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Kritisches Denken


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wir Kant als den großen Kritiker der Vernunft ansprechen. In beiden Aspekten macht Kant Dimensionen der menschlichen Freiheit geltend. Es ist bereits ein Gebrauch meiner Freiheit, wenn ich mich selbstständig ohne Bevormundung durch einen Anderen meines Verstandes bediene, es ist ein anderer, nämlich praktischer Gebrauch meiner Freiheit, wenn ich so handle, wie ich es als richtig eingesehen habe.

      Im Anschluss daran und mit Rekurs auf einen häufig beanstandeten Punkt lässt sich die Rolle der Kritik in Kants Verständnis von Aufklärung abschließend konkreter fassen: Was hat es zu bedeuten, dass Kant in seiner Aufklärungsschrift von 1784 von selbstverschuldeter Unmündigkeit spricht? Sollte die Quintessenz des kritischen Bewusstseins darin bestehen, dass der Kritiker den Menschen für die Verhältnisse der Unterdrückung und der Knechtschaft, in denen sie unmündig sind, weil sie bevormundet werden, auch noch selbst die Schuld gibt und auf diese Weise die Unterdrücker: die Herren – wie man mit Blick auf feudale Herrschaftsverhältnisse ruhig sagen darf – vom Vorwurf entlastet? Dieser Verdacht trifft nicht Kants Position und Pointe.

      Ich gestehe, daß ich mich in den Ausdruck, dessen sich auch wohl kluge Männer bedienen, nicht wohl finden kann: Ein gewisses Volk (was in der Bearbeitung einer gesetzlichen Freiheit begriffen ist) ist zur Freiheit nicht reif; die Leibeigenen eines Gutseigenthümers sind zur Freiheit noch nicht reif; und so auch: die Menschen überhaupt sind zur Glaubensfreiheit noch nicht reif. Nach einer solchen Voraussetzung aber wird die Freiheit nie eintreten; denn man kann zu dieser nicht reifen, wenn man nicht zuvor in Freiheit gesetzt worden ist (man muß frei sein, um sich seiner Kräfte in der Freiheit zweckmäßig bedienen zu können). Die ersten Versuche werden freilich roh, gemeiniglich auch mit einem beschwerlicheren und gefährlicheren Zustande verbunden sein, als da man noch unter den Befehlen, aber auch der Vorsorge anderer stand; allein man reift für die Vernunft nie anders, als durch eigene Versuche (welche machen zu dürfen, man frei sein muß).9

      Man sieht an dieser Argumentation: Kant denkt nicht daran, es den Herrschenden bequem zu machen, indem er sie von ihrem Anteil an Herrschaftsverhältnissen entlastet. Mit der Rede von der selbstverschuldeten Unmündigkeit ist keine Verharmlosung von manipulativen, autoritären oder sogar totalitären Verhältnissen zu sehen. Man muss die Pointe der Rede von selbstverschuldeter Unmündigkeit in etwas anderem sehen: in dem provokativen rhetorischen Hinweis, dass zu jedem Herrschaftsverhältnis zwei gehören – einer, der die Herrschaft ausübt und einer, der sie sich gefallen lässt. Gerade der mit den Begriffen von Aufklärung und Mündigkeit gestellte Anspruch auf die eigene Zuständigkeit, auf Freiheit ist nicht zu realisieren ohne die vorgängige Bereitschaft zur Verantwortung für die eigenen Angelegenheiten. Insofern ist mit der Rede von der selbstverschuldeten Unmündigkeit die Ausflucht verstellt, den Anderen oder den Verhältnissen pauschal die Verantwortung für die eigenen Lebensverhältnisse zuzuschieben; in dem Prädikat „selbstverschuldet“ hat man den indirekten, aber heftigen Appell zu sehen, sich nach Kräften – und dabei immer aus eigener Kraft – aus der Unmündigkeit herauszuarbeiten.

