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Kritisches Denken


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in dem der Begriff ‚postfaktisch‘ zum Wort des Jahres gekürt wurde. Da stellte sich die Frage, ob und was wir Geisteswissenschaftler*innen dieser anti-aufklärerischen Haltung entgegenzusetzen haben.

      Denn, wie Bernhard Pörksen vor einiger Zeit in der ZEIT treffend feststellt, reicht es heute nicht mehr aus, „aufzuklären, indem man Wissen bereitstellt. Notwendig geworden ist eine Aufklärung zweiter Ordnung, die neben der Vermittlung von Inhalten systematisch auch über die Prozesse ihres Zustandekommens informiert (…).“10

      Den spannenden Auftakt für den Sammelband macht BIRGIT RECKI (Philosophie) mit einer grundlegenden Klärung des Methodenbegriffs ‚Kritik‘. An die in der Frankfurter Schule und deren Kritischer Theorie angeprangerte Lebensform der Unmündigkeit knüpft Recki an, um uns mit Kants einflussreichen Gedanken zur Methode der Kritik vertraut zu machen: Als Philosoph der Aufklärung ermutigt Kant den mit Vernunft ausgestatteten Menschen, seinen eigenen Verstand zur Erkenntnisgewinnung zu nutzen und sein Urteilsvermögen nicht von außen, also etwa von gesellschaftlichen Verhältnissen, abhängig zu machen, um sich so aus (selbstverschuldeter) Unmündigkeit mit eigener Kraft eigenverantwortlich zu befreien. Jedoch: diese aufklärerische Kritikvorstellung unterliegt in der heutigen Zeit mit suggestiver und manipulierender Informationspolitik weitaus herausfordernden Bedingungen als noch zu Kants Zeiten.

      KEVIN DREWS, SANDRA LUDWIG, ANDREA RENKER, FRIEDERIKE SCHÜTT und ANN-KATHRIN HUBRICH (Doktorandenkolleg Geisteswissenschaften) bieten in fünf Facetten Reflexionen dazu, was Fragen als methodische Vollzugsformen von kritischem Denken in den Geisteswissenschaften leisten. Kevin DREWS charakterisiert das Infragestellen als elementares Werkzeug, um festgefahrene Vorstellungen zu lockern und neue Perspektiven zu ermöglichen. Sandra LUDWIG rückt den rechten Zeitpunkt des Fragens in den Fokus und betont die Relevanz der günstigen Gelegenheit als kritischen Faktor des Fragens, aber auch des Antwortens. Andrea RENKER hebt die Uneindeutigkeit geisteswissenschaftlicher Untersuchungs- und Befrageobjekte hervor und betont die Notwendigkeit in den Geisteswissenschaften, polyvalente Antworten auf die deutende Befragung eines Werks geben zu können und nicht auf letztgültige Antworten abzuzielen. Friederike SCHÜTT konzentriert sich auf die Relevanz, noch offen gebliebene Fragen zu entdecken und Fragelücken zu schließen. Ann-Kathrin HUBRICH schließlich beleuchtet die kritische Bildbetrachtung und unterstreicht die Wichtigkeit, die politische Bedeutung von Bildern in den Medien zu hinterfragen.

      An einem sprachkritischen Beispiel aus der Jugendsprache exemplifiziert KRISTIN BÜHRIG (Linguistik des Deutschen mit dem Schwerpunkt „Deutsch als Zweit- und Fremdsprache“) wie schwierig und erklärungsbedürftig hinweisende, deiktische Partikel im Deutschen für eine Anwenderschaft zu handhaben sind, die solche Partikel in ihrer Muttersprache nicht kennt. Da diese Partikel auf Sachverhalte verweisen, gestalten sie ganz besonders den Prozess des Wissensaufbaus und der Wissensverarbeitung. Sprachkritik als Reflexion über Sprache und Sprachgebrauch sei − so argumentiert sie − ein dominanter Faktor für den Bildungserfolg und müsse daher fundiert an Hochschulen eingeübt werden. Nur so können zukünftige Lehrer*innen die sprachliche Entfaltung und damit auch die Wissensentfaltung von Schüler*innen mit geringer Zweitsprachenkompetenz bzw. mit Migrationshintergrund bestmöglich unterstützen.

      UTE BERNS und PAUL HAMANN-ROSE (Anglistische Literaturwissenschaft) machen uns die methodischen Schritte des wissenschaftlich-kritischen Lesens deutlich, das sich nicht (nur) dem genussvollen Lesen hingibt, sondern geschult Mehrdeutigkeiten, Indizien für Tabuisiertes und opak transportierte Hinweise auf gesellschaftliche Verhältnisse aufdeckt. Ein so geschultes Lesen ermöglicht gesellschaftskritische Perspektiven auf die Welt und eröffnet Vorstellungsräume, die zum Mit- und Weiterdenken einladen und den Blick auf die Welt erweitern.

