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Kritisches Denken


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ein bestimmtes „Bild des Denkens“ als „natürliche […] Ausübung eines Vermögens unter Voraussetzung eines naturwüchsigen Denkens, das zum Wahren fähig und geneigt ist, und zwar unter dem doppelten Aspekt eines guten Willens des Denkenden und einer rechten Natur des Denkens“7 zugrunde liegt.8 Dieses Bild des Denkens „in Form eines naturwüchsigen Denkvermögens, die es der Philosophie erlaubt, sich den Anschein des Anfangs, eines voraussetzungslosen Anfangs zu geben“9, ist bestimmt durch kontemplative Innwendigkeit, reflexive Selbstbestimmung und letztendlich eindeutige Signifikation.10 Die implizite Logik der Voraussetzung präjudiziert damit jedes Fragen durch eine erste Entscheidung für das normierte Bild des Denkens, sodass jede spätere Hinterfragung – etwa von begrifflichen Explikationen – stets der primären und konstitutiven Ordnung unterworfen bleibt; hergestellt in einer linearen, sukzessiven Formalisierung. Wenn dieses Bild des Denkens gerade jene freie Bewegung des Denkens einschränkt, die die Installation in der Universitätsbibliothek Erfurt versinnbildlichen möchte, dann muss die erste kritische Frage lauten: Wie könnte dem Fragen in seiner Offenheit stattgegeben werden, ohne jedoch zugleich die Möglichkeit der Erkenntnis, das Streben nach Einsicht preiszugeben? (→ F. Schütt, A. K. Hubrich). Denn man könnte der hier eingeleiteten kritischen Betrachtung der Zweck-Mittel-Relation des Frage-Antwort-Spiels doch vor allem entgegenhalten: Verliert nicht das Fragen gerade in dem Moment, wo es scheinbar von den befragten Phänomenen abstrahiert, um sich als Erkenntnismodus und erkenntniskritischer Zugang selbst zu reflektieren, an Gehalt? Wird das Fragen nach der Frage nicht zur eitlen Selbstbespiegelung, reine Selbstbezüglichkeit in einem vermeidbaren Zirkel, oder in Abwandlung einer berühmten Formel: la question pour la question?

      Deleuze versucht dem dogmatischen Bild des Denkens und dem gerade vorgebrachten Einwand zu entkommen, indem er das Denken (und das Fragen!) auf dasjenige bezieht, was es überhaupt erst anregt und von woanders herkommt. Demnach ist das Nicht-Philosophische dasjenige, was das Denken antreibt: „[S]ie [die Griechen, K. D.] wußten, daß das Denken nicht ausgehend von einem guten Willen zu denken anfängt, sondern auf Grund von Kräften, die auf es einwirken und zum Denken zwingen.“11 Das Zwingende kommt von woanders her und trifft das Denken dergestalt, dass das traditionelle Bild des Denkens zugunsten eines Bildes aufgegeben wird, das das Denken auf dieses Affiziert-Werden als Ausgangspunkt verpflichtet.

      Dasjenige, was das geisteswissenschaftliche Fragen vielleicht auch heute noch zum Denken und Fragen zwingt, kommt aber gerade nicht von woanders her, sondern ist von Anbeginn (und vielleicht sogar schon vorher) in ihre DNA eingeschrieben: Die Frage nach dem Sein der Geisteswissenschaften, ihrem Selbstverständnis, ihrer Legitimation. Das Fragen selbst steht am Anfang der Geisteswissenschaften, oder besser: leitet die Bedingungsmöglichkeit ihrer Konstituierung im 19. Jahrhundert ein. Denn bereits um 1800, darauf hat Michel Foucault uns hingewiesen, trägt sich mit der Frage „Was ist Aufklärung?“ nicht nur ein konkretes, epochenspezifisches Problem in die Geschichte des Denkens ein, sondern die Frage nach der Fragwürdigkeit, der Frageform im Augenblick des konkreten, kritischen In-Frage-Stellens selbst wird zum Gegenstand erhoben (→ vgl. Einleitung). Die historische Signatur des Fragens, die die eigene Aktualität, den Bezug zur Vergangenheit und zur Zukunft gleichermaßen betrifft, ist auch dann späterhin dem geisteswissenschaftlichen Arbeiten, Denken, Fragen als conditio sine qua non des eigenen Selbstverständnisses eingeschrieben. Im Zentrum steht also gar nicht so sehr die letztbegründende, ideengeschichtlich bestimmbare Antwort auf die Frage nach der Geisteswissenschaft (etwa als Kompensationstheorie, fröhliche Wissenschaft oder permanente Krise), sondern die Frage selbst als die Vollzugsform dieser immer erneuten Fraglichkeit ihres Selbstverständnisses mit offenem Ausgang. Die Frage nach der Frage als kritische geisteswissenschaftliche Praktik betrifft also zuallererst die Frage nach ihrem eigenen Anfang, den Ort folglich, an dem sie ein- und an-setzt. Damit ist mit der Reflexion über die Frage der Geisteswissenschaft immer auch die Frage nach der Geisteswissenschaft verbunden. In praktischer Hinsicht erzeugt gerade diese Doppelung eine produktive Spannung, wenn kritisches geisteswissenschaftliches Arbeiten die Gefahr vermeidet, nur die mannigfaltigen und häufig sich wiederholenden Positionen und Argumente zur Krise der Geisteswissenschaft zu reproduzieren und sich stattdessen bewusst bleibt, dass gerade mit der eigenen Frageperspektive nicht nur der je spezielle Einzelgegenstand fokussiert wird, sondern zugleich (manchmal direkt, häufiger indirekt) grundsätzlich geisteswissenschaftliches Arbeiten zum Gegenstand wird.

      Das heißt also die Installation von Dietrich Förster in der Universitätsbibliothek Erfurt ist nicht darum so interessant, weil sie etwa falsch herum gehängt wurde. Das würde ja bloß implizieren, dass bei einer umgedrehten Anordnung die Ordnung der Dinge wiederhergestellt würde. Es wäre nichts anderes als kritisches Fragen erneut in eine Zweck-Mittel-Relation einzuschreiben. Vielmehr ergibt sich gerade an der gegenläufigen Bewegung zwischen Raum und Kunstwerk, in der Ununterscheidbarkeit von Anfang und Ende ein Reflexionsmedium für kritisches Fragen. Wenn geisteswissenschaftliches Fragen immer schon konstitutiv von der Frage nach der Geisteswissenschaft angeregt wurde, gibt es eben keinen Anfang und auch kein Ende, sondern nur ein Immer-Schon-Inmitten-Sein als einziger Ausgangspunkt und Möglichkeitsbedingung unvorhergesehener, anderer Bewegungen im Modus des Fragens selbst. Die Reflexion über den eigenen Ort in diesem Gefüge ist dann der Anfang einer kritischen Arbeit, die nicht einen absoluten Anfang zeitigt, sondern einen Anfang, der immer schon inmitten von problematischen Bezügen verortet ist und die Frage erst zu stellen hat, die diesem Problem gerecht wird. Michel Foucault hat exemplarisch diese Frage des eigenen Ortes in jenem Augenblick gestellt, der für ihn selbst ein Anfang war: der Antrittsvorlesung als institutionellem Initiationsritual. In seiner Antrittsvorlesung Die Ordnung des Diskurses am Collège de France reflektiert Michel Foucault das Problem des „Anfangens“12. Er fragt sich dort, was es überhaupt bedeutet, der „Urheber des Diskurses zu sein“13, als Erster zu sprechen. Die Voraussetzung der Urheberschaft ist für ihn das souveräne Subjekt, das über seinen Gegenstand erhaben verfügt und auf dieser Grundlage einen sinnhaften Monolog als stringente Erzählung von einem Punkt x=a zu einem Zielpunkt x=b zu halten vermag. Die Abkehr von diesem souveränen Standpunkt ist hier nicht Inszenierung oder spielerische Koketterie mit den Aporien des modernen Autorsubjekts, um hinterrücks und heimlich entschiedener denn je wieder zu diesem Standpunkt zurückzukehren, sondern die radikale Konsequenz aus dem eigenen Denken. Die Reflexion über den eigenen Ort des Sprechens ist die Bedingungsmöglichkeit für die Erkenntnis der eigenen Involviertheit als „Beziehungsmodus im Hinblick auf die Aktualität“14 dessen, was in der eigenen Praxis als Frage und Problem latent ist. Nietzsches Verschiebung auf die Wer-Frage bedeutet hier dann jedoch nicht Parteilichkeit, dogmatische Stellungnahme oder politische Positionierung, sondern die kritische Reflexion, über den eigenen Ort inmitten disziplinärer Anordnungen, institutioneller Rahmenbedingungen und dem nicht-universitären Außen, die sich im Fragen als Suchbewegung bahnen kann. Diese möglichen Bahnungen anderer Fragerichtungen versuchsweise auf ihre Möglichkeiten hin auszuprobieren, kann neue kritische Fragen hervorrufen, eingedenk jedoch des Versucherischen, das dabei immer auch eine gefährliche Verführung bleibt.

      Fragenstellen als zeitkritisches geisteswissenschaftliches Verfahren (Sandra Ludwig)

      Hinterfragt man das Prinzip des Fragenstellens als Kerntätigkeit geisteswissenschaftlichen Denkens und Arbeitens, so wird deutlich, dass es nicht nur darauf ankommt, welche Fragen gestellt werden, von welcher (Dis-)Position aus und mit welcher Intention Fragen gestellt werden (→ K. Drews), sondern auch, wann diese Fragen gestellt werden. Dieser bedeutsame Zusammenhang zwischen Frageform und Fragezeitpunkt lässt sich sinnbildlich bereits an der Denkfigur vom rechten Augenblick und ihrer etymologischen Artverwandtschaft mit den Begriffen des Kritischen und der Krise ablesen. Dies soll im Folgenden in gebotener Kürze erläutert werden.

      In der griechischen Mythologie taucht die Vorstellung vom rechten Zeitpunkt bzw. vom entscheidenden Augenblick personifiziert in Gestalt der Gottheit Kairos auf. Verschiedene antike Darstellungen zeigen diesen Gott der günstigen Gelegenheit, die gleichsam von äußerst flüchtiger Natur ist, als jungen mit Flügeln versehenen Mann, der jederzeit vorbeieilen kann (s. Abb. 1).

      Abb. 1: Kairos; römische Reliefdarstellung, 1. Jh. n. Chr., pentelischer Marmor, © MiC-Musei Reali,