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in jedem Menschen zu sehen.

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       Eine evolutionäre Vision der Zukunft mit »harter« Wissenschaft in Einklang bringen

       von David Sloan Wilson und Kurt Johnson

      Im Frühjahr 2019 lud das Mind and Life Institute einen der beiden Autoren dieses Kapitels – David Sloan Wilson – zu einem persönlichen Gespräch mit Seiner Heiligkeit, dem Dalai-Lama, in dessen Residenz nach Dharamsala/Indien ein.1 Davids Forschungsarbeiten haben zu einem maßgeblichen Wandel in der Evolutionsbiologie beigetragen, in der durch eine Verfeinerung des wissenschaftlichen Verständnisses der natürlichen Selektion (namentlich Gruppen- und Multilevel-Selektion) der Ort und die Rolle von Kooperation und Altruismus innerhalb der Evolution inzwischen klar nachvollzogen werden kann.2

      David durfte einen Gastredner mitbringen und lud umgehend den zweiten Autor dieses Beitrags – Kurt Johnson – ein, der David wiederum mit den Evolutionary Leaders bekannt gemacht hat. Wir haben beide im Fachbereich Evolutionsbiologie promoviert und sind ausgebildete Wissenschaftler der sogenannten harten bzw. exakten Wissenschaften. Zudem teilen wir ein großes Interesse für die bewusste Evolution, die von vielen unserer Kolleg*innen aus der Evolutionsbiologie als wissenschaftliches »Randgebiet« betrachtet wird.3

      David erzählte Seiner Heiligkeit, als er in den 1970er-Jahren in das Fachgebiet der Evolutionsbiologie eintrat, sei dieses gänzlich auf die Erforschung der genetischen Evolution beschränkt gewesen; die Erforschung kultureller und persönlicher Evolution habe man anderen Disziplinen überlassen. Alle Gene wurden als »egoistisch« abgestempelt, und die Herausbildung altruistischer Verhaltensweisen wurde als etwas zutiefst Unwahrscheinliches betrachtet. Evolution galt als etwas Zweckfreies, aus sich zufällig ereignenden Mutationen Entstehendes, und die Folgen der natürlichen Selektion waren darauf beschränkt, wie sich Organismen an ihre unmittelbare Umgebung anpassten.

      Unterm Strich habe diese westliche Sichtweise der Evolution kaum etwas gemeinsam mit dem Buddhismus, der Glaubenstradition Seiner Heiligkeit, und dessen Aufgabe des Selbst mit dem Ziel, alles Leiden zu überwinden! Doch, so fuhr David fort, man habe die sogenannte harte Evolutionswissenschaft erweitert, um zusätzlich zu genetischen auch epigenetische, persönliche und kulturelle Veränderungen zu erfassen. Außer den egoistischen könne die Wissenschaft nun auch die Herausbildung altruistischer Verhaltensweisen erklären. Und es sei längst kein Irrglaube mehr, wenn man behauptet, dass Evolution über eine gerichtete Komponente verfügt – insbesondere im Fall der kulturellen Evolution des Menschen. Diese Entwicklungen im evolutionären Denken seien transformierend für unsere Forschungen im Hinblick auf einen gemeinsamen Nenner mit der 2500 Jahre alten Tradition des Buddhismus ebenso wie mit allen anderen religiösen und spirituellen Traditionen der Welt.

      Davids Botschaft an Seine Heiligkeit ist ebenfalls relevant für jene Gruppe von Menschen, die sich die Evolutionary Leaders nennen, deren Vision von der Evolution weit über die genetische hinausgeht und persönliche, kulturelle, ja sogar kosmische Evolution mit einschließt. Für sie besitzt Evolution eine bewusste Dimension und bewegt sich sogar in Richtung eines globalen Bewusstseins, das der französische Paläontologe und Jesuit, Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955), als Omegapunkt bezeichnete.4 Ihre Vorstellung von Ökologie tendiert zu einer holistischen Sichtweise und behandelt die ganze Erde als einen singulären Organismus, der es verdient, verehrt zu werden – in Gestalt der metaphorischen Göttin Gaia.

      In mancherlei Hinsicht zieht die »harte« Evolutionswissenschaft mit den Vorstellungen der Evolutionary Leaders gleich. Und sie kann noch mehr: Die Evolution kann zu einem bewussten Prozess und die gesamte Erde zu etwas wie einem einzigen Organismus werden, aber die besonderen Bedingungen dafür werden sich nicht selbst organisieren. Bestimmte Voraussetzungen sind erforderlich, und diese müssen von der Gesellschaft geschaffen werden. Wenn dies geschieht, wird die kulturelle Evolution zu einem vollständig bewussten Prozess geworden sein. In der Zwischenzeit hier ein paar Ideen, wie die »harte« Evolutionswissenschaft die Vision der Evolutionary Leaders bestärken und zu dieser beitragen kann.

