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Kritisches Denken


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gerade in der Frage der Blick auf andere Formen des Arrangierens, Kombinierens, Komponierens geöffnet wird. Um diesen produktiven Prozess in Gang zu setzten, so unsere Annahme, muss jedoch die Frage der Kritik zugleich eine Kritik der Frage sein: ihrer Blickrichtung und ihrer institutionellen, disziplinären Rahmungen, also dessen, was ohne ein anderes Fragen nicht wahrnehmbar, sichtbar und sagbar bliebe.

      Mit dieser Adressierung der geisteswissenschaftlichen Fragepraxis in der Form einer Frage an die Geisteswissenschaften versteht dieser Beitrag sich allerdings keineswegs außerhalb, in einem Außen des Fragens. Mit der Frage nach der Involviertheit des Fragenden, der „kritischen Haltung“ (Foucault) ist sein In-Mitte-Sein in disziplinäre, institutionelle und gesellschaftliche Rahmungen immer mit angesprochen. In den ersten beiden Beiträgen wird es daher auch um die grundlegenden Bestimmungsmöglichkeiten dieser Haltung gehen: dem Raum und der Zeit des Fragens, um anschließend in drei exemplarischen Lektüren das Verhältnis von sichtbaren und abgeblendeten Objekten geisteswissenschaftlichen Fragens zu untersuchen. Kevin Drews nimmt ein Kunstwerk, das als Rauminstallation im Foyer der Universitätsbibliothek Erfurt zu sehen ist, zum Anlass, um daran kritische Anmerkungen zur Zirkelstruktur eines Fragens nach dem Fragen zu knüpfen und den Ort des Fragenden zu bestimmen. Sandra Ludwig wird in ihrem Beitrag dem prekären Status des richtigen Augenblicks des Fragens nachspüren, indem sie vor dem Hintergrund des Zusammenhangs von Krise und Kairos die Zeitlichkeit des Fragens in den Blick nimmt. Anschließend folgen drei exemplarische Lektüren disziplinärer Frageszenen, in denen kritisch beobachtet wird, wie Fragerichtungen und Blickbahnen nicht nur bestimmte Objekte fokussieren, sondern zugleich andere Formen des Fragens ausschließen. Andrea Renker geht in ihrem Beitrag von der grundsätzlich polyvalenten Potenzialität geisteswissenschaftlicher Frageobjekte (Kunstwerke) aus und schlägt in Anknüpfung an Roman Jakobsons Überlegungen zur poetischen Sprachfunktion eine Übertragung der literaturwissenschaftlichen Theorie auf die kritische Betrachtung und Befragung nicht genuin künstlerischer Objekte vor. Friederike Schütt beleuchtet in ihrem Beitrag aus kunsthistorischer Perspektive, wie sich eine wissenschaftsgeschichtlich orientierte Befragung kanonisierter Objekte und Methoden als Form kritischen Denkens manifestieren und Impulse für das Auffinden bisher nicht gestellter Fragen in der geisteswissenschaftlichen Praxis liefern kann. Ann-Kathrin Hubrich nimmt Aby Warburgs Denken der Pathosformel zum Anlass, um das Verhältnis zwischen traditionellen Bildsemantiken und dem uneindeutigen ikonographischen Status gegenwärtiger Bildproduktionen zur Fluchtdebatte in der Presselandschaft auszuloten. Dabei wird die generelle Frage nach dem Ort der Bildwissenschaft in und für die Geisteswissenschaften kritisch in den Blick genommen.

      Der Beitrag in diesem Sammelband entstand in Anknüpfung an ein gemeinsames Tagungsprojekt24 und präsentiert sich als experimentelle, bewusst offen gelassene Annäherung an die Theorie und Praxis des geisteswissenschaftlichen Fragens in fünf kurzen Essays. Deren Anordnung leitet in der inhaltlichen Dramaturgie von grundsätzlichen Erwägungen des Fragepotenzials in den Geisteswissenschaften sukzessive in exemplarische Lektüren über. Dabei geht es nicht darum, eine über die einzelnen Beiträge hinausweisende kohärente inhaltliche oder methodische Linie zu verfolgen, die die einzelnen Beiträge zu einer verbindlichen Einheit zusammenfügt. Die gemeinsame Absicht der Essays liegt vielmehr darin, aus ihren verschiedenen Perspektiven Prismen anzubieten, die immer erneut dem Verhältnis von Frage und Kritik im geisteswissenschaftlichen Arbeiten auf die Spur zu kommen suchen. Wenn sich aus der Konstellation der hier vereinigten Perspektiven eine höhere Aufmerksamkeit dafür einstellt, dass geisteswissenschaftliche Arbeit an den Möglichkeiten der Kritik nicht ohne grundsätzliche (methodische) Reflexion über den Status des Fragens zu haben ist, dann hat der Beitrag seinen Sinn bereits erfüllt. Um jedoch zu markieren, wo unter den verschiedenen Beiträgen Zusammenhänge hergestellt werden können, wurden an verschiedenen Stellen der einzelnen Texte Querverweise eingefügt, sodass neben einer linearen Lektüre auch die Möglichkeit gegeben ist, hinsichtlich spezieller Schwerpunkte zwischen den Beiträgen zu springen, diese miteinander zu vergleichen, zu konfrontieren und zu diskutieren.

      Der Zirkel des Fragens (Kevin Drews)

      I.

      „Was denn? fragte ich neugierig. – ‚Wer denn? sollst du fragen.‘ Also sprach Dionysos und schwieg darauf, in der Art, welche ihm zu eigen ist, nämlich versucherisch.“1 – Das Versucherische, das Friedrich Nietzsche in diesem Fragment aus dem Jahre 1885 dem Schweigen des Dionysos anschreibt, resultiert aus einer folgenreichen Verschiebung des Fragemodus. Die Substanz-Frage Was ist …? wird ersetzt durch die Perspektiv-Frage Wer …?, die sich auf denjenigen ausrichtet, der spricht und die Frage stellt (→ Einleitung). Provokativ ist das Versucherische zudem, weil es in der Schwebe lässt, ob es sich in der Verschiebung um eine gefährliche Versuchung als Verführung oder um einen aussichtsreichen Versuch als Experiment eines anderen Fragens handelt. Zwischen Schweigen und Sprechen, Passivität und Aktivität, Reaktion und Aktion wirft die Verschiebung den Fragenden in die Frage zurück, betrifft ihn unmittelbar und macht so die Reflexion des Ortes und der Perspektive des Fragenden zum dringlichen Problem. Der französische Philosoph Gilles Deleuze hat in seinem Buch über Nietzsche darauf aufmerksam gemacht, dass sich diese Verschiebung bei Nietzsche auf das „Perspektivische[…]“2 des Fragens aus der Einsicht ergibt, dass die Substanz-Frage „eine spezifische Art des Denkens voraussetzt3, die weder die mannigfaltigen Elemente zu berücksichtigen vermag, die als Erscheinungen nicht unter einem Allgemeinbegriff subsumierbar sind, noch die konstitutive Frage, „von welchem Blickwinkel aus“4 gedacht, gefragt, gesprochen wird, einbezieht. Die Urszene dieses Bild des Denkens als Befragung (Gilles Deleuze unterscheidet in seinen Arbeiten immer wieder kritisch zwischen interrogation und question5), das der Substanz bzw. dem Wesen nachspürt, findet sich bei Platon. Im Menon befragt Sokrates einen jungen Sklaven nach seinem Verständnis der Geometrie. Was als Zwiegespräch zwischen Menon und Sokrates beginnt, wird sehr schnell zu einer fragenden Prüfungssituation, deren hierarchisches Verhältnis trotz der von Sokrates immer wieder betonten eigenen Unwissenheit offensichtlich wird. Dasjenige, was Aron Ronald Bodenheimer in seinem Buch über die Frage Warum? als die Obszönität des Fragens bezeichnet,6 als den entlarvenden Gestus im Nur-Fragen-Stellen, wird in der Abfrage des Sokrates dann ganz deutlich, wenn er selbst zugeben muss, dass er den Knaben in „Verlegenheit […] und zum Erstarren, wie der Krampfrochen“7 gebracht hat. Entscheidender an dieser Urszene für den Zusammenhang von Fragen und dem vorausgesetzten Bild des Denkens ist vielleicht aber noch die Tatsache, dass die Antwort, die Lösung des Rätsels immer schon gegeben ist. Die Frage zielt hier nicht ins Offene dessen, was fraglich ist, sondern findet in der Anamnesis, in der wiedererinnerten Antwort als immer schon gegebenes Wissen ihren vorausgesetzten Schlusspunkt. Wenn in den platonischen Dialogen Was-ist-Fragen gestellt werden und die Gesprächspartner nicht mit einer allgemeinen Definition aufwarten, sondern nur unterschiedliche Beispiele für das in der Frage Gesuchte geben (bspw. Was ist das Schöne?), dann liegt das nicht zwangsläufig nur daran, dass die Antworten unzureichend sind: „Wenn man gefragt wird ‚Was ist das Schöne?‘, ist es zweifellos einfältig, zu zitieren, was schön ist, aber es steht keineswegs zweifelsfrei fest, ob die Frage ‚Was ist das Schöne?‘ nicht vielleicht selbst auch einfältig ist. Keineswegs ist sicher, daß sie legitimierweise und gut gestellt ist […].“8 In Nietzsches metaphysikkritischer Arbeit Menschliches, Allzumenschliches, mit der er selbst eine Krise im Denken (und in der Darstellungsform) überwindet,9 spricht er bereits einige Jahre vor dem oben zitierten Fragment die Konsequenz aus, die sich für ihn aus der Verschiebung im Fragen ergibt:

      Mit einem bösen Lachen dreht er [der befreite, losgelöste Geist, K. D.] um, was er verhüllt, durch irgend eine Scham geschont findet: er versucht, wie diese Dinge aussehen, wenn man sie umkehrt. Es ist Willkür und Lust an der Willkür darin, wenn er vielleicht nun seine Gunst dem zuwendet, was bisher in schlechtem Rufe stand, – wenn er neugierig und versucherisch um das Verbotenste schleicht. Im Hintergrund seines Treibens und Schweifens – denn er ist unruhig und ziellos unterwegs wie in einer Wüste – steht das Fragezeichen einer immer gefährlicheren Neugierde. ‚Kann man nicht alle Werthe umdrehn?‘10

      Das Kraftzentrum der Wer-Frage liegt im konstitutiven Perspektivismus, durch den der Fragende selbst der Versuchsanordnung im Denken ausgesetzt wird: „Die Frage ‚Wer?‘ bedeutet nach Nietzsche: etwas sei gegeben,