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Kritisches Denken


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Selbstkritik der Vernunft begreift, untersucht er, was die Vernunft aufgrund welcher Vermögen leisten kann, und was ihre Vermögen übersteigt. Was ist Kritik der Vernunft? Der Programmtitel des Aufklärers ist absichtsvoll doppeldeutig, gemeint ist nämlich erstens Kritik an der Vernunft (genitivus obiectivus), zweitens Kritik durch die/mit den Mitteln der Vernunft (genitivus subiectivus). Es geht also um Kritik der Vernunft durch sich selbst: die selbstreflexive Analyse der Fähigkeiten und Grenzen der Vernunft. Dieses Programm ist in epochemachender Weise zu Buche geschlagen: Kritik der reinen Vernunft 1781 (Erkenntnistheorie); Kritik der praktischen Vernunft 1788 (Ethik); Kritik der Urteilskraft 1790 (Ästhetik/Theorie der zweckmäßigen Natur).

      Kant bezieht sich dabei auf den Begriff einer Vernunft als Fähigkeit zu gegenständlicher Erkenntnis, zum Urteilen, zur Hervorbringung von Grundsätzen und Ideen, und zu rein begrifflicher Spekulation. Thematisch sind das lauter grundlegende kognitive oder intellektuelle Grundfähigkeiten, die er im Sprachduktus seiner Zeit als „Vermögen“ bezeichnet. Damit ist das bezeichnet, was ich vermag – also eine Fähigkeit/Kapazität für bestimmte Leistungen. Die Vernunft ist das Vermögen, das wir in allen möglichen Leistungen einsetzen, dabei immer auch als Instanz der Kritik aus konsequentem Selbstbegriff.

      „Die Vernunft in einem Geschöpfe ist ein Vermögen, die Regeln und Absichten des Gebrauchs aller seiner Kräfte weit über den Naturinstinct zu erweitern, und kennt keine Grenzen ihrer Entwürfe“, heißt es in einer der kleinen geschichtsphilosophischen Schriften der 80er Jahre,1 und in einer anderen: das „Vermögen […], das sich über die Schranken, worin alle Thiere gehalten werden, erweitern kann“.2 So fasst Kant in dieser Zeit das menschliche Selbstverständnis zusammen, das sich in den Leistungen der Vernunft äußert und auf das er sich auch in seiner Auffassung von Aufklärung beruft.

      Es geht ihm in seiner kritischen Philosophie darum, die Leistungen und die Grenzen der menschlichen Vernunft zu ermessen. Bereits 1781 in der Kritik der reinen Vernunft legt Kant die systematische Spannweite seines Unternehmens einer Vernunftkritik in der Formulierung von drei Fragen auseinander: „Was kann ich wissen? – Was soll ich tun? – Was darf ich hoffen?“ In der Logik-Vorlesung (1800) greift er diese Fragen wieder auf und fasst sie zusammen in der Frage „Was ist der Mensch?“ Die Systematik dieser 3 Fragen führt zunächst direkt zu einer Aufteilung der vernunftkritischen Problemstellung in theoretische Philosophie (Erkenntnistheorie und Ontologie), praktische Philosophie (Moralphilosophie und politische Philosophie), Theologie und Religionsphilosophie. Wir können im Nachvollzug von Kants kritischer Philosophie auch sehen, wie sich diese drei Fragen in der Sache bereits den drei großen Werken, den drei Kritiken zuordnen lassen: Die erste Frage Was kann ich wissen? der Kritik der reinen Vernunft, die zweite Was soll ich tun? der Kritik der praktischen Vernunft und die dritte Frage Was darf ich hoffen? der Kritik der Urteilskraft, in welcher auf dem Weg über die Analyse der ästhetischen Gefühle angesichts des Schönen und Erhabenen der Natur der spekulative Begriff einer zweckmäßigen Natur und des in ihr wirkenden Willens entwickelt wird. Der Mensch als erkennendes, handelndes und fühlend reflektierendes Wesen und die Geltungsansprüche seiner theoretischen, praktischen und ästhetischen Urteile sind dabei thematisch.3 Das alles übergreifende Thema ist das Selbstverständnis des Menschen als des vernünftigen Wesens, dessen intellektuelle Leistungen in den drei Teilen der Vernunftkritik untersucht werden.

