Selma Mahlknecht

Berg and Breakfast


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ergibt sich eine kognitive Dissonanz, mit der wir interessanterweise sehr gut zurechtkommen. Einerseits wünschen wir uns unberührte Landschaften und authentische Naturerlebnisse. Andererseits identifizieren wir erst die eingerichtete Landschaft überhaupt als authentisch. Verbuschte und verwaldete Almen gelten uns als ungepflegt und verwahrlost – und die Möglichkeit, beim Wandern einem Bären zu begegnen, begrüßen wir nicht als einmaliges Naturerlebnis, vielmehr denunzieren wir die „politisch korrekte“ Fahrlässigkeit einer abgehobenen Tierschützerlobby.

      Wer hier konsequent weiterdenkt, erblickt im zugerichteten Berg eben jene dressierte Natur, die wir gemeinhin überhaupt erst als akzeptabel anerkennen. Zwar kommen die Murmeltiere noch nicht auf Befehl aus den Löchern, aber wir arbeiten daran. So wird der Berg erst im Moment seiner Verkrüppelung und Unkenntlichmachung zum Wander- und Sportparadies, und vielleicht liegt darin das Wesen der Paradiese überhaupt. Die Inszenierung tritt an die Stelle des Echten – und erst in der Inszenierung erfüllt sich das Glücksversprechen. So entzückend der Anblick echter Schneeflocken auch sein mag, wer zum Skifahren in die Berge fährt, erfreut sich an der perfekt präparierten Piste auch dann, wenn das Material dafür aus der Kanone kommt. An den Anblick weißer Bänder auf gelbbraunen Berghängen haben wir uns zunehmend gewöhnt. Und Hand aufs Herz: Echter Schnee ist gar nicht so toll. Er fällt unkontrolliert auch dahin, wo man ihn nicht haben will, er muss aufwendig geräumt werden, und am Ende gibt es eine Lawine. Dann doch lieber menschengemachter Schnee, der punktgenau dort eingesetzt wird, wo er Spaß macht. Blöd nur, dass es durch den Klimawandel immer wärmer wird. Doch mit ein paar technischen Innovationen bekommen wir auch dieses Problem noch in den Griff. Vielleicht gelingt uns sogar der Durchbruch zum schmelzsicheren Kunstschnee für das Skivergnügen im Hochsommer. Es wäre naiv zu glauben, dass derlei Angebote aufgrund ihrer Absurdität bei den Kunden nicht ankämen. Sobald etwas machbar ist, wird es gemacht. Und je länger es gemacht wird, desto mehr verliert es seine Ungeheuerlichkeit. Am Ende siegen Gewohnheit, Bequemlichkeit und Trägheit.

      So entsteht eine unaufgelöste und unauflösbare Diskrepanz zwischen unserer Mystifizierung des Berges einerseits und unserem Wunsch nach Zugänglichkeit, Kontrolle und Sicherheit andererseits. Wir möchten unsere Kinder an das Naturerlebnis heranführen – am liebsten auf buggytauglichen Wegen, die sich direkt von der Seilbahnstation sanft geschwungen zum Gipfel schlängeln. Und warum sollten Menschen mit Gehbehinderungen oder verminderter körperlicher Leistungsfähigkeit vom Genuss der Bergwelt ausgeschlossen werden? Hier meldet sich auch unser Sinn für soziale Gerechtigkeit – die Berge sind für alle da! Zugleich spüren wir, dass hier geschummelt wird. Ich schrieb es bereits: Gondeln gilt nicht. Dumpf drückt uns hier das Gewissen. Die Authentizitätssurrogate, die uns als Ersatz für das unwiederbringlich Zerstörte geboten werden, geben uns vielleicht ganz kurz einen Stich. Eigentlich, ahnen wir, müsste das doch anders laufen. Man müsste sich den Berg verdienen. Aber dann zerstreut unser Hedonismus sämtliche Bedenken. Wozu sind denn die Seilbahnen da, wenn nicht, um genutzt zu werden? Und wir schinden uns im Alltag doch schon genug. Da darf es in der Freizeit auch einmal gemütlicher zugehen. Und außerdem sind wir auf Urlaub. Da gelten sowieso andere Regeln.

      Doch dazu mehr im nächsten Kapitel.

