Selma Mahlknecht

Berg and Breakfast


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Menschen ist es zum ersten Mal diese existenzielle Grunderfahrung, dass nicht alles so bleibt, wie es war. Es sind nicht unbedingt die Einschränkungen durch den Staat, sondern es ist die Pandemie an und für sich, die Tatsache, dass dieses Virus existiert und uns alle bedroht. Diese Erfahrung verändert die Menschheit.“ Wohin das gehe? „Ich glaube nicht, dass dadurch nun auf einmal die große Weltverbesserung eintritt, mit der Klima und Umwelt gerettet werden. Aber die mit Covid-19 zusammenhängenden seelischen Erfahrungen bringen für uns alle schon weitreichende Folgen mit sich. Wir erkennen nun, dass wir trotz Spitzenmedizin und Hochtechnologie ziemlich verletzlich bleiben. Und dass sich unsere Gesellschaft und Wirtschaft verändern müssen, wenn sie solchen und ähnlichen Krisen künftig resilienter begegnen wollen. Da denke ich nicht nur an weitere Pandemien, sondern auch an die sich verschärfende Klimakrise.“

      Von schwammigen Marketingbegriffen und Alibi-Aktionen für einen falsch verstandenen „sanften Tourismus“ hält Siegrist freilich nichts. Eine wirklich nachhaltige Entwicklung müsse einlösen, was sie verspreche. Er verweist auf die von der UNO definierten siebzehn Ziele, den Sustainable Development Goals oder SDGs, die auch für den Tourismus gelten. Statt vom „sanften“ oder „nachhaltigen“ Tourismus spricht er daher lieber vom natur- und kulturnahen Tourismus, für den klare Definitionen vorlägen. Dabei gehe es um für den Tourismus so wichtige Bereiche wie Strategie und Positionierung, Angebotsentwicklung, Mobilität, Schutz von Natur und Landschaft, Kommunikation und Marketing sowie regionale Wertschöpfung.

      Der im Corona-Sommer 2020 boomende Outdoor-Tourismus habe bei vielen Gemeinde- und Tourismusverantwortlichen die Einsicht reifen lassen, dass ein funktionierendes Besuchermanagement unabdingbar sei. Das könne ein taugliches Werkzeug zur Entlastung von Naturgebieten und zur gleichzeitigen Verbesserung der Angebotsqualität sein: „Konkret geht es um gute Angebote, um Information und Lenkung der Besucher durch Wegweiser und bauliche Vorkehrungen, falls nötig bis hin zu Verboten.“ Als wirksames Mittel der Besucherlenkung erweise sich auch immer wieder die Schließung von Bergstraßen für den touristischen Durchgangsverkehr.

      Also doch lieber zu Fuß gehen? Für Dominik Siegrist, den Alpenwanderer, keine Frage. „Mir und ganz vielen Menschen macht zu Fuß gehen Spaß. Wandern ist eine ganz ursprüngliche Form der Bewegung. Die Menschen sind die längste Zeit in ihrer Geschichte zu Fuß gegangen. Und auch heute noch ist der Mensch ein Fußgänger.“

      Ganz so schnell werden wir allerdings noch nicht kollektiv zu Fuß in den Urlaub gehen. Der Wandel hin zur Nachhaltigkeit brauche Zeit, das ist Siegrist klar, auch wenn er gleichzeitig darauf hinweist, dass wir dafür eigentlich nicht mehr viel Zeit hätten. Und noch etwas sei entscheidend: „Wir Menschen kommen sowieso nur in eine wünschbare Zukunft, wenn jede und jeder von uns einsieht, dass es keinen Weg gibt, der an der nachhaltigen Entwicklung vorbeiführt. Wenn uns der Staat einfach vorschreibt, ihr müsst jetzt dies und das tun, wird das nicht funktionieren. Die Politik hat die Aufgabe, geeignete Rahmenbedingungen zu setzen, aber unser Bewusstsein müssen wir selber verändern.“

      Der partizipative Ansatz, den Siegrist verfolgt, ist mit mühsamen, oft langwierigen Prozessen verbunden. Und obwohl er am Konzept der kleinen Schritte festhält, räumt er auch ein, dass er mittlerweile wieder zur Überzeugung seiner Studentenjahre zurückgekehrt sei: „Nach drei Jahrzehnten solch minutiöser Arbeit bin ich wieder an dem Punkt – nicht zuletzt auch durch die Klimadiskussion angeregt – dass ich sagen muss, wir schaffen es nicht mit diesen kleinen Veränderungen. Wir müssen in absehbarer Zeit den Turnaround im Großen schaffen, sonst wird unsere Zukunft ganz, ganz schwierig.“