       Jenseits der genetischen Evolution

      Charles Darwin hatte keine Ahnung von Genen. Er definierte natürliche Selektion im Hinblick auf Variation, Selektion und Reproduktion/Vererbung – bzw. der Tendenz von Nachkommen, äußerliche Ähnlichkeit mit ihren Eltern aufzuweisen. Darwin war zudem der Überzeugung, dass seine Theorie nicht bloß die Natur, sondern die gesamte Menschheit in ihrer Variationsbreite erklären könne.

      Mit dem Aufkommen der Genetik im frühen 20. Jahrhundert wurde das Studium der Evolution jedoch rasch auf die genetische Evolution begrenzt; als wäre die einzige Möglichkeit, warum Nachkommen ihren Eltern ähneln, dass sie Gene mit ihnen teilten. Disziplinen wie die Anthropologie, die Soziologie, die Geschichtswissenschaft und die Psychologie erforschten kulturelle und persönliche Veränderung größtenteils abgetrennt von der Evolutionslehre – und manchmal in gefühltem Widerspruch dazu. Außerdem entwickelten sich die wissenschaftlichen Disziplinen weitgehend isoliert voneinander, was zu einem »Archipel des Wissens« führte – zahlreiche Inseln des Denkens, die untereinander kaum kommunizierten.

      In jüngerer Zeit kehren Evolutionsbiologen zu den Grundlagen zurück und definieren Evolution als jeglichen Prozess, der die drei Bestandteile Variation, Selektion und Reproduktion miteinander kombiniert. Zusätzlich zur genetischen Reproduktion beinhalten andere Reproduktionsmechanismen aber auch die Epigenetik (Veränderungen in der Genexpression statt in der Genhäufigkeit), Formen sozialen Lernens, die bei zahlreichen Arten gefunden wurden, sowie Formen speziell menschlichen symbolischen Denkens.5 Evolutionsprozesse spielen sich jedoch nicht nur von einer Generation zur nächsten Generation ab, sondern ereignen sich auch während der Lebenszeit eines einzelnen Organismus: Dazu gehörten etwa die individuelle erworbene Immunabwehr oder die durch B. F. Skinner populär gewordene Art des Lernens mittels »Versuch und Irrtum« (trial-and-error learning) oder die rasche Evolution symbolischer Bedeutungssysteme. Kurzum, eine Theorie, die sich auf dem Gebiet der Biologie bewährt hat, kann nun ausgeweitet werden, um all die rasanten Veränderungen, die sich sowohl in unserem äußeren Umfeld (kulturelle Evolution) als auch unserem Inneren abspielen (persönliche Evolution), zu erfassen.

      Diese sogenannte Erweiterte Synthese der Evolutionstheorie 6 ersetzt nicht aktuelles disziplinäres Wissen, sondern verspricht es zu integrieren, so wie sie alle Fachgebiete der Biologie im Laufe des 20. Jahrhunderts integriert hat.

       Evolution ist gleichzeitig das Problem und die Lösung

      Evolution macht nicht alles gut und schön. Sie resultiert häufig in Adaptationen, die bestimmte Lebewesen oder Gruppen auf Kosten anderer oder kurzfristiges auf Kosten von längerfristigem Wohlergehen begünstigen. Dies gilt für die menschliche kulturelle und persönliche Evolution in gleichem Maße wie für die genetische Evolution. Tatsächlich sind die meisten sozialen Pathologien (das, woran unsere Gesellschaften »kranken«) in Wirklichkeit »adaptiv« im evolutionären Sinne des Wortes. Selbsterhaltung ist eine gute Sache – solange sie nicht zu Selbstbereicherung führt. Verwandten zu helfen ist positiv – solange keine Vetternwirtschaft daraus wird. Freunde zu unterstützen ist fein – solange das Ganze nicht in Klüngelei ausartet. Und das Wirtschaftswachstum von Staaten ist ebenfalls gut – solange daraus kein globales Wettrennen entsteht, das eine nicht nachhaltige Ausbeutung von Ressourcen und damit eine zunehmende Erderwärmung zur Folge hat.

      Andere Pathologien – auf individueller wie auf gesellschaftlicher Ebene – sind das »maladaptive« Ergebnis evolutionärer Fehlanpassungen.7 Zu einer evolutionären Fehlanpassung kommt es, wenn Adaptationen an frühere Umgebungen im aktuellen Umfeld fehlschlagen. So hat die genetische Evolution seit Äonen junge Meeresschildkröten daran angepasst, nach dem nächtlichen Schlüpfen am