrund seiner Reisebeschreibung als „Vater der Bergsteiger“ und gar als „Erfinder des Alpinismus“. Ob zu Recht oder Unrecht, spielt dabei nicht einmal eine Rolle. Viel wesentlicher ist, welche Weltanschauung sich darin offenbart, wenn ein geradezu metaphysisches Erlebnis zur Geburtsstunde einer Bewegung mystifiziert wird. Der Bergsteiger ist somit nicht etwa jemand, der einfach gerne aufwärts über Stock und Stein geht und am Ende von oben runterschaut. Seine Wanderung ähnelt jener legendären ersten Bergbesteigung Petrarcas, wird zur spirituellen Reise, die im Idealfall zur Begegnung mit dem Göttlichen, zur Katharsis führt – vorausgesetzt, man hat ein gutes Buch dabei.
Bergsteigen zur Seelenläuterung? Ist das nicht etwas hoch gegriffen?
Man muss nicht weit suchen, um einen weiteren Beweis für diese These zu finden. Petrarcas zeitlicher Vorgänger Dante Alighieri ist den meisten mit seiner „Divina Commedia“ ein Begriff. Weniger bekannt ist, dass dieses zwischen 1307 und 1321 entstandene Werk sich keineswegs in der als autobiographisch dargestellten Schilderung einer Reise ins Inferno erschöpft. Der gewaltige Höllentrichter, in den Dante mit seinem Begleiter Vergil im ersten Teil hinabsteigt, findet im zweiten Teil der Commedia seine Entsprechung in einem ebenso großen Berg, dem Purgatorio oder Fegefeuer, den Dante hinaufsteigen muss. Dieser „Läuterungsberg“ führt über sieben „Terrassen“, die jeweils eine reinigende Aufgabe haben, hinauf zum irdischen Paradies: Dort angelangt und von der Last aller Sünden befreit, kann Dante im dritten Teil zu den Sternen fliegen.
Die Ähnlichkeiten zwischen Dantes fiktionaler Besteigung des „Läuterungsbergs“ und Petrarcas angeblicher oder tatsächlicher Besteigung des Mont Ventoux sind unübersehbar. Bemerkenswert ist allerdings, dass sich Petrarca zur Schilderung seiner Katharsis nicht einer offensichtlich erfundenen Natur bedienen muss – an die Stelle der rein symbolischen Landschaft tritt eine reale Landschaft, die symbolisch aufgeladen wird. Indem er seine Geschichte im Gegensatz zu Dante im Bereich des Möglichen ansiedelt, öffnet Petrarca neue Deutungsspielräume. Vor allem stellt er es uns frei, seine Reise nachzuvollziehen und uns selbst auf den Weg zum Mont Ventoux zu machen. Er ist damit vielleicht tatsächlich der erste alpinistische Influencer.
So oder so: Wir können festhalten, dass bereits im Mittelalter, Jahrhunderte vor dem Aufkommen des Alpinismus, der Erzählrahmen für das Bergerlebnis abgesteckt war. Und dieser Rahmen gilt bis heute: Wer sich den schroffen Felsen stellt, den eisigen Höhen, dem majestätischen Massiv, der begibt sich auf eine spirituelle Reise, in der Muskelkraft und körperliche Fitness nur eine Nebenrolle spielen. Gefordert sind die mentale Stärke, mithin der Charakter und die Persönlichkeit, die im Zuge des Bergerlebnisses eine Transformation, möglicherweise sogar eine Läuterung durchlaufen und das Göttliche erfahren. So erzählen wir es uns wieder und wieder, und ich vermute, dass vielleicht nicht alle, aber doch die meisten, die mit Funktionsjacken und moderner Ausrüstung die gesicherten Wege hinaufwandern, diesem inneren Drehbuch folgen. Kommen sie tatsächlich geläutert zurück? Sie wollen es zumindest glauben. Und auch im Alpen-Tourismus ist nichts so mächtig wie der Placebo-Effekt.
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