      Am Ende unseres Gesprächs frage ich ihn, was er verändern würde, wenn er einen Zauberstab hätte. „Dass unsere Welt, in diesem Fall vor allem der Tourismus, nicht mehr so stark vom Geld getrieben ist. Wenn uns dieser Systemwechsel gelingt, können ganz viele Dinge ganz von allein anders laufen. Dann darf der Boden nicht mehr spekulativ verwertet werden, es werden vielleicht Projekte realisiert, bei denen andere Werte als die Gewinnmaximierung im Vordergrund stehen. Dann gibt es nicht mehr den Druck nach immer mehr Wachstum im Tourismus und weniger Bedarf von Investoren nach Erschließung unberührter Berglandschaften. Der Mensch mit seinen ureigensten Bedürfnissen steht dann wieder mehr im Zentrum. Denn das Reisen ist für uns alle etwas Grundlegendes, einst, heute und in Zukunft. Aber nicht Marketing und finanzieller Gewinn dürfen der Maßstab sein, sondern die Reisenden selbst. Ich würde den Zauberstab in diese Richtung lenken.“

image image WILDER KAISER

       Nicht irdisch ist des Thoren Trank noch Speise.

       Ihn treibt die Gährung in die Ferne,

       Er ist sich seiner Tollheit halb bewußt;

       Vom Himmel fordert er die schönsten Sterne,

       Und von der Erde jede höchste Lust,

       Und alle Näh’ und alle Ferne

       Befriedigt nicht die tiefbewegte Brust.

       Goethe, Faust, Prolog im Himmel

      1

      Bei den Ägyptern hätte es das nicht gegeben

      oder: Reisen als moralischer Imperativ

      Für die Ägypter des Altertums gab es nur eine wichtige Reise, eine Reise, auf die das ganze Leben zulief: die Reise ins Jenseits. Auf diese galt es sich vorzubereiten, denn um auf dieser Reise zu bestehen, musste man ein sehr detailliertes Zeremoniell einhalten. Der Bestattungsritus auf heimatlichem Boden spielte hierbei eine zentrale Rolle. So gab es für die Ägypter dieser Zeit keine schlimmere Vorstellung als jene, fern der Heimat zu Tode zu kommen und nicht standesgemäß bestattet zu werden. Trotz des regen Handels, den sie mit Nubiern, Sumerern, Phöniziern und anderen Völkern trieben, waren die Ägypter also stets darauf bedacht, sich nicht zu weit von ihrer Heimat zu entfernen, um die wichtigste, größte Reise ihres Lebens nicht zu gefährden. War also ein Ägypter unterwegs, so geschah es sozusagen dienstlich. Neue Handelsrouten zu erschließen und neue Märkte zu erobern, wie man das heute ausdrücken würde, war wichtig und das damit verbundene Unterwegssein eine notwendige Begleiterscheinung. Das wahre Glück jedoch, das glaubten diese Menschen fest, lag in der Heimat, dem Schwarzen Land.

      Mit dieser Einstellung waren die Ägypter nicht allein. Vielen Kulturen galt das unstete Umherschweifen, das Vagabundieren und In-der-Welt-Herumkommen als Zeichen eines zweifelhaften Charakters. Gewiss, Herrscher hatten ihre Herrschaftssitze, zwischen denen sie sich bewegten wie auf einem Schachbrett, Scholaren ihre Klöster und später Universitäten, und Missionare nahmen weite Wege auf sich, um ihre Botschaft an die entlegensten Zipfel der Erde zu bringen. Immer aber war das Reisen Mittel zum Zweck und nicht selbst schon das Ziel. Irgendwohin zu fahren, um zu erleben, wie es ist, dort zu sein, das wäre den meisten Menschen vergangener Tage reichlich absurd erschienen.

      Die erste „Hybridform“, die schon Ansätze des modernen Tourismus zeigte, war wahrscheinlich die Pilgerreise. Auch hier reiste man noch nicht um des Reisens willen, aber doch schon aus spirituellen, nicht ökonomischen Gründen. Der Besuch eines entlegenen Heiligtums, das einen ganz besonderen, regional verwurzelten Segen verspricht, geht noch auf die Zeiten zurück, in denen man an lokale Gottheiten, etwa besondere Quellgeister, Orakel und dergleichen, glaubte. Meist waren (und sind) die Heiligtümer mit einer einzigartigen Naturerscheinung verbunden, etwa mit Bäumen, Gewässern oder – wie schon erwähnt – Bergen. Die Aura des Heiligtums und die darin gewärtigte Präsenz der lokalen Gottheit gelten als heilsam, reinigend, beglückend oder zumindest tröstend. Auch in der modernen Tourismusbranche ist die Pilgerfahrt von großer Bedeutung (manche Quellen sprechen sogar davon, dass über die Hälfte aller Reisen weltweit diesen Zweck verfolgen). Den Katholiken fällt vielleicht die Wallfahrt nach Rom oder Lourdes ein, im Islam gibt es das Gebot der Pilgerreise nach Mekka (der Hadsch),