dass selbst in der hedonistischsten Vergnügungsreise noch ein Körnchen Wallfahrt steckt. Unsere Sehnsucht nach Heilung, Reinigung, Beglückung oder Trost besteht nach wie vor. Und geschäftstüchtige Unternehmer haben diese Sehnsucht schon immer zu ihrem Vorteil auszubeuten gewusst. Tatsächlich ist der Weg zum Seelenheil zuweilen ein recht teurer Spaß – den exklusiven Zugang zur schamanischen Schwitzhütte im Wald muss man sich erst einmal leisten können.
Wer heute an das Reisen denkt, assoziiert es aber meist nicht zuerst mit dem Heiligen, sondern mit Bildung. Das ist insofern bemerkenswert, als Bildung ein kontroverser Begriff ist, der immer wieder andere Interpretationen erfährt und oft nur als Mittel zum Zweck gilt. In diesem Fall müsste man an fahrende Gesellen denken, wie es sie heute nur noch selten gibt, doch der wandernde Müllersbursche oder das tapfere Schneiderlein aus dem Märchen waren keine Reisenden im heutigen Sinne, sondern eher migrantische Fachkräfte. Das ist also nicht gemeint, wenn man landläufig feststellt, dass Reisen bildet. Geht es also darum, dass man sich besser merken kann, dass Berlin an der Spree liegt, wenn man in Berlin eine Spreefahrt unternommen hat? Auch nicht zwingend. Viele wollen mit diesem reichlich diffusen Satz einfach nur ausdrücken, dass es uns guttut, die oft allzu ausgetretenen Pfade eines vorgeformten Denkens und Lebens zu verlassen und zu sehen, dass es anderswo anders zugeht – und daher auch für uns ein anderes Leben möglich wäre. Das mit eigenen Augen zu sehen, ist gewiss erhellend. Trotzdem irrt, wer glaubt, nur durch Reisen allein zu einem besseren, dem Daheimgebliebenen gar in irgendeiner Form überlegenen Menschen werden zu können. Durch die oberflächliche Begegnung mit anderen Kulturen, Lebens- und Denkmodellen, geographischen und politischen Realitäten allein ist noch nicht viel getan. Erst durch eine echte Auseinandersetzung, ein vertiefendes Durchdringen und Verarbeiten des Erlebten können neue Einsichten entstehen. Ansonsten war man einfach nur in Thailand (und wie viele waren einfach nur in Thailand!). Ich bin mir daher nicht sicher, ob es für die Entwicklung von Geist und Persönlichkeit wirklich nötig ist, durch die Welt zu reisen. Ich schrieb es bereits: Zur Erleuchtung gelangt man im Zweifelsfall auch einen Steinwurf von zu Hause entfernt unter einem Baum am Fluss.
Trotzdem ist unbestritten, dass der moderne Tourismus eine kulturelle Errungenschaft ist, die auch einem aufklärerischen Gedanken von Freiheit und Gleichheit entspringt. Von den Kavalierstouren adeliger Sprösslinge im 17. Jahrhundert bis zum Strandurlaub an der Adria war es allerdings ein weiter Weg. Es bedurfte vieler kleiner Schritte, bis das Reisen „an und für sich“ nicht mehr das Vorrecht einer wohlhabenden Elite war, sondern nach und nach zumindest in weiten Teilen Europas so gut wie alle Schichten der Gesellschaft erreichte und zum Massenphänomen wurde. Der Urlaub sollte gerade den Arbeitern zur Entspannung und Wiederherstellung ihrer „Nervenkraft“ dienen, damit sie danach wieder umso tüchtiger malochen konnten, so jedenfalls ein Leitgedanke der nationalsozialistischen Gemeinschaft „Kraft durch Freude“, die in den Dreißigerjahren als Pendant der faschistischen Opera Nazionale Dopolavoro entstanden war und unter anderem Ausflüge und Wanderungen organisierte. Adolf Hitler wird in diesem Zusammenhang mit einer noch hintersinnigeren Formulierung zitiert. Der Arbeiter solle sich in Freizeit und Urlaub ausreichend erholen können, denn: „Nur allein mit einem Volk, das seine Nerven behält, kann man wahrhaft große Politik machen.“
Dass die Bevölkerung nicht nur Deutschlands, sondern der ganzen Welt nach der „wahrhaft großen Politik“ erst recht Erholung nötig hatte, steht auf einem anderen Blatt.
Heute haben wir das Prinzip des „Urlaubs für alle“ verinnerlicht. Die kleine Auszeit am Wochenende, die Erholungsreise in die Berge oder ans Meer sind keine Privilegien mehr, sondern gehören wie Fernseher, Waschmaschine oder Kühlschrank zur Grundausstattung – nur die Ausführung variiert. Mit eben diesem scheinbar „gerechten“ und „gleichmachenden“ gesellschaftlichen Anspruch nicht nur auf Urlaub, sondern auf Urlaubsreisen werden denn auch Schnäppchenangebote wie die viel kritisierten Billigflüge oder Pauschalreisen verteidigt. Nur durch sie, wird argumentiert, hätten auch die kleinen Leute eine Chance auf den ihnen zustehenden Ferienspaß auf Mallorca oder das Shoppingerlebnis in London. Der günstige Preis stoße die Tür zur Welt auch jenen auf, die ansonsten nur ein bescheidenes Leben führen könnten. Das mache ihn zum großen Ermöglicher von Partizipation – und damit zum unabdingbaren Kernelement einer „Demokratisierung“ des Reisens. Die Erzählung, dass wir nur durch Discountangebote, die ein unablässiges Kaufen und Konsumieren bis in die bedrängtesten Lebensverhältnisse hinein sicherstellen, unser System und den sozialen Frieden aufrechterhalten, gehört zu den – zunehmend bröckelnden – Mythen des Kapitalismus. Mehr und mehr wächst unser Bewusstsein dafür, dass sagenhaft günstige Preise nicht die realen Kosten eines Produktes oder Angebots abbilden. Diese werden von anderen getragen – häufig von ausgebeuteten Erntehelfern und Arbeiterinnen am anderen Ende der Welt. Oder von der Umwelt. Die Rechnung dafür bekommen wir derzeit häppchenweise serviert.