      Zunächst einmal muss die Erkenntnis auf sichere Fundamente gestellt werden, und nicht allein die empirische Erkenntnis, wie sie in der hoch organisierten Form der Wissenschaften kulminiert, sondern auch die metaphysische Erkenntnis der Philosophie. Der Gedanke, mit dem Kant Epoche macht, als er die Fundamente der Erkenntnis zu sichern sucht, ist die Einsicht, dass diese sicheren Fundamente in den erkennenden Subjekten, genauer: in den Strukturen ihrer Intelligenz – und nicht in den Dingen und den Verhältnissen der äußeren Welt liegen.

      Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntniß müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntniß erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zu nichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntniß richten […]. Es ist hiemit eben so, als mit den ersten Gedanken des Copernicus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ.4

      Die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten, das soll heißen: Wir können alles nur so erkennen, wie es unsere Erkenntnisbedingungen zulassen, wir können die Dinge immer nur so erkennen, wie sie uns durch die formalen Vorgaben unseres Erkenntnisvermögens, durch die ‚Anschauungen‘ unserer Sinne5 und durch die Begriffe unseres Verstandes erscheinen. Wir können uns diesen grundstürzenden Gedanken, mit dem sich die Analyserichtung von den Objekten zum Subjekt der Erkenntnis wendet, mit der anschaulichen Analogie verständlicher machen, die ein Zeitgenosse und früher Leser Kants, der Dichter Heinrich von Kleist in einem Brief an seine Verlobte für diesen Grundgedanken der Kritik der reinen Vernunft findet: „Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urtheilen müssen, die Gegenstände welche sie dadurch erblicken, sind grün und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzuthut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande.“6 Eines ist ganz klar: Diese Einsicht, dass wir im Erkennen zu den Dingen strukturell etwas vom Erkenntnisobjekt Unablösbares „hinzutun“, was dem Funktionieren unserer Erkenntnisbedingungen geschuldet ist, kann nur dazu führen, umso entschiedener zu analysieren, wie denn diese Erkenntnisbedingungen funktionieren – also lautet Kants Programm: Kritik der Vernunft in der Analyse ihrer Leistungen. Der damit vorgestellte Gedanke der Erkenntniskritik ist tatsächlich einer der beiden berühmtesten Gedanken Kants: die kopernikanische Wende. Diese methodische Wende zu den Bedingungen, die das Subjekt der Erkenntnis mitbringt, ist seither bis in unsere Tage immer wieder einmal zum Modell erkenntnistheoretischer und auch wissenschaftstheoretischer Positionen geworden – und dabei häufig unter dem Titel des Konstruktivismus: Wir „konstruieren“ in einem übertragenen, nämlich: epistemischen Sinne, die Welt erst, insofern wir sie erkennen.

      Doch nicht nur der erkennende Verstand, von dem Kant dann sagen wird, man solle Mut haben, sich seiner zu bedienen, ist eine der Leistungen der Vernunft, auch der an Grundsätzen orientierbare Wille, der sich im Handeln artikuliert, ist eine Vernunftleistung. „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“7 So lautet der erste Satz der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, der Schrift, mit der Kant die Kritik der praktischen Vernunft vorbereitet. Es ist eigentlich ganz klar, dass es einen Bereich im Leben wie in der Philosophie gibt, in dem der kritische Anspruch allen problembewussten Denkens besonders prägnant wird, den Bereich, wo sich das Denken auf das menschliche Handeln in seiner Orientierungsbedürftigkeit, seiner Korrekturbedürftigkeit bezieht: die Moral – und damit philosophisch die Ethik. Kritik ist das genuine Element der Moral, und hier zeigt sich ganz besonders prägnant die für das vernunftkritische Programm unhintergehbare Dimension der Selbstkritik, denn in der moralischen Einstellung stellt sich ein Handelnder immer die Frage nach der Angemessenheit und Rechtfertigung des eigenen Handelns: Was soll ich tun? Und in der Auseinandersetzung mit diesem alles Handeln begleitenden normativen Anspruch, zugespitzt auf die Frage: Wann ist der Wille ein guter Wille? gelingt Kant der zweite seiner beiden berühmtesten Gedanken, der Kategorische Imperativ: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“8

      Auch wenn man nicht so viel Zeit hat, wie man brauchte, um diesen Gedanken in angemessener Gründlichkeit zu behandeln – so viel sieht man in diesem Gebot der Achtung vor der Würde der Person, in diesem Instrumentalisierungsverbot, auf einen Blick: Der Kategorische Imperativ ist Ausdruck einer Ethik der wechselseitigen Achtung vor der Freiheit des Anderen.

      Beide Aspekte, der Aspekt der