      Schluss: Die Aktualität von Kritik und Aufklärung

      Wie fällt heute unsere Antwort auf die Frage aus, die Kant in seinem Aufsatz von 1784 mit illusionsloser Zuversicht so differenziert beantwortet hat? Auch wir, selbst als Bürger einer globalisierten Welt, einer jahrzehntelangen Erfolgsgeschichte der Demokratisierung und der Einhegung des Krieges, einer weltweiten Ausdehnung des öffentlichen Kommunikationsnetzes auf der Basis einer technologischen Entwicklung, die zugleich die schlimmsten Formen harter Arbeit und epidemischer Krankheiten abzuschaffen geholfen hat, können die Frage, ob wir in einem aufgeklärten Zeitalter leben, nur verneinen. Denn unter den Bedingungen polarisierter wirtschaftlicher und politischer Machtinteressen und asymmetrischer Verteilung von Ressourcen aller Art müssen wir uns selbst in einer Entwicklungsdynamik, die man unter Kantischer Optik in der Orientierung an den Ideen von Freiheit und Frieden1 als Fortschritt ansprechen würde, offenbar jederzeit auf Rückschläge gefasst machen. Dabei ist es gar nicht einmal sicher, ob wir uns angesichts der gegenwärtigen weltpolitischen Problemlage immerhin zutrauen dürfen, auch den zweiten Teil der Antwort noch wie Kant zu formulieren: Nein – aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung. Ob wir weiterhin wenigstens in einem Zeitalter der Aufklärung leben, dürfte zu einem entscheidenden Teil davon abhängen, ob wir es uns zutrauen, an der Idee der Kritik – und an der Kraft zu ihrer praktischen Umsetzung festzuhalten.

      Selbstverständlich ist das nicht. Das Interesse an Aufklärung hat sich zeitgenössisch in einem Spannungsverhältnis der Extreme zu bewegen: Auf der einen Seite steht das historische Bewusstsein, dass die Herrschaftsverhältnisse eines monarchisch regierten Staates mit eingeschränkter politischer Partizipation der Bürger der Vergangenheit angehören. Wir leben in einem Verfassungsstaat, der sich als parlamentarische Demokratie mit allgemeinem Wahlrecht, Gewaltenteilung und Minderheitenschutz und unter den Bedingungen freier Öffentlichkeit organisiert. Auf der anderen Seite steht der Einwand, dass sich die Verhältnisse in der Welt seit Kants Zeiten nicht verbessert hätten, ohne sich zugleich verschlimmert zu haben: Das Netz der anti-aufklärerischen Kräfte hat sich in Zeiten der hochtechnologisch instrumentierten Globalisierung verdichtet, die Formen der Herrschaft sind teils drastischer, teils unsichtbar geworden. Doch als Epochendiagnose tragen solche Einsichten auch dann nicht, wenn die Analyse richtig sein sollte. Denn wo eine solche Einschätzung möglich wird, hat immer schon kritische Erkenntnis stattgefunden – und wo diese möglich ist, da ist es auch möglich, die Kritik methodisch und zielstrebig weiterzuführen. Wir haben es dabei allerdings in einem Punkt mit erschwerten Bedingungen zu tun: Es gibt in der heutigen Welt Kräfte der Bevormundung, der Unmündigkeit, der Manipulation, von denen der Zeitgenosse des 18. Jahrhunderts sich noch nichts träumen ließ. Und diese Kräfte wirken mit einem beständigen Angebot auf uns ein, in dem sich Wissen (unter dem bezeichnenden Titel der „Information“), Unterhaltung und die Suggestion basisdemokratischer Meinungsbildung in einer schwer durchdringlichen Melange durchmischen, sodass wir gut daran tun, das Programm der Kritik der Vernunft zu verstärken und zum einen den Aspekt der Selbstkritik, der in Kants Ansatz der Vernunftkritik so stark gemacht ist, noch um einiges zu intensivieren; es zum anderen zu erweitern mindestens um die Kritik der Rhetorik öffentlichen Sprechens und die Kritik der manipulativen Bilderflut.

      Die Anlässe für kritisches Denken in aufklärerischer Absicht sind somit nicht weniger geworden. Wir müssen offenbar mehr denn je bereit sein, im Prinzip alle Instanzen in der Welt (so wie Kant die Religion und die Gesetzgebung) der kritischen Prüfung der von ihnen erhobenen Geltungsansprüche zu unterziehen. Das ist in jedem Fall ein anstrengendes Unternehmen, das neben sensibilisierter Aufmerksamkeit, klaren Erkenntnissen und Entschiedenheit auch Ausdauer, Disziplin und Frustrationsresistenz verlangt. Faulheit und Feigheit2 sind da auch weiterhin die Versuchungen, die einen dazu bewegen können, es sich in der Anpassung bequem zu machen. Wer wollte behaupten, dass Kants Rede vom „Mut“, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, hier veraltet wäre?

      Literatur

      Adorno, Theodor W. (1951). Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

      Adorno, Theodor W. (1966). Negative Dialektik. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

      Adorno, Theodor W. (1970). Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

      Duhm, Dieter (1973). Warenstruktur und zerstörte Zwischenmenschlichkeit. Köln: Rosa-Luxemburg-Verlag.

      Habermas, Jürgen (1962). Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied am Rhein: Luchterhand.

      Habermas, Jürgen (1968). Erkenntnis und Interesse. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

      Habermas, Jürgen (1981). Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

      Habermas, Jürgen (1991). Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

      Horkheimer, Max (1967). Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Frankfurt am Main: S. Fischer.

      Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W. (1947). Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente.