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Kritisches Denken


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so rückt im wissenschaftlichen Arbeiten stets der Anspruch in den Fokus, möglichst offen gebliebene Fragestellungen zu bearbeiten, Fragelücken zu erkennen und zu schließen. Doch wie findet man eigentlich Fragen, die überhaupt noch nicht gestellt wurden, oder Objekte, die noch nicht untersucht wurden, wenn der Blick der Studierenden in akademischen Lehrveranstaltungen wie auch außerwissenschaftlichen Ereignissen, etwa Lesungen, Ausstellungen oder Theateraufführungen, zunächst vorwiegend auf die Auseinandersetzung mit kanonisierten Objekten und deren Interpretationen gelenkt wird? Im Folgenden soll beleuchtet werden, wie die Befragung von Kanonbildungsprozessen als produktive Form kritischen Denkens in der geisteswissenschaftlichen Praxis zum Auffinden bisher nicht gestellter Fragen verhelfen und durch eine wissenschaftsgeschichtliche Reflexion der jeweiligen Disziplin befruchtet werden kann.

      Welche Werke, Autoren und Künstler sowie Fragestellungen und Narrative den Kanon einer Geisteswissenschaft prägen, zeigt sich immer wieder im Rahmen groß angelegter Jubiläumsfeierlichkeiten. Die kulturellen Ereignisse bieten zum einen öffentlichkeitswirksames und finanzielles Potenzial für die Forschung, fördern innovative Projekte und bringen neue Forschungsergebnisse hervor. Ob durch museale Sammlungs- und Ausstellungspräsentationen oder etwa literaturvermittelnde Institutionen wie Buchhandel, Bibliotheken oder Literaturkritik, gerade die Schnittstelle zur Öffentlichkeit wird zum anderen aber ebenso häufig zum Anlass für die Wiederholung und Bestätigung bekannter, vermeintlich final erforschter Inhalte.1 Prozesse der Kanonbildung werden fortgeführt, stabilisiert, aber auch problematisiert, wie nachfolgend am Beispiel der jubiläumsbedingten Rezeptionsweise zweier Künstler des frühen 16. Jahrhunderts exemplarisch aufgezeigt werden soll.

      Als 2016 das 500. Todesjahr des niederländischen Künstlers Hieronymus Bosch begangen wird, dringen die fantastischen Fabelwesen aus seinen Werken auf Plakate und Banner, als Muster auf Duschvorhänge und Designerkleidung oder als Holzfiguren in die Wohnzimmer einer kunstinteressierten Öffentlichkeit. Befreit aus dem historisch-religiösen Kontext der Werke, werden Boschs Darstellungsformen zu einem öffentlichkeitswirksamen Marketinginstrument des Jubiläums. Dass sich mit der selektiven Präsentation des ‚Grotesken‘ eine Rezeptions- und Deutungstradition fortsetzt, die Bosch bereits im 16. Jahrhundert als „bemerkenswerte[n] Erfinder von phantastischen und bizarren Dingen“2 stilisierte, demonstriert, wie wenig sich davon abweichende, in der Fachwelt jedoch anerkannte, kunsthistorische Rezeptionsansätze öffentlich durchsetzen bzw. ‚verkaufen‘ lassen. Plakativ zeigt im Sommer 2016 zudem ein Titel der BILD-Zeitung an, welche Fragen an Bosch Karriere gemacht haben und genutzt werden, um das Interesse der Öffentlichkeit zu wecken. Mit der Frage „War Hieronymus Bosch auf Drogen?“ reproduziert das Medium einen der umstrittensten Deutungsansätze zu Bosch und seinen Werken.3 Zusätzlich greift selbst die Hauptausstellung in ’s-Hertogenbosch mit dem Titel Visionen eines Genies eine längst widerlegte, aber verkaufsfördernde Rezeption von Bosch als einem isoliert arbeitenden Künstlergenie auf.4