Zudem darf man nicht aus den Augen verlieren, dass auch der Massentourismus unserer Zeit noch weit davon entfernt ist, ein wahrhaft universelles Phänomen zu sein, ganz im Gegenteil, hier zeigt sich die wachsende globale und soziale Ungleichheit besonders deutlich. Tourismus ist nicht demokratisch. Und es gibt kein Menschenrecht auf Reisen.
Die Lust darauf ist allerdings weiterhin groß und wird weltweit immer größer. Die Tourismusindustrie wächst nach wie vor rasant, und eine Rückkehr zur Reiseskepsis vergangener Tage ist nicht absehbar – ganz im Gegenteil. Der durch die Corona-Pandemie forcierte Stillstand nährt erst recht den Wunsch nach Kompensation und weiter Welt.
Dabei gibt es vieles, das gegen das Reisen spräche. Zu den persönlichen gesundheitlichen und sonstigen Risiken (verdorbene Lebensmittel, exotische Krankheiten, wilde Tiere, Raub, Entführungen), den physischen und psychischen Strapazen und finanziellen Belastungen kommt in der heutigen Zeit mehr und mehr auch der Preis für die Umwelt ins Spiel. Der Tourist ist, ob er es will oder nicht, ein Turbo-Konsument. Bereits seine Anreise ist ressourcenintensiv, dazu kommen sein Aufenthalt im Hotelzimmer oder Apartment, seine Restaurantbesuche, seine Nutzung öffentlicher und privater Anlagen und Einrichtungen – die Liste ist endlos und lässt sich nicht kleinreden. Im Urlaub die Umwelt zu schonen, geht im Grunde nur, wenn man zu Fuß losgeht. Dass man dabei nicht weit kommt, könnte durchaus als Vorteil betrachtet werden – statt an fernen Orten den Einheimischen die schönsten Plätzchen streitig zu machen, begnügt man sich mit dem Guten, das so nah liegt. Vernünftiger und nachhaltiger wäre es jedenfalls. Den alten Ägyptern hätte das sofort eingeleuchtet. Für uns aber ist es komplizierter.
Erstens weil, wie wir als von den sozialen Medien Gestählte wissen, Vernunft kein Argument ist. Nie.
Zweitens weil Reisen heute nicht nur ein Wert an sich ist, sondern der Wert an sich. Und das durchaus in einem moralischen Sinne: Wer reist, ist gut. Wer nicht reist, ist irgendwie verdächtig. Unsere Weltanschauung hat also seit den alten Ägyptern eine Hundertachtzig-Grad-Wende erfahren (wenn auch nicht ganz – aber dazu komme ich noch).
Wenn uns ein junger Mensch nach seiner Ausbildung, der Matura oder einer Enttäuschung erzählt, er wolle jetzt einfach mal eine Auszeit nehmen, um zu reisen, finden wir das prinzipiell toll. Raus in die Welt, mal was anderes sehen, seinen Horizont erweitern, Fremdsprachen lernen – super. Und auch für Erwachsene gilt der Traum von der Weltreise, dem großen Auf- und Ausbruch, etwa nicht als pubertär, unreif oder gefährlich, sondern als erstrebenswert, romantisch, mutig. Wenn wir uns vor Augen halten, dass die Dinge ja nie so sind, wie sie sind, sondern so, wie wir uns davon erzählen, dann ist dieser Wandel in der allgemeinen Wahrnehmung doch erstaunlich. In unserer Zeit ist das Reisen kein halsbrecherisches Wagnis mehr, das man raubeinigen Abenteurern überlässt. Es ist zum moralischen Imperativ geworden, dem sich kaum jemand entziehen kann. Wer das Privileg hat, reisen zu dürfen, hat zugleich auch die Pflicht, reisen zu wollen. Nur wer die Welt gesehen hat, darf mitreden. Reisen wird zuweilen sogar zum Ersatz für die großen verbindenden Erzählungen, die uns gesellschaftlich einen. Heute kann man nicht mehr davon ausgehen, dass die griechischen Mythen oder die Geschichten der Bibel Allgemeingut sind. Aber jeder weiß, was ein Urlaub am Meer ist, und wenn er noch nicht selbst in Venedig war, so kennt er zumindest dessen Mythos. Die Nähe zur religiösen Reise ist hier unübersehbar.
Reisen dient also zu einem guten Teil auch dem Abhaken mystifizierter Orte des kollektiven Bewusstseins. London, Paris, New York werden zu unseren gemeinsamen Referenzrahmen,