      5

      In und aus der Welt

      oder: Sieh, das Ferne liegt so nah

      Der Berg vor der Haustür taugt nicht zum Urlaubstraum. Sehnsucht erzeugt nur das Ungreifbare. Die greifbare Welt um uns hingegen verschwimmt allzu leicht zu stumpfgrauem Alltag, dem wir auf allen Wegen des Geistes zu entfliehen trachten. Das gewohnte Umfeld unserer eigenen vier Wände, unseres Arbeitsplatzes, unserer täglichen Wege wäscht sich rasch zur trüben Kulisse des Gegebenen aus, in der wir uns halb blind bewegen, während unsere Phantasie in gleißenden Farben Sehnsuchtsorte imaginiert. Und noch nie wurde uns geistige Abwesenheit so leicht gemacht wie heute. Zu den bisherigen Angeboten zur Realitätsflucht in Form von Büchern, Zeitschriften, Film und Fernsehen gesellen sich die digitalen Medien, die uns auf unzähligen Kanälen Abwechslung, Spaß und aufregende Entdeckungen versprechen. Sie ermöglichen uns, auf Bürostühlen, Plüschsofas, hinter Schulbänken oder in Zugabteilen sitzend ganz woanders zu sein. Wir müssen nicht mehr warten, wir müssen Langeweile nicht mehr aushalten. Der Ausweg liegt wortwörtlich auf der Hand. Die dreidimensionale Realität unseres Körpers tritt hinter der zweidimensionalen des Displays zurück – denn diese hält den Schlüssel zu unserem Inneren. Emotional verpackte Inhalte, durch das Getöse der digitalen Echokammern verstärkt, peitschen uns auf, wir lassen uns im Strom der Timeline von einem Stimulus zum nächsten treiben und sind für Minuten oder sogar Stunden völlig aus der Welt. Und das ist gut so: Denn die analoge Welt rund um uns ist mühselig, trist, unerfreulich. Auch das gehört zu den mantrahaft wiederholten Glaubenssätzen der digitalen Community: Das Glück ist immer anderswo, vorzugsweise in der Natur, fern von den Menschen, am liebsten dort, wo grade die Sonne untergeht. Denn: Das Glück ist fotogen. Deswegen versprechen erhabene Aussichtspunkte, schneebedeckte Gipfel, bizarre Landschaften, uralte Bäume, kristallklare Seen, liebliche Meeresbuchten ein besonderes Glückserlebnis. Zur Not tun es auch menschengemachte Sehenswürdigkeiten, der Eiffelturm, der Schiefe Turm von Pisa, die Chinesische Mauer. Oder eine abenteuerliche Hängebrücke in Oberbayern. Wer diese Orte aufsucht, kann für Minuten die Trennung zwischen Körper und Geist überwinden und in wenigen magischen Augenblicken ganz in der Welt und also ganz bei sich sein. Kein Wunder, dass zahllose Reiseratgeber uns regelrechte Abhaklisten zur Verfügung stellen, auf denen wir die genauen Koordinaten für die seltene Unio mystica von Welt und Ich erfahren. Die ansprechenden Bilder werden zur Projektionsfläche unseres Traums von Selbstverwirklichung: Nur dort, wo die Sonne in lodernden Farben über der Serengeti aufsteigt, können wir endlich sein, was wir nie waren: wir selbst.

      Jetzt müssen wir nur noch hin. Aber das ist heute kein Problem mehr. Noch nie waren wir so mobil, noch nie war die Welt so klein. Wenn Rio de Janeiro ruft, ist nicht die Anreise das Problem, sondern die Auswahl des richtigen Bikinis. Selbst die entlegensten Winkel des Planeten sind innerhalb weniger Stunden, höchstens Tage, zu erreichen. Und die touristischen Hotspots gehören ohnehin zum Kurzurlaub-Repertoire des sich für kosmopolitisch haltenden Westeuropäers. Das Shopping-Wochenende in London, das Champagner-Frühstück in Paris, der Junggesellenabschied auf Malle, selbst ein dreitägiger Abstecher nach New York, um beim traditionellen Entzünden der Lichter auf dem Weihnachtsbaum des Rockefeller Centers dabei zu sein, all das fühlt sich fast so normal an wie ein Tagesausflug in die nähere Umgebung.

      Durch die Corona-Pandemie hat diese Realität freilich Risse erhalten. Vielen von uns wurde erstmals bewusst, wie außergewöhnlich unsere als grenzenlos wahrgenommene Reisefreiheit ist. Während wir wie selbstverständlich davon ausgehen, dass anderen die Ausreise (oder häufiger: die Flucht) aus ihren Herkunftsländern verwehrt bleibt (oder wenn schon nicht das, so zumindest die Einreise in unser Land), nehmen wir ebenso selbstverständlich für uns in Anspruch, nach Belieben unsere Reiseziele bestimmen zu können – und zu erschwinglichen Konditionen hintransportiert zu werden. Während ich diese Zeilen schreibe, ist die Welt eine andere geworden. Im April 2020 lebten 91 Prozent der Weltbevölkerung in Ländern mit geschlossenen oder zum Teil geschlossenen Grenzübergängen. Und auch am Beginn des Jahres 2021 gelten je nach Herkunftsland, je nach Reiseziel drastische Beschränkungen.

      Der Unmut ist groß. Wozu hat man denn überhaupt Urlaub, wenn man nicht wegfahren darf? Das kann doch wohl nicht wahr sein! Wenn wir nicht mehr verreisen dürfen, wohin es uns behagt, können wir das Versprechen nicht mehr einlösen, wenigstens in den Ferien wir selbst und damit endlich in der Welt zu sein.

      Denn so richtig in der Welt sind wir erst, wenn wir aus der Welt sind.

       Im Porträt

       Der Mensch ist ein Fußgänger

       Dominik Siegrist, Professor für naturnahen Tourismus an der „OST Ostschweizer Fachhochschule“

      Es gibt viele Routen von Wien nach Nizza. Eine davon, vielleicht die beschwerlichste, führt über die Alpen. Mehr als 1.800 Kilometer ist sie lang. Dominik Siegrist hat sie gleich zweimal bewältigt: zu Fuß. Mehr als 80.000