      Das absatzfähige Herauslösen von Motiven und Bildern aus der Zeit um 1500 und das dominante Weitertragen der immer gleichen Narrative zu einem Künstler ist bei Jubiläumsfeierlichkeiten ein Phänomen, das bereits 1971 – und damit zu einer Zeit, als Kanonkritik auch in geisteswissenschaftlichen Fachdiskursen vermehrt formuliert wird –,5 der Grafikdesigner Klaus Staeck anprangert. Aus Anlass des damals in Nürnberg gefeierten 500. Geburtsjahrs von Albrecht Dürer sorgt Staeck mit einem Plakat für Aufsehen, auf dem er die Zeichnung von Dürers Mutter mit der Aufschrift „Würden Sie dieser Frau ein Zimmer vermieten?“ versieht.6 Mit der provokanten Frage macht er Dürers Dargestellte zu einer anonymen Alten und löst sie aus dem Kult um den Künstler. Staeck transferiert die intime Zeichnung in das öffentliche Medium des 330 Mal in Nürnberg angebrachten Plakats. Zusätzlich verknüpft er das von Alter und Krankheit gekennzeichnete Antlitz der Frau mit einer sozialkritischen Haltung gegenüber wuchernden Mietpreisen und nutzt die Neusemantisierung des Motivs als kritischen Kommentar auf die bis dahin dominante Dürer-Rezeption, die unreflektierte Verkitschung seiner Kunst in Souvenirobjekten, aber auch die vorrangig auf biographische Zusammenhänge und Fragen nach der ästhetischen Qualität fokussierte kunsthistorische Rezeption Dürers.7 Staeck liefert damit auf zweierlei Ebenen ein Statement zum Kanon der Kunstgeschichte. Er kommentiert sowohl den materialen Kanon, der Dürer und dessen Œuvre als Objekt in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit hebt, als auch den dazugehörigen Methoden-, Deutungs- und Kriterienkanon, mit dem seitens der Öffentlichkeit und Forschung an Dürer und dessen Schaffen herangegangen wird.8 Staecks Kritik richtet sich als Handlungsaufforderung an die geisteswissenschaftliche Praxis. Sie zieht Fragen nach sich, die auf das Überdenken hergebrachter Rezeptionsmuster und die hinter der Wahrnehmung und Wertung liegenden geisteswissenschaftlichen Verfahren zielen und das wissenschaftshistoriographische Schicksal von Objekten und ihren Produzenten befragen. Welche Bedingungen führen zur Durchsetzungsfähigkeit und Dominanz bestimmter Objekte und ihrer Deutungsansätze? Warum wird ein Objekt zu welchem Zeitpunkt (→ S. Ludwig) wie rezipiert? Welche Fragen werden dabei (nicht) gestellt? Fragen wie diese korrespondieren mit einer wissenschaftsgeschichtlich argumentierenden geisteswissenschaftlichen Arbeitsweise. Werden sie zum integralen Bestandteil der Beforschung von Objekten, können sie die Diskurse und Wertesysteme, die sich in der Deutung der jeweiligen Objekte und ihrer Platzierung im Kanon manifestieren, sichtbar machen und damit einen produktiven Ansatzpunkt für das kritische Hinterfragen geisteswissenschaftlicher Verfahren liefern.9 Die Befragung der Rezeptions- und Deutungsgeschichte geisteswissenschaftlicher Objekte und Methoden vermag die Muster, Bedingungen und Genesen der facheigenen Frageformen und Kanonisierungsprozesse offenzulegen und sich einer Antwort auf die Frage anzunähern, warum in welcher Wissenschaft wann was wie und von wem gefragt oder nicht gefragt wird.

      Im Fach Kunstgeschichte mündet das Nachdenken über Prozesse der Kanonbildung 2009 in den sich diesem Thema widmenden 30. Kunsthistorikertag in Marburg und das dazugehörige Diskussionsforum zur „Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte“.10 Unter wissenschaftsgeschichtlichen Fragen an das eigene Fach werden dort neben der soziologisch ausgerichteten Beforschung der intellektuellen Biographien, der Netzwerke und sprachlich-rhetorischen Performanz von Kunsthistorikern das Hinterfragen von Institutionalisierungsverläufen bestimmter Diskurse und Methoden oder die Reflexion der gesellschaftspolitischen Bedingungen von Trends und turns subsumiert – Fragen also, die sich auch an die Genese und Argumentationsmuster anderer Geisteswissenschaften stellen lassen, dort gestellt wurden und werden.11 Ziel für die Praxis solle sein, die an die Wissenschaftsgeschichte der Disziplin gerichteten Fragen mit objektbezogenen Analysen zu verknüpfen und die fachgeschichtliche Reflexion zum Korrektiv der Interpretationen werden zu lassen. In der Auseinandersetzung mit Hieronymus Bosch ließe sich dann zum Beispiel ziemlich genau herausarbeiten, unter welchen Umständen etwa die Deutung von Bosch als einem Häretiker zustande kommt, Anklang findet und welche Aspekte aus seinen Werken dafür herangezogen werden.12 Zu analysieren, welche Objekte zu welchen Zwecken mit welchen Fragen beforscht und bewertet werden, kann nicht nur die fachlichen Diskursverläufe evident machen, sondern darüber hinaus verstärkt für die Instrumentalisierung von Objekten in institutionellen oder politischen Gefügen sensibilisieren (→ A.-K. Hubrich). Bettet man die an die (kanonbildenden) Rezeptionsmuster gerichteten Fragen in einen breiteren Rahmen der Wissenschaftsgeschichte ein, so kann über die facheigene Innenperspektive hinaus zudem eine interdisziplinäre Vernetzung von Frageformen gelingen, die wiederum das fächerübergreifende Auffinden weiterer nicht gestellter Fragen in den Geisteswissenschaften ermöglicht und die wissenschaftsgeschichtliche Herangehensweise als transdisziplinäre Fähigkeit schult. So ist es schließlich noch immer Bourdieus Forderung nach der Historisierung des eigenen Tuns, die in diesen Zusammenhängen Gültigkeit beansprucht und eine Orientierung für das kritische Befragen geisteswissenschaftlicher Objekte und Methoden bieten kann: „Nur indem es die historischen Bedingungen seines eigenen Schaffens analysiert […], vermag das wissenschaftliche Subjekt seine Strukturen und Neigungen ebenso theoretisch zu meistern wie die Determinanten, deren Produkt diese sind, und sich zugleich das konkrete Mittel an die Hand zu geben, seine Fähigkeiten der Objektivierung noch zu steigern.“13

      Bilder-kritisch Denken (Ann-Kathrin Hubrich)

      Wir schlagen die Zeitung auf, betreten auf dem Weg zur Arbeit die Straße oder öffnen eine der zahlreichen Apps auf unserem Smartphone und schon werden wir mit Bildern konfrontiert. Bilder, die gerade erst entstanden sind, Bilder, deren