      INKE GUNIA (Romanische Literaturwissenschaft) unternimmt an einer Druckschrift des argentinischen Erziehungsministeriums aus der Zeit der Militärdiktatur eine kritische Schriftprüfung, um konkrete Repressionen in der damaligen Bildungspolitik sichtbar zu machen. Sie untersucht die Druckschrift textkritisch und gelangt so zu einem vertieften Verständnis dieses Textes, den sie uns als ein komplexes Superzeichen mit kontextueller Einbettung und einem intendierten Leser zugänglich macht.

      MARTIN JÖRG SCHÄFER (Germanistische Literaturwissenschaft) hebt am Beispiel der Kunstform ‚Performance‘ unter Beteiligung von Zuschauern auf die Funktion von Theater als einer ‚als-ob‘-Darstellung und damit Kritikmöglichkeit unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens ab. Der wissenschaftliche Blick auf (theatrale) Darstellungs- und Erlebnisweisen unseres Zusammenlebens macht nachvollziehbar, wie Theater die Grenzen und Möglichkeiten der jeweils individuellen Wahrnehmung schöpferisch aushandelt.

      JOAN BLEICHER (Medien-und Kommunikationswissenschaften) untersucht fernsehkritisch medieninterne Fernsehkritik. In einem fernsehgeschichtlichen Senderrückblick stellt sie Sendeformate aus den Bereichen Information und Unterhaltung vor, die mit einer kritischen Von-Innen-Betrachtung vermitteln, wie Fernsehen durch Recycling und Sampling von Sendungen seine Position als Leitmedium an das Internet zu verlieren droht. Insbesondere in kabarettistischen Formaten erhält die ironische Selbstkritik einen neuen Unterhaltungswert, die fortlaufende Sendungsbeobachtung und so entstehendes Wiedererkennungswissen des Publikums voraussetzen.

      JOAN BLEICHER (Medien- und Kommunikationswissenschaften) stellt ‚Filmkritik‘ als Mittel, sich mit Kunst auseinanderzusetzen und sich Kunst anzueignen, in das Spannungsfeld zwischen Kultur, Journalismus und Wissenschaft. Sie hebt autodidaktisch betriebene Filmkritik mit subjektiven und durchaus unterhaltenden Geschmacksurteilen von einer wissenschaftlich basierten Filmbewertung ab, die zu ihrem Untersuchungsobjekt analytische Distanz hält, das Sehverhalten schulend zwischen Kunst und Trivialität unterscheidet und versucht, gesellschaftliche Schlüsselprobleme zu dechiffrieren. Ihre Wirkung ist bildungsbezogen und selbstaufklärerisch.

      FRANK NIKULKA (Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie) macht deutlich, dass die Archäologie, die sich mit den materiellen Hinterlassenschaften aus der Menschengeschichte befasst, nicht zu unumstößlichen Wahrheiten in Bezug auf die Vor- und Frühgeschichte gelangen kann und somit auf Rekonstruktionen und korrigierbare Hypothesenbildung angewiesen ist, die fortlaufend einer kritischen Prüfung unterzogen werden muss. Durch neue Funde werden zunächst gesicherte Ergebnisse wieder in Frage gestellt, machen alternative Deutungsansätze möglich und nähern sich der ‚Wahrheit‘ nur an. Mit dieser kritischen Grundhaltung übernimmt Wissenschaft hohe gesellschaftliche Verantwortung.

      CHRISTOPH DARTMANN (Mittelalterliche Geschichte) lädt uns zu einer kritischen Wahrnehmung des Mittelalters ein. Er hinterfragt populäre Klischees und vereinfachende Geschichtsbilder, die in Filmen und Fantasyromanen vermittelt werden, und stellt sie Ergebnissen fundierter wissenschaftlicher Mittelalterforschung entgegen. Damit zeigt er auf, welche Gefahren in der unkritischen Übernahme falscher Geschichtsbilder liegen, und unterstreicht das aufklärerische, kritische Potenzial der Geschichtswissenschaft.

      SONJA KELLER (Evangelische Theologie) zeigt auf, wie sich die theologische Wissenschaft kritisch (i. e. wissenschaftlich) mit dem menschlichen Phänomen ‚Glauben‘ auseinandersetzt, mit dem sie nicht zu verwechseln ist. Die Theo-logie als ‚Rede von Gott‘ untersucht u.a. Bibeltexte als historische Dokumente mit philologischen Methoden der Schriftauslegung. Mit ihrer wissenschaftlichen Durchdringung der Grundlagen, der Inhalte und des Vollzugs von christlichem Glauben schafft die Theologie eine wichtige Voraussetzung für den Dialog in unserer multiethnischen und religionspluralen Gesellschaft.

      CLAUDIA SCHINDLER (Klassische Philologie) hebt in ihrem Beitrag auf die Schulung kritischen Denkens durch kritisches Lesen von antiken Texten ab, die durch eine 2000-jährige intensive Rezeption Bestandteil unseres kulturellen Gedächtnisses geworden sind. In der Beschäftigung mit den zeitlich distanten „Klassikern“ können Vorstellungen der antiken Welt und deren mediale Vermittlung durch Literatur untersucht und mit heutigen Annahmen und deren Diskursen verglichen werden. Am Beispiel von Nachhaltigkeitsvorstellungen und -diskursen in zentralen Werken der antiken Literatur macht Schindler deutlich, dass